ТОП просматриваемых книг сайта:
Was wir wissen könne und was wir glauben müssen. Volker Ladenthin
Читать онлайн.Название Was wir wissen könne und was wir glauben müssen
Год выпуска 0
isbn 9783429064136
Автор произведения Volker Ladenthin
Жанр Философия
Издательство Bookwire
Postfaktisch. Prima. Der Kinderphilosoph hatte es allen gezeigt. Er hatte nicht nur die philosophische Version der alten Hoteliers- und Kuramtsweisheit vorgetragen, nach der es »kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Kleidung« gebe (auch dies eine postfaktische Botschaft!). Der kleine Junge hatte erbarmungslos und heiter die Grundlagen der Erkenntnis bloßgelegt.
Regen an sich ist keine schlechte Sache. Die Bauern im Tal hat der Regen vielleicht mehr gefreut als eine lange Trockenperiode, auch die Bergbauern, die ein Interesse daran haben mussten, dass das Gras für eine ertragreiche Heuernte ordentlich wuchs. Die Staudamm- und Wasserkraftwerksbetreiber wird’s ebenso gefreut haben und die Museumsdirektoren und Gastwirte allemal. Denn wenn es in Urlaubsorten regnet, gehen die Menschen in Museen und gönnen sich einen Kaiserschmarren im »Hirschen«, statt das Gras auf den Wiesen und Weiden plattzutreten. »Wat den einen sin uhl, is den annern sin nachtigal«, sagen die Westfalen: postfaktische Lebensweisheit. Und dass Regen etwas Schönes sein kann, besangen die Beatles (»Rain«) oder Hal David (1921–2012) und Burt Bacharach (*1928, »Raindrops keep falling on my head«). Wer einmal die wunderbare Choreographie von Gene Kelly (1912–1996) im Musical-Film »Singin’ in the Rain« bewundert hat, weiß, dass selbst der Besserwisser-Spruch von der richtigen Kleidung keine Aussage über Fakten ist. Ob der Regenschirm das passende oder das falsche Accessoire ist, entscheidet nicht der Schirm, sondern das, was man mit ihm machen will. Gene Kelly war der Schirm gerade recht, aber nicht deshalb, weil man sich mit ihm vor dem Regen schützen kann, sondern weil er ihn so halten konnte, dass er richtig nass wurde. Und dabei singt er noch in allerbester Laune. Wie hatte es der kleine Junge gesagt: »Ich freue mich, dass es regnet« – und wenn man die Filmsequenz sieht, ist ihm nur zuzustimmen.
Wenn wir all diese unsäglichen, grausigen und medialen Beispiele deuten, dann werden wir die These als begründet ansehen müssen, dass es keine guten und keine schlechten Fakten gibt. Vielmehr hängt es vom Bezugsrahmen ab, ob wir ein Faktum als gut oder schlecht bewerten. Ob ein Faktum für uns gut oder schlecht ist.
Erstens
Zuerst einmal hängt es vom sachlichen Bezugsrahmen ab: Wenn wir im Winter Wetterberichte über Blitzeis und dichten Nebel hören, dann ist es ein gutes Faktum, wenn nur Unfälle mit leichtem Blechschaden zu melden sind. Man hätte Schlimmeres erwarten können.
Es gibt unterschiedliche sachliche Bezugsrahmen: Das, was wir erwarten; das, was gewöhnlich zu erwarten ist; das, womit Fachleute rechnen usw. Die gleichen Fakten können nun die unterschiedlichen Erwartungen erfüllen, übertreffen oder unterbieten. Je nach Erwartung wird man das als gutes oder schlechtes Faktum ansehen. Aber nicht die Fakten sind gut oder schlecht, sondern sie bekommen von uns ihre Güte erst anlässlich der Erwartungen zugeschrieben: durch den Bezugsrahmen.
Zweitens
Der Bezugsrahmen aber lässt sich nicht nur sachlich, sondern auch sittlich bewerten. Kann man akzeptieren, dass Menschen für größere Mobilität sterben? Ist es zu akzeptieren, dass unserer Mobilität im Jahr 3206 Menschen zum Opfer gebracht werden? Leben wir in einer humanen Gesellschaft, wenn wir akzeptieren, dass unser Straßenverkehr 3206 Tote fordert? Ist es wichtiger, dass wir schnell unsere Ziele erreichen und dabei das Leben von Menschen und die Lebensgrundlage ganzer Familien riskieren?
Vielleicht wird man, wenn man im Auto zum nächsten Termin mit weit über 130 km/h hetzt, sagen: Das muss jetzt sein. Aber wenn man die Opferfamilien fragt? Ist das einzelne Leben nicht wichtiger? Wird man nicht einen Gesichtspunkt finden müssen, der beiden gerecht wird, dem Rasenden und den Opfern? Wäre das nicht sittlich? Wenn man abwägt, ob jemand zehn Minuten schneller am Ziel ist oder ein Menschenleben bewahrt wird, dann ist die Zahl von 3206 Verkehrstoten nicht zu akzeptieren. Aber nicht die Zahl ist moralisch oder unmoralisch, sondern unsere Entscheidung.
