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wird auch nicht von Herrschern oder Experten von „oben“ verordnet, sondern von „unten“, insbes. von Minderheiten, Marginalisierten, ehemaligen Sklaven und Fremden selbst geschaffen.

      Die pluralen Einzelgeschichten, wie sie der christliche wie der hebräische Bibelkanon versammeln, haben daher Vorrang und bilden eine Art paradoxen Schutz vor dem Versuch, eine übergeordnete „Große Erzählung“ explizit zu formulieren. Daher muss sich dieser „Großen Erzählung“ auch niemand unterordnen. Die Menschen sind selbst Akteure, indem sie auf dem Weg interpretatorischer Erinnerung Sinn und Bedeutung ihres erzählerischen Erbes in einer neuartigen geschichtlichen Situation entfalten. Sie sind gerade nicht Protagonist*innen in einem sich notwendig vollziehenden religiösen und politischen „Parteiprogramm“, dem sie dienen müssen. Freiheit wird ihnen zugetraut und zugemutet. Das „Reich Gottes“, das die Atmosphäre dieser Geschichte bildet, ist kein „Zustand“, sondern kann, darf und soll von Menschen entscheidend mitgestaltet werden durch und in der Verantwortung für die Qualität sozialer, politischer und religiöser Beziehungen, steht aber nicht in deren Verfügungsgewalt.

      In all dieser Vielfalt aber gibt es durch die Texte hindurch ein „Gravitationszentrum“, auf das sich die Texte auf plurale Weise beziehen: die Beziehung zu Gott und untrennbar damit verbunden der Entwurf einer gerechten Gesellschaftsordnung, an der alle und jeder einzelne Mensch in Würde, Gleichheit und Freiheit teilhaben sollen. Beides – weder Gott noch sein Gesellschaftsethos – liegen als „Lehre“ oder „Theorie“ vor. Gott ist gerade keine höchste Idee, kein universales Denkprinzip oder lehrhafte Vorstellung, sondern wird als JHWH (ein Verb!) erfahren, als sich stets verändernde Präsenz, die den Menschen treu und nahe ist und sich zugleich dem Zugriff entzieht.

      Die vielgestaltige und durchaus konfliktive Beziehung zu diesem Gott ist der einigende „rote“ Faden, die „Große Erzählung“. Auch der Gesellschaftsentwurf liegt nicht als Ideologie vor, sondern als der jeweils vorgefundenen Wirklichkeit immer wieder auf der Basis der Erinnerung des bereits Erfahrenen und Gelernten neu – in Normen, Gesetzen, Recht – abzuringende, eschatologische Realität.

      So wird die biblische „Große Erzählung“ gemeinsam geschrieben, kommunikativ erstritten, im Leben errungen. Ohne die damit verbundene Praxis der Gemeinden, die sie durchleben, durchleiden und durchstreiten, „gibt“ es sie gar nicht. Sie vollzieht sich als oftmals schmerzhafter „Dialog“ zwischen den Menschen und mit Gott. Sie wird nicht besessen, sondern erhofft, ersehnt, vermisst, erwartet. Sie muss den Erfahrungen von Übel, Leid, dem Bösen immer wieder abgerungen werden. Insofern ist die „Große Erzählung“ auch keine „Lehre“ über Gottes Wesen oder „die“ Heilsgeschichte, sondern enthüllt die Strukturen der Beziehungsprozesse, in denen Gottes Wirken – als „Liebe“, „Gerechtigkeit“, „Heilung“, „Befreiung“ – erkennbar werden kann.

      Die Beziehung zu Gott ist der einigende "rote" Faden.

      Die Berufung von Judentum und Kirche besteht darin, diese „Große Erzählung“ vor Ort immer wieder praktisch und theoretisch freizulegen, mitzugestalten und voranzutreiben (und dabei mit dem eigenen Scheitern zu rechnen). In der Fragmentarität dieser Darstellung muss ich hier enden. Die praktisch-theologischen Fächer mit ihrer Option für konkrete Menschen und Ereignisse haben zu einem solchen Verständnis von „Großer Erzählung“ eine besondere Nähe. Sie orientieren sich immer zuerst an der konkreten Wirklichkeit und versuchen, mithilfe der theologischen Traditionen deren inneren Sinn zu erschließen. Dieses Vorgehen ist zutiefst bibeltheologisch. Warum geschieht dies pastoral so selten explizit? Liegt die Scheu, die alte „Große Erzählung“ der Schrift weiterzuschreiben, am derzeit zur Verfügung stehenden theologischen Vokabular, das der Gegenwart aufgepfropft werden soll? Tatsächlich würde der Versuch, die „Große Erzählung“ der biblischen Erzählungen verstärkt freizulegen, auch die theologische Sprache verändern. Sie müsste konkret, narrativ, dialogisch und relational werden. Freilich würde dies zu innertheologischen Konflikten führen, denn es hieße, sich so manchem systematisch-theologischem Sprachspiel zu verweigern, vielleicht auch dem postmodernen.

