Скачать книгу

führte.» Es gab Kolleginnen, die kündigten, als das handschriftlich geführte Pflegeheft durch das Tablet ersetzt wurde. Inzwischen ist der elektronische Begleiter genauso selbstverständlich geworden wie die hellgrünen Berufshosen und das dunkelblaue Shirt mit dem Logo. Wie in vielen Spitex-Regionen waren die Pflegenden auch in Thal jahrelang in Privatkleidern unterwegs und zogen bei den Klientinnen und Klienten einfach die Berufsschürze über.

      Ruth Meyer arbeitet nicht nur mit grosser Flexibilität im Übergangsteam, sie leitet zudem den Pflegedienst der zur Spitex Thal gehörenden Tagesstätte für Menschen, die Betreuung benötigen. So können betreuende und pflegende Angehörige regelmässig für einige Stunden entlastet werden. «Es hat mich seit Langem beschäftigt, dass es viele und immer mehr Menschen gibt, die zwar keine Spitex-Pflege benötigen und eigentlich auch gut daheim wohnen können, aber im Alltag begleitet und betreut werden sollten. Angehörige können das nicht allein leisten.» In der neuen Tagesstätte arbeiten vorwiegend Personen, die speziell für Betreuungsaufgaben ausgebildet sind.

      Als Ruth Meyer von ihrer Morgentour zurückkommt, erwartet sie eine dringende Neuanmeldung: Von einem Hausarzt, der die Spitex bittet, einem Patienten alle sechs Stunden Morphin zu spritzen. Die Pflegefachfrau hat ein mulmiges Gefühl, weil sie den neuen Klienten noch nie gesehen hat. «Ich möchte nicht einfach das Medikament verabreichen und wieder gehen.» Sie wird das Gespräch mit ihm und seiner Familie suchen, um herauszuhören, was die Spitex alles tun kann. Während Ruth Meyer den Rucksack erneut packt, bereitet sie sich innerlich auf eine Situation vor, zu der sie einzig die medizinischen Informationen hat. Vor Ort vertraut sie ihren Erfahrungen, um zu beurteilen, was sie ansprechen darf und wofür heute nicht der richtige Moment ist. Jeder Einsatz verläuft anders. «Schön ist in unserem Beruf, dass sich wesentliche Dinge nicht wiederholen.»

      Von einem Tag auf den anderen war meine Mutter allein zu Hause. Über Nacht war sie Witwe geworden. Ihre Gefühle behielt sie weitgehend für sich, wie sie es schon früher getan hatte, als sie Verluste ertragen musste. Sie habe natürlich Heimweh nach Bruno, doch es gehe ihr gut, sie dürfe nun bloss nicht krank werden. Es klang traurig und tapfer. Mehr aufgeