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Durch diese Rechtsübertragung könne Euthanasie im Sinn einer Tötung auf Verlangen nicht verboten sein.36 Bezüglich des Umgangs mit schwachen, kranken und behinderten Menschen verwies Binding auf die Anwendung utilitaristischer und sozialdarwinistischer Prinzipien und sah bei negativem Lebenswert gemäß dem Jost’schen Berechnungsmaßstab37 den Gesetzgeber sogar in der Pflicht, das Leben der sogenannten Lebensunwerten unter bestimmten Voraussetzungen zur Vernichtung freizugeben.38 Diese Erweiterung des Euthanasiebegriffs um die Vernichtung lebensunwerten Lebens führte im Dritten Reich realiter aber zu einer semantischen Reduktion auf ebendiese. Da sich das NS-Regime die bestehende Ambivalenz des Euthanasiebegriffs in Wissenschaft und Gesellschaft zu Nutze machte und sein Vorhaben zur Stärkung der arischen Rasse auf Basis von Bindings und Hoches Rechtstheorie zur Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens und unter dem Deckmantel einer als Mitleidshandlung propagierten Euthanasie verwirkliche,39 verschwand die Tötung auf Verlangen als Erlösung vom Leiden gänzlich aus dem Deutungshorizont.40 Auch wenn die NS-Euthanasie unter der Bezeichnung aufgrund von Protesten aus der Gesellschaft41 und anderen Ursachen 1941 eingestellt wurde42, hatte der Euthanasiebegriff im deutschsprachigen Raum zu dem Zeitpunkt eine gravierende terminologische Metamorphose durchlaufen und bedeutete ausschließlich die „Ausmerzung von ‚lebensunwürdigen‘ Menschen (Geistesgestörte, Erbgeschädigte, schwerkranke, alte Menschen) kraft staatlicher Anordnung, ohne Frage nach Zustimmung oder Nicht-Zustimmung der Betroffenen oder ihrer Angehörigen.“43

      Im internationalen Sprachgebrauch entwickelte sich der Euthanasiebegriff disparat, da er inhaltlich wieder von den selektionstheoretischen Tendenzen abgegrenzt wurde. Vor allem in Großbritannien und den USA fand er in der Diskussion um die Zulässigkeit der ärztlichen Herbeiführung des Todes für schwer kranke Menschen, sofern diese darum baten, eine neue Verwendung.44 Zu keiner Zeit war das Gedankengut der Vernichtung lebensunwerten Lebens Bestandteil der Debatten um Tötung auf Verlangen, sodass für den internationalen Kontext nicht von einem neuerlichen Wandel des Euthanasiebegriffs gesprochen werden kann.

      Nach Kriegsende ist sowohl für den deutschen als auch den internationalen Sprachraum eine Ruhephase bzw. Tabuisierung der Diskussion um die Zulässigkeit der Tötung auf Verlangen und anderer medizinischer Handlungen am Lebensende zu verzeichnen.45 Damit endete im deutschsprachigen Raum nicht nur der Diskurs um Tötung auf Verlangen abrupt, sondern auch die Verwendung des Euthanasiebegriffs. Er wurde für unbrauchbar erklärt und durch den Terminus Sterbehilfe ersetzt, wodurch eine weltweit einheitliche Terminologie bezüglich Tötung auf Verlangen aufgegeben wurde.46

      Nach in der Phase der Tabuisierung lässt sich im internationalen Sprachgebrauch für die erste Nachkriegsphase47 (1950-1960) eine zunehmende Unterscheidung der Formen von euthanasia in aktive und passive als Differenzierung des ärztlichen Handelns verzeichnen. In dieser nahm auch Papst Pius XII. (1876-1958, Papst: 1939-1958) zu konkreten, medizinethischen Problemen Stellung und übte dadurch einen großen Einfluss auf die Begriffsinterpretation über die Grenzen der katholischen Kirche hinaus aus.48 Auf den enormen medizinischen Fortschritt in den 1950/60er Jahren folgte eine zweite Nachkriegsphase (1960-1970), in der spektakuläre Einzelschicksale und -fälle bekannt wurden, in denen lebensbeendende und -verkürzende Maßnahmen erbeten und in Anspruch genommen wurden. Dadurch wurde die Debatte um Tötung auf Verlangen als Ausdruck des gestaltenden Mitspracherechts der Patienten am Ende ihres Lebens zu einem bis heute zentralen Thema der öffentlichen Wahrnehmung und des gesellschaftlichen Diskurses.

      Abschließend ist für den internationalen Sprachgebrauch eine breite Verwendung des Euthanasiebegriffs als Bezeichnung von ärztlich-medizinischen Handlungen festzuhalten, die in den menschlichen Sterbeprozess lebens- oder therapiebeendend oder schmerzlindernd mit in Kauf genommener Todesfolge eingreifen. Dementgegen ist bis ins 21. Jahrhundert hinein jeder Versuch zur Rehabilitation des Euthanasiebegriffs im deutschsprachigen Raum aufgrund seiner historischen Vorbelastung und euphemistischen Verwendung in der NS-Diktatur bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt.

