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„Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als Zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“

       (Mk 12,28–31)

      Seit über 20 Jahren leite ich Meditationskurse. An deren Ende beschäftigt die Teilnehmer oft die Frage: „Wie kann ich es schaffen, auch im Alltag regelmäßig zu meditieren?“ Dies ist ohne Zweifel eine wichtige Frage, auf die ich im letzten Kapitel eingehe, denn die Meditation ist eine Kraftquelle, die dem Alltag eine größere Lebendigkeit und Tiefe verleiht. Ein spirituell ausgerichtetes Leben ist jedoch nicht ausschließlich daran zu messen, ob man es schafft, regelmäßig zu meditieren oder nicht. Entscheidend ist nämlich nicht nur die Zeit der Meditation, so kostbar und wichtig sie auch ist. Ebenso wichtig ist das „Spiel auf dem Feld“, d. h., wie wir ganz konkret tagein, tagaus Beziehung leben. Es ist deshalb wichtig, Beziehung und Meditation nicht als zwei voneinander getrennte Lebensbereiche anzusehen, sondern sie in den gleichen Haltungen zu leben. Ist dies nicht der Fall, ergeht es einem so wie jemandem, dessen Kaffee bitter schmeckt, obwohl er Zucker hineingegeben hat. Zuerst kann er es gar nicht verstehen. Erst mit dem letzten, viel zu süßen Schluck wird ihm klar, dass er vergessen hat, umzurühren.

      Dieses Buch, das aus der Praxis entstanden ist, zeigt auf, wie man ganz konkret „umrührt“, damit der „Zucker“ der Gegenwart Gottes in der Meditation und auch in der Beziehung zu uns selbst und zu anderen erfahrbar wird.

      Nichts erfüllt und „versüßt“ unser Leben mehr als die Erfahrung der Liebe. Auch das wichtigste Gebot verweist uns auf die Liebe – auf die Liebe in der Beziehung zu Gott, zu den Mitmenschen und auf die Liebe zu sich selbst. Denn die Liebe ist erfahrbar, wenn der Mensch in Beziehung ist. Für Johannes vom Kreuz heißt „lieben“: in Beziehung treten, auf Zuwendung antworten, sich einlassen auf das jeweilige Gegenüber. Für ihn geht es auf dem Weg zu Gott darum, „himmelsfähig“ zu werden, sich in das Reich Gottes – und das heißt auch, sich in das Reich der Beziehungen – einzuleben. Alle geistlichen Übungen haben den Zweck, so beziehungsfähig zu werden wie Gott.1 Die geistlichen Übungen und die Beziehungen sind deshalb nicht voneinander zu trennen. Was man in der Meditation einübt, muss einerseits Auswirkungen auf die Beziehungen haben. Und genauso wirkt andererseits die Art und Weise, wie man Beziehungen lebt, in das Meditationsgeschehen hinein. Dieses Buch verknüpft die Meditationspraxis mit dem Beziehungsgeschehen und zeigt ihre jeweilige Wechselwirkung auf. Die Meditationspraxis wurde in Kursiv geschrieben, damit für den Leser klarer ersichtlich wird, wie die Haltungen der Meditation unter anderen Bedingungen ganz konkret in den Beziehungen weiter eingeübt werden können. Die mit einem Pfeil gekennzeichneten Fragen regen dazu an, die Beziehung zu sich und zu anderen zu reflektieren und das Gelesene für persönliche Beziehungserfahrungen zu erschließen. Die Impulse sind als Unterstützung für den Alltag gedacht.

      Ich gehe zunächst auf die Beziehung zu uns selbst ein und dann auf die Beziehungen zu den anderen. Die Beziehung zu Gott ist dabei stets miteinbezogen, ja untrennbar mit beiden verbunden. Die Unterteilung ist deshalb fließend zu betrachten und soll vor allem einer klaren Übersicht dienen.

      In der Meditationspraxis beziehe ich mich auf das Jesusgebet, jedoch auf keine spezifische Praxis. In der Literatur finden sich für das Jesusgebet unterschiedliche Namen: das Herzensgebet, das einfache Gebet, das Gebet der Sammlung, das immerwährende Gebet oder das kontemplative Gebet. In der Alltagssprache spricht man schlicht von Meditation. Wenn ich den Begriff Meditation verwende, meine ich damit das Jesusgebet. So vielen unterschiedlichen Namen für das Jesusgebet stehen ebenso viele Weisen gegenüber, wie das Jesusgebet praktiziert werden kann. Allen gemein ist, dass die Aufmerksamkeit des Betenden mit Hilfe einer konkreten Wahrnehmung auf die Gegenwart gerichtet ist. Die tiefe spirituelle Bedeutung für die Ausrichtung auf die Gegenwart gründet in der Selbstoffenbarung Gottes: „Ich bin der Ich-bin-da“ (Ex 3,14). Gott hat sich ganz klar als ein Gott der Gegenwart zu erkennen gegeben und ist konsequenterweise in der Gegenwart erfahrbar. Die Hinwendung zur Gegenwart ist immer eine Hinwendung zur Gegenwart Gottes, auch wenn man sich dessen nicht bewusst ist. Es gibt nicht eine Gegenwart mit und eine Gegenwart ohne Gott, wie es auch keine Gegenwart gibt, die als katholisch oder als evangelisch bezeichnet werden kann. Im Bemühen, nicht im Denken verhaftet zu bleiben, sondern im Wahrnehmen, treffen sich die meditativen Gebetsweisen des Christentums und anderer Religionen. Der Treffpunkt liegt auf der Ebene des Seins, im schlichten, wachen Gegenwärtig-Sein. Den Christen ist auf diesem Weg der Name Jesu gegeben. Die Verbundenheit Jesu zu Gott, seinem Vater, war so tief und innig, dass er sagen konnte: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Der Meditierende richtet seine Aufmerksamkeit auf den Namen „Jesus Christus“. In meinem Buch „Die Kraft der Kontemplation“ habe ich beschrieben, dass es ebenso möglich ist, den Namen „Maria“ innerlich lauschend zu wiederholen.2 Der Betende wendet sich dabei dem mütterlichen Aspekt Gottes zu. Es ist ebenso möglich, innerlich schlicht ein „Ja“ zu wiederholen.3