      Die biblische Erinnerung an die lebendige Wirklichkeit Gottes in der Geschichte ist aus meiner Sicht eine „Große Erzählung“, die dabei hilft, sich vom Wahnsinn und der Last der Geschichte nicht entmutigen und erdrücken zu lassen und ihnen damit Recht zu geben. Sie steht im Dienst des Lebens und im Widerstand gegen alles, was dieses Leben beschädigen und zerstören kann.

      LITERATUR

      Bauman, Zygmunt, Stadt der Ängste. Stadt der Hoffnungen, Wien 2019.

      Englert, Rudolf, Was wird aus Religion? Ostfildern 22019.

      Kershaw, Ian, Achterbahn. Europa 1950 bis heute, München 32019. Pohl, Walter, Die Entstehung des europäischen Weges: Migration als Wiege Europas, in: Österreichische Forschungsgemeinschaft (Hg.), Migration, Bd 15, Wien/Köln/Weimar 2013, 27-44.

      Polak, Regina, Migration: Heimkehr zu Gott und seiner Sozialordnung, in: Dies., Flucht, Migration, Religion, Ostfildern 2017, 107-126.

      Polak, Regina, Befreiung. Die Pastoraltheologie braucht eine „Große Erzählung“, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 1 (2016), 57-78.

      Veerkamp, Ton, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2013.

      Walpen, Bernhard, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont-Pèlerin Society, Hamburg 2014.

      Inkarnative Erzählungen

      Gesellschaftlich dominante Narrative begründen einen sozialen Bereich der Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Lebbarkeit. Prekäre Lebenserfahrungen werden von ihnen mitunter ins Außen abgeschoben und unsagbar gemacht. Doch manchmal ereignet es sich, dass das verworfene Andere Raum und Gestalt gewinnt – in inkarnativen Erzählungen. Christian Kern

      SCHAUDER BEIM ERZÄHLEN

      „Wenn du sexuell belästigt oder angegriffen wurdest, schreib ‚Metoo‘ als Antwort auf diesen Tweet“. Diese Worte postete Alyssa Milano am 15. Oktober 2017 auf Twitter. Im Kontext des kurz zuvor bekannt gewordenen Weinstein-Skandals, wollte Milano Frauen ermutigen, Erfahrungen sexualisierter Gewalt publik zu machen und auf deren weite Verbreitung hinzuweisen. Der Tweet ging viral. Innerhalb von 25 Stunden griffen ca. 500.000 Menschen das Stichwort auf, in den folgenden Monaten formierten sich weltweit verschiedene Varianten von Metoo-Bewegungen. Nicht nur wurde der hashtag geteilt, es wurden auch öffentlich von konkreten Erfahrungen sexualisierter Gewalt, Bedrohung oder Ausbeutung erzählt. Frauen wie Männer aus verschiedenen Gesellschaftsbereichen, besonders Kollegen Milanos aus Film oder Showbusiness, gaben dem Thema weitreichende Präsenz.

      In einer verwandten Weise kam es in Deutschland ab dem Jahr 2010 zu einer Welle von Erzählungen. Ein Brief aus dem Canisius-Kolleg initiierte bekanntlich die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und -strukturen an der dortigen Schule sowie an vielen weiteren Einrichtungen und Orten der katholischen Kirche. Auch in diesem Zusammenhang wurde erzählt.

      Missbrauchsüberlebende berichteten öffentlich von Gewalterfahrungen, Strukturen des Verschweigens und repressiven Widerständen in der Aufarbeitung, von Menschen die Ohren abwendeten, aber auch solchen, die unterstützten und zuhörten.

      Fachtagungen beleuchteten die Themenkomplexe aus pastoralpsychologischer, praktisch und systematisch-theologischer Sicht und ließen Betroffene zur Sprache kommen, die von eigenen Erfahrungen berichteten, Aufarbeitungsmaßnahmen kritisch kommentierten und Veränderungen forderten.

      Die Erzählungen der Metoo-Bewegungen und der Missbrauchs-Aufarbeitung in Deutschland und weltweit sind eigener Art und haben eine besondere Kraft. Sie sind keine Geschichten, die erzählt werden, um Hörer*innen und ihre Herzen zu erfreuen, keine Gedichte, die von bekannten Autoren bei Lesungen aufgeführt werden und Applaus erzielen, keine Bildungsromane, die intellektuell sättigen. Sie sind auch keine großen Erzählungen, die soziale oder kulturelle Zusammenhänge fassen, organisieren und Menschen in eine gemeinsame Richtung bewegen. Es gibt bei ihnen keinen „Zauber des Erzählens“ in dem Sinne, dass Staunen, Freude oder Begeisterung geweckt werden. Sie sind Erzählungen, die erschüttern, empören, auch verstören können. Angesichts

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