      Seit der Nachkriegszeit ist für den deutschsprachigen Raum in Politik, Gesellschaft und Wissenschaftslandschaft eine Vermeidung des Euthanasiebegriffs festzustellen, um einer Verwechslung mit den Handlungen des NS-Regimes zu entgehen. Dieses hatte den Begriff aufgrund seiner Vernichtung lebensunwerten Lebens unter dem Deckmantel einer erlösenden Euthanasie innerhalb von nur sechs Jahren konterkariert. Stattdessen wird vorwiegend der Sterbehilfebegriff verwendet.49 Obwohl oftmals vermutet wird, dass er als Ersatz des Euthanasiebegriffs erst in der Nachkriegszeit geprägt wurde50, war er bereits Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt51 und wurde partiell als Äquivalent zu Euthanasie gebraucht wurde.52 Während 1914 der Sprachforscher und Philosoph Fritz Mauthner (1849-1923) den Sterbehilfebegriff als „vergeudung von sprachenergie“53 verspottete, führte ihn das Deutsche Wörterbuch der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm von 1941 mit folgender Erklärung:

      „[S]terbehilfe, hilfeleistung beim sterben durch todbeschleunigende mittel, neue wortbildung“54.

      Der Austausch der beiden Termini Euthanasie und Sterbehilfe im deutschen Sprachgebiet ist letztlich nicht exakt zu datieren. Die Debatte um vorzeitige Lebensbeendigung, d. h. Tötung auf Verlangen wurde jedoch nach Ende des II. Weltkriegs und überwundener Tabuisierung vorwiegend unter Zuhilfenahme des Sterbehilfeterminus aufgegriffen.55 Spätestens ab Mitte der 1970er Jahre hatte Sterbehilfe den Euthanasiebegriff im deutschen Sprachraum als adäquaten Terminus abgelöst.56

      Kritisch ist anzumerken, dass der Sterbehilfebegriff kontinuierlich von Fehlinterpretationen und Missverständnissen begleitetet wurde, sodass mit zunehmender Differenzierung der bezeichneten medizinischen Handlungen die Forderung nach anderen Termini geäußert wurde. Die Ambivalenz des Sterbehilfebegriffs wird zum einen in der inhärenten Semantik des Begriffs selbst gesehen, der eine Verbindung der substantivierten Verben Helfen und Sterben darstellt. Aus Sicht der Kritiker bringe das Kompositum Sterbe-hilfe nicht klar zum Ausdruck, ob die Verknüpfung temporaler oder finaler Natur sei. Während die

      - Hilfe beim/im Sterben eine zeitliche Kontingenz ausdrücke und einzig auf die umsorgende und schmerzlindernde Begleitung im Sinn einer palliativmedizinischen Grundversorgung im Sterbeprozess abziele, eine bewusste Lebensbeendigung aber nicht intendiere (temporal), bezeichne hingegen die

      - Hilfe zum Sterben einen bewusst intendierten Eingriff in den Sterbeprozess des Menschen durch medizinisches Handeln oder Unterlassen, der auf die vorzeitige Herbeiführung des Todes des unheilbar Kranken hingeordnet ist bzw. dessen krankheitsbasierten Sterben keine Therapie entgegensetze (final).57

      Auch die Begriffe Hilfe und Sterben wurden aufgrund ihres weitläufigen Interpretationsspielraums kritisiert. Die Verwendung des Wortes Hilfe erscheine hochgradig problematisch, da der Leser mit diesem Begriff eine wohlwollende, am Willen einer in Not geratenen Person orientierte Handlung assoziiere. Der Gebrauch des Wortes im Kontext von Tötung auf Verlangen sei eine Karikatur.58 Ebenso kritisch wurde der Begriff Sterben hinterfragt, da er nicht genau angebe, welche Phase innerhalb des Sterbeprozesses eines Menschen bezeichnet werde: jener Zeitraum, der dem krankheitsbedingten unausweichlichen Tod vorausgeht (Terminalphase, Final- oder Sterbephase), oder der Moment des Todeseintritts an sich.59 Je weitläufiger der Begriff Sterben ausgelegt und je früher der Zeitpunkt des Sterbebeginns angesetzt werde, desto komplexer gestalte sich die Frage nach einer angemessenen Sterbehilfe. Aufgrund des Fehlens eines einheitlichen Konzeptes, zu welchem Zeitpunkt das Sterben des Menschen beginnt,60 ist der Sterbehilfebegriff somit derzeit nicht vor Missverständnissen geschützt.

      In Konsequenz der terminologischen Unzulänglichkeiten gibt es im deutschen Sprachraum kein einheitliches terminologisches Konzept, welches ganzheitliche Akzeptanz erhält. Es existieren nebeneinander Ansätze von absoluter Vermeidung des Euthanasiebegriffs61 über die Verwendung beider Begriffe als synonyme Oberbegriffe62 mit partieller adjektivischer Spezifizierung63 bis hin zum Gebrauch von Euthanasie

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