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Niemand, nichts Anderes, nichts Fremdes, soll über mich bestimmen oder Gewalt haben, kein Gott, nicht Natur noch Mensch. An Odysseus illustrieren Horkheimer und Adorno das Scheitern dieser Hoffnungen.

      Für Horkheimer und Adorno legt Homers Odyssee, „der Grundtext der europäischen Zivilisation“23, beredtes „Zeugnis ab von der Dialektik der Aufklärung“24; für sie ist Odysseus’ Irrfahrt „ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung“25 und „Urgeschichte der Subjektivität“26 zugleich. „Die Irrfahrt von Troja nach Ithaka ist der Weg des […] unendlich schwachen und im Selbstbewußtsein erst sich bildenden Selbst […]. Die Abenteuer, die Odysseus besteht, sind allesamt gefahrvolle Lockungen, die das Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen.“27 Jedoch: „das Selbst macht nicht den starren Gegensatz zum Abenteuer aus“28. Gerade in der Auseinandersetzung mit den vorweltlichen mythischen Mächten, gerade „an der Erfahrung des Vielfältigen, Ablenkenden, Auflösenden“29, formt das Selbst „in seiner Starrheit sich erst durch diesen Gegensatz“30 – zu eben jenem Selbst, jenem „identische[n], zweckgerichtete[n], männliche[n] Charakter“31, jenem Urbild des bürgerlichen Individuums, das Adorno und Horkheimer ins Zentrum ihrer Kritik stellen.

      Odysseus sucht „den Mächten der Auflösung zu widerstehen“32, „den Figuren des Zwanges“33 und „des abstrakten Schicksals, der sinnfernen Notwendigkeit“34 zu trotzen; er stellt sich „wider die Unausweichlichkeit des Schicksals.“35 „Aber die Lockung der Sirenen bleibt übermächtig.“36 Die Mächte lassen sich nicht entmächtigen, sie lassen sich lediglich überlisten. „Das Organ des Selbst, Abenteuer zu bestehen, sich wegzuwerfen, um sich zu behalten, ist die List“37 – „List aber ist der rational gewordene Trotz.“38 „Der Seefahrer Odysseus übervorteilt die Naturgottheiten“39 – hierin liegt der Witz des Odysseus: „Niemals kann er den physischen Kampf mit den exotisch fortexistierenden mythischen Gewalten selber aufnehmen.“40 Ihre Macht vermag er nicht zu brechen. „Stattdessen macht er sie formal zur Voraussetzung der eigenen vernünftigen Entscheidung.“41

      So bedingt die Überlistung der mythischen Mächte just die Anerkennung ihrer Macht, so fordert sie ihren Preis, der für Horkheimer und Adorno die Dialektik der Selbstbehauptung zeigt: Im Versuch, dem Bannkreis fremder Mächte zu entrinnen und sich zu erhalten, formt sich das identische Selbst – und deformiert zugleich, weil es ihrem Bannkreis eben nicht zu entrinnen vermag. So wird die Odyssee zur Allegorie der Dialektik der Aufklärung. Wie Odysseus die mythischen Mächte, sucht Aufklärung nach deren Entzauberung die Natur zu beherrschen im Interesse des Selbsterhalts. Wie Odysseus die mythischen Mächte, vermag sie die Natur jedoch nicht eigentlich zu beherrschen, sondern nur zu benutzen.

      „Gerade vom naturbeherrschenden Geist wird die Superiorität der Natur im Wettbewerb stets vindiziert. Alle bürgerliche Aufklärung ist sich einig in der Forderung nach Nüchternheit, Tatsachensinn, der rechten Einschätzung von Kräfteverhältnissen. […] Nur die bewußt gehandhabte Anpassung an die Natur bringt diese unter die Gewalt des physisch Schwächeren. […] Das Schema der odysseischen List ist Naturbeherrschung durch solche Angleichung.“42

      Aufklärung suchte die Natur zu ent-fremden und zu beherrschen qua Zahl, Formel, Gesetz. Doch unser Zugriff auf Natur bleibt instrumentell, die Zwecklosigkeit ihrer Zwecke uns unverfügbar und verschlossen. „Technik ist das Wesen dieses Wissens“43, das Macht ist, weil wir uns damit die Kräfte der Natur dienstbar machen – ihr Wesen bleibt uns verborgen. So bezahlen die Menschen

      „die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie die Macht ausüben. Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je dasselbe, als Substrat von Herrschaft. Diese Identität konstituiert die Einheit der Natur.“44