Wir sehen: Das angeblich schlechte Faktum wird vor dem Hintergrund der Statistik kurzfristig zu einem guten Faktum, das aber vor dem Hintergrund der Sittlichkeit zu einem schlechten Faktum wird.
Aber dieses Urteil folgt nicht aus dem Faktum. Vielmehr bewertet es das Faktum und den Bezugsrahmen nicht mehr nur aus der Perspektive der Verkehrswissenschaft, sondern aus sittlicher Perspektive. Müssen wir menschliches Leben nicht höher bewerten als die Verkürzung der Reisezeiten?
Sie sehen, dass wir in postfaktischen Zeiten leben – nicht die Fakten entscheiden, ob sie gut oder schlecht sind. Sondern wir entscheiden es. Unser Bezugsrahmen entscheidet (ich wage es kaum zu sagen), ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Aber auch das ist noch nicht der Wahrheit letzter Schluss. Denn der Vorwurf, wir lebten in postfaktischen Zeiten, meint ja, dass die Beschuldigten sich beim Handeln nicht an die Fakten hielten.
Ach, die Fakten!
Das müssen sie auch nicht! Ja, das können sie gar nicht. Wir handeln nie auf Grund von Fakten. Wir handeln immer nur anlässlich von Fakten. Und der Unterschied zwischen »auf Grund« und »anlässlich« ist fundamental … und macht den ganzen Menschen aus.
Wenn wir auf Grund von Fakten handeln würden, dann ließen uns bestimmte Fakten keine Wahl. Bei einigen Lebewesen ist das auch so: Wenn eine Katze eine Maus sieht, hat sie keine Wahl. Sie muss sie jagen (es sei denn, sie wurde mit Katzenfutter zuvor ruhiggestellt). Wenn ein Hund Hundefutter sieht, dann schießt Speichel ins Maul und die Lefzen werden feucht. Hunde können nicht anders. Die Biologie spricht von Fakten als Schlüsselreizen. Eine Honigbiene schwirrt zum Kaiserschmarren, nicht zur Zigarette, die dicht daneben vor sich hin qualmt. Sie kann nicht anders. Hier sind Fakten der Grund für das anschließende Verhalten, für die Reaktion.
Bei uns Menschen ist das anders: Bei der Alternative zwischen qualmender Zigarette und Kaiserschmarren hätte meine Mutter zur Zigarette und ich hätte zum Kaiserschmarren gegriffen. Die Fakten waren für uns beide gleich – und inzwischen wissen Sie und ich, wie man so etwas erklären kann. Der Bezugsrahmen war anders: Meine Mutter war Genussraucherin, ich mag Süßes.
Anlass und Grund
Aber wir beide mussten nicht so reagieren, wie wir reagiert haben: Als meine Mutter herzkrank wurde, stellte sie das Rauchen ein und hätte, vor die Wahl gestellt, zum Kaiserschmarren gegriffen. Und in der Pubertät hätte ich, vor die Wahl gestellt, zur Zigarette gegriffen, weil das lässig aussah und dazu führte, dass sich die gleichaltrigen Mädchen am Nachbartisch umdrehten und dachten: Hey, der darf schon rauchen. Den wollen wir mal treffen.
Daran ist nun Grundsätzliches zu erkennen: Aus Fakten kann man keinerlei Handlungsregel oder auch nur eine Handlung ableiten.
Drittens
Aber nun folgt die Frage: Was machen wir? Und da helfen uns die Fakten wenig. Ach, ich will hier weniger diplomatisch formulieren als einfach ehrlich: Fakten bleiben Anlass. Mehr nicht. Oder sollen wir sie als Ursache der Entscheidung nehmen, dass wir alle Fahrzeuge verbieten, die schneller als 20 km/h fahren! Die Zahl der Toten würde rapide gesenkt. Vielleicht unter zehn. Geht das?
Es ginge technisch. Sicher. Aber wir wollen es mehrheitlich nicht. Wir wollen unsere Lebensqualität nicht wegen der 3206 Toten senken (so handeln wir doch, auch wenn wir es nicht denken …). Wir sind oft nicht so sehr moralisch, wenn es um andere geht, die sterben. Also suchen wir nach anderen Möglichkeiten, die Zahl der Verkehrsopfer zu senken: Wir machen die Autos sicherer (Airbag). Wir beschränken die Geschwindigkeit (nur nicht auf Autobahnen …, da gilt freie Fahrt). Wir bauen die Straßen sicherer (bessere Beläge, keine engen Kurven, mehr Verkehrsschilder). Wir machen die Menschen klüger (sollen