      Wenn ich mich auf die „Gegenwart“ beziehe, bedeutet dies, dass der Betende seine Aufmerksamkeit mittels einer konkreten Wahrnehmung an das Hier und Jetzt bindet. Franz Jalics empfiehlt, in der Meditation bewusst seine Hände in Verbindung mit dem Atem wahrzunehmen.4 In der orthodoxen Kirche richtet der Betende seine Aufmerksamkeit auf das Herzzentrum oder wiederholt im Gehen „Jesus Christus, erbarme Dich meiner“5. Mit der konkreten Wahrnehmung der Hände, des Herzzentrums oder des Atems verbindet der Betende den Namen „Jesus Christus“, den er innerlich beständig wiederholt. In dem Moment, in dem er in Kontakt mit dieser konkreten Wahrnehmung ist, ist der Betende mit seiner Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt, d. h. mit der Gegenwart verbunden. In der Hinwendung zur Gegenwart und zum Namen Jesu geschieht das Konkrete: Es entstehen der Kontakt und die Verbindung zur Realität im Hier und Jetzt und zur erlösenden Kraft, die im Namen Jesu liegt (Apg 4,12). Da ich dieses zentrale, immer gleiche Geschehen aus verschiedenen Perspektiven beleuchte, lassen sich Wiederholungen nicht vermeiden. Sie machen vielmehr deutlich, wie vielschichtig und facettenreich das Konkrete ist. Nur das konkret Erfahrene führt uns näher zu Gott, zu den Mitmenschen und zu uns selbst – und nicht das Abstrakte. Geistreiche Gedanken geben eine Orientierung, wären jedoch wertlos im „Reich der Beziehungen“, würde nicht das Konkrete folgen.

      Möge dieses Buch aufzeigen, wie die Meditationspraxis Orientierung sein kann für das alltägliche Beziehungsgeschehen und wie in beiden Lebensbereichen Gottes heilende Gegenwart erfahren werden kann.

       I. Die Beziehung zu mir selbst

       Der Mensch ist dazu berufen, in seinem Innersten zu leben […] Bei all dem durchschaut er sein Innerstes niemals ganz. Es ist ein Geheimnis Gottes, das Er allein entschleiern kann, so weit es ihm gefällt. Dennoch ist ihm sein Innerstes in die Hand gegeben; er kann in vollkommener Freiheit darüber verfügen, aber er hat auch die Pflicht, es als ein kostbares anvertrautes Gut zu bewahren. (Edith Stein) 6

      Die Beziehung zu sich selbst ist eng verknüpft mit der Frage bzw. mit der Antwort auf die Frage: Wer bin ich? „Die großen Lehrmeister sagen uns, dass dies die wichtigste Frage der Welt sei.“7 Viele Heilige haben diese Frage bildhaft beantwortet: „Ich bin ein Tropfen des göttlichen Ozeans“ (Teresa von Ávila), ich bin eine „Flamme des göttlichen Feuers“ (Johannes vom Kreuz), ein „Funke Gottes“ (Meister Eckhart). Paulus nennt uns schlicht „Kinder Gottes“ (vgl. 1 Joh 3,1, Röm 8,16). Und da wir Kinder Gottes sind, ist Gott unser Vater. Diese Selbstverständlichkeit kommt im Vater-Unser zum Ausdruck, indem wir Gott schlicht als Vater ansprechen. Die göttliche Kindschaft ist unsere tiefste Identität. Gott hat uns mit großer Würde ausgestattet! Sie ist ein Schatz, den jeder ohne Ausnahme besitzt. Aus diesem Grund hat Jesus gesagt: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14). Jesus sagte nicht, jene sind das Licht der Welt, die alles richtig machen. Und er sagte auch nicht, ihr werdet vielleicht eines Tages das Licht der Welt werden, wenn ihr euch nur richtig anstrengt. Das Licht der göttlichen Kindschaft ist bereits jetzt in uns gegenwärtig. Dieser Schatz kann jedoch in Vergessenheit geraten. Denn vieles wissen wir auf einer intellektuellen, abstrakten Ebene, vieles vergessen wir wieder auf dieser Ebene und nur weniges ist uns wirklich bewusst.

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