      In ihrem Bann verbleibt die Aufklärung – und mit ihr Subjekt und Gesellschaft, Vernunft und Sinne, Philosophie und Kunst, ja, alle Bereiche des menschlichen Daseins. Mit „der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten […] wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes einzelnen zu sich.“45 Verdinglichung und Verhärtung, Entfremdung und Entsagung, Aufschub der eigenen Glücksansprüche und regredierte Wahrnehmung, eine Erfahrungswelt, die sich „tendentiell wieder der der Lurche an[ähnelt]“46; eine Gesellschaft im Zeichen des Tauschs, in der alles und jeder zur Ware wird, in der selbst scheinbar Mächtige zur puren Funktion des Apparats werden; ein Rationalismus, der, in instrumentelle Vernünfte ausdifferenziert, sich in der Anhäufung technischen Wissens verausgabt – dies sind u. a. die Stichworte, mit denen Horkheimer und Adorno die Dialektik der Aufklärung schildern. Kurz: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein. So ist die Bahn europäischer Zivilisation verlaufen. Die Abstraktion, das Werkzeug der Aufklärung, verhält sich zu ihren Objekten wie das Schicksal, dessen Begriff sie ausmerzt: als Liquidation.“47 Eine solche Aufklärung als Angleichung an die – wohlgemerkt bereits entzauberte – Natur ist „Mimikry ans Amorphe“48, „ist selber Mimesis: die ans Tote“49.

      Dante, der Homers Odyssee nicht kannte50, hatte den Betrüger Odysseus im XXVI. Gesang des Inferno seiner Göttlichen Komödie im achten Kreis der Hölle platziert.51 Im Gespräch enthüllt Odysseus seine Geschichte: Seine Neugier trieb ihn aufs Meer und lässt ihn Familie und Heimat flüchten. Immer weiter strebte er, die Welt zu erkunden. So hat Dante „Odysseus als die weltliche Seite des Renaissancemenschen gestaltet […]. Befreit von echter Bindung, strebt er entfesselt und haltlos ins Unbekannte. Keine Familie vermag ihm mehr zu genügen. Die Säulen des Herkules, einst heilige und unverletzbare Grenze des Forscherdrangs, können seinen Wissensdurst nicht mehr hemmen.“52 Er erliegt der curiositas, der cupiditas sapientiae und damit der „Verlockung der Sirenen nämlich als Versuchung zum hybriden Mißbrauch der Vernunft“53 – und stirbt auf dem Meer.

      Nietzsches neue Losung aus seiner Fröhlichen Wissenschaft (IV. Buch, Nr. 289) – „Auf die Schiffe!“ – kann fürwahr als Motto über der Neuzeit stehen. Es ist eine Fahrt ohne Wiederkehr. Le siècle des Lumières hat die Anker gelichtet, die Trossen zur alten Welt des Sinns gelöst. Die Götter schwimmen unbewiesen in ihrem Blute (H. Heine), die mythischen Mächte sind entzaubert, die Natur entseelt, der Mensch verdinglicht. Der Versuch, „aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit [zu machen],“54 ward den Menschen zum Schicksal. Es ist eine Ausfahrt zu einem Horizont, hinter dem kein Land liegt. Und auf dem Meer, in der Rückschau, erweist sich auch die alte Welt als Trug: Heimat ist ein Ort, „worin noch niemand war“55. Ohne Heimat, ohne Ziel bleibt uns nur das Meer – „es gibt kein ‚Land‘ mehr!“56 Der Fliegende Holländer ist unser zu Hause: ewige Weiterfahrt, ohne Aussicht auf Erlösung. Wir sind allein auf dem Meer.57 Heimat wäre das Entronnensein.58 Doch Odysseus, der betrogene Betrüger, sitzt in der Hölle, die er selbst erschuf. Sie hat schwankende Planken.59

       Diogenes

      Horkheimer und Adorno hatten die Detonationen ihrer Epoche im Ohr, die Gaskammern von Auschwitz ahndend vor Augen, als sie ihre Meditation über den Satz ‚Wissen ist Macht‘ verfassten und die Dialektik dieses Wissens zeigten. Peter Sloterdijk beschreibt sie in seiner „Meditation über den Satz: ‚Wissen ist Macht‘“60, der Kritik der zynischen Vernunft, so:

      „Wenn einst Aufklärung – in jedem Wortsinn – der Angstminderung durch Mehrung von Wissen diente, so ist heute ein Punkt erreicht, wo Aufklärung in das einmündet, was zu verhindern sie angetreten war, Angstmehrung.“61 „Unter den ‚Erkenntnissen‘ sind allzu viele angsterregende“62; „[e]s gibt kein Wissen mehr, dessen Freund (philos) man sein könnte. Bei dem,

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