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Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?. Hans Rudolf Fuhrer
Читать онлайн.Название Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?
Год выпуска 0
isbn 9783039197996
Автор произведения Hans Rudolf Fuhrer
Жанр Документальная литература
Серия Der Schweizerische Generalstab
Издательство Bookwire
Die Theorien der marxistisch-leninistischen Ideologie beeinflussten also in hohem Mass die sowjetische Politik, unter anderem die Militärpolitik. Gleichzeitig blieben diese Theorien ihrerseits nicht unbeeinflusst von der praktischen Wirklichkeit, in welcher sich die Sowjetunion innenpolitisch und aussenpolitisch befand. So kam es – ausgelöst zum Beispiel durch Neuerungen im Bereich der Technik – in der UdSSR regelmässig zu Anpassungen beziehungsweise Umdeutungen der ideologischen Doktrin.6 Dabei konnten zuvor «häretische» Thesen plötzlich zu «orthodoxen» Leitsätzen werden. Diese Veränderungen vollzogen sich stets abrupt, indem der Generalsekretär der KPdSU die neu gültige Doktrin offiziell verkündete. Eine öffentliche Debatte über die richtige ideologische Auslegung des entsprechenden Aspekts fand vorgängig nicht statt. Mit anderen Worten: Zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte im ganzen Ostblock immer nur eine Auffassung Gültigkeit.
Im Folgenden soll die Entwicklung derjenigen Theorien der marxistischleninistischen Ideologie aufgezeigt werden, die für die militärpolitischen Entscheidungen in Bezug auf Westeuropa von 1945 bis 1966 prägend waren. Es geht dabei um die Theorien dieser Ideologie zum Verlauf der Weltgeschichte, zu Krieg und Frieden sowie zur Neutralität.
1.2 Die marxistisch-leninistische Auffassung von Geschichte
1.2.1 Die Theorie des historischen Materialismus
Die von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte Geschichtsauffassung beruht auf einem materialistischen Grundsatz: «Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.»7 Dieser Leitgedanke führte Marx und Engels zur Überzeugung, dass die gesamte Weltgeschichte als Geschichte der materiellen Verhältnisse der Gesellschaft zu verstehen sei.8 Was den historischen Prozess konkret vorantreibe, das sei der Widerspruch zwischen den Produktivkräften9 und den Produktionsverhältnissen.10 Zu diesem Widerspruch komme es, weil die Menschen die Produktivkräfte ständig fortentwickelten, um ihre immer neuen und zusätzlichen Bedürfnisse befriedigen zu können. Wenn die Produktionsverhältnisse nicht mehr der Entwicklung der Produktivkräfte entsprächen, komme es zu gesellschaftlichen Krisen und zu Kämpfen zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen mit unterschiedlichen sozialen Interessen.11 Diese Kämpfe könnten zur Revolution führen, zur Ablösung der herrschenden – das heisst über die Produktionsmittel verfügenden – Klasse und zu neuen Produktionsverhältnissen.
Dieses Erklärungsmodell – die Theorie des historischen Materialismus – führte Marx und Engels zur Schlussfolgerung, dass die Geschichte der Menschheit eine Aufeinanderfolge «ökonomischer Gesellschaftsformationen»12 sei.13 Konkret durchlaufe die Menschheit folgende «Formationen»: die klassenlose Urgesellschaft; die antagonistischen Klassengesellschaften der Antike (Freie und Sklaven), des Mittelalters (Feudalherren und Leibeigene) und des neuzeitlichen Kapitalismus (Bourgeoisie und Proletariat); die sozialistische Gesellschaft sowie – als höchste und letzte Gesellschaftsform der Weltgeschichte – die klassenlose Gesellschaft des Kommunismus. Marx und Engels waren überzeugt davon, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung aus den ihr immanenten Bewegungsgesetzen zwangsläufig zusammenbrechen und durch die proletarische Revolution in eine sozialistische Gesellschaft umgewandelt werde; diese werde ihrerseits in der klassenlosen und damit in sich widerspruchsfreien kommunistischen Gesellschaft ihre Vollendung finden.
Der Theorie von Marx und Engels fügte Vladimir Il’ič Lenin Anfang des 20. Jahrhunderts – der ausbleibenden Revolution in den kapitalistischen Staaten14 und den rückständigen Verhältnissen in Russland Rechnung tragend – die Thesen von der «Partei neuen Typs» und von der «Diktatur des Proletariats» hinzu. Die erste These besagt, dass beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus der kommunistischen Partei eine entscheidende Rolle zukomme – als Partei von Berufsrevolutionären, welche das revolutionäre Bewusstsein von aussen in die Arbeiterklasse hineinzutragen habe und die nach erfolgreicher Revolution die Führung in der Entwicklung von der sozialistischen zur kommunistischen Gesellschaftsordnung innehabe.15 Die zweite These bezieht sich auf die Zeit nach erfolgter proletarischer Revolution: In der Übergangsperiode, die den Zeitraum vom Zusammenbruch der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung bis zum Eintritt der klassenlosen Gesellschaft umfasst, müsse die Arbeiterklasse – beziehungsweise ihre «Avantgarde», die kommunistische Partei – diktatorisch, das heisst, ohne an Gesetze gebunden zu sein, herrschen. Denn nur auf diese Art könne es gelingen, die Bourgeoisie endgültig zu eliminieren.16
Anders als Marx und Engels, die davon ausgingen, dass die sozialistische Revolution zuerst in den fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften stattfinden würde,17 behauptete Lenin zudem, im aktuellen – dem sogenannten «imperialistischen» – Stadium des Kapitalismus könne die sozialistische Revolution durchaus auch in schwächer entwickelten Ländern beginnen.18 Für Lenin war also nicht mehr ein bestimmter ökonomischer «Reifegrad» das entscheidende Kriterium für die Möglichkeit eines Umsturzes, sondern eine vorhandene «revolutionäre Situation» in der Gesellschaft.19 Auf diese Weise rechtfertigte Lenin die Durchführung der Revolution im feudalistisch-bäuerlich geprägten Russland. Sein Nachfolger, Iosif Vissarionovič Stalin, ging diesbezüglich noch einen Schritt weiter: In der Absicht aufzuzeigen, dass der Sowjetstaat trotz der ausgebliebenen Weltrevolution keine «isolierte Anomalie» darstelle, sondern voll und ganz in Übereinstimmung stehe mit den marxistisch-leninistischen Vorstellungen über den weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus,20 schuf Stalin die Lehre vom «schwächsten Kettenglied». Diese besagt, dass im Zeitalter des Imperialismus «die einzelnen nationalen Wirtschaften […] sich in Glieder einer einheitlichen Kette, genannt Weltwirtschaft, verwandelt» hätten und dass «die Kette der imperialistischen Weltfront» zwangsläufig «dort reissen» müsse, «wo die Glieder der Kette am schwächsten» seien.21 Dabei könne «es sich erweisen […], dass das Land, das die Revolution begonnen hat, das Land, das die Front des Kapitals durchbrochen hat, kapitalistisch weniger entwickelt ist als andere entwickeltere Länder, die jedoch im Rahmen des Kapitalismus verblieben seien. Im Jahr 1917 erwies sich die Kette der imperialistischen Weltfront in Russland als schwächer denn in anderen Ländern. Dort riss sie auch und gab der proletarischen Revolution den Weg frei.»22
Abb. 9: Karl Marx. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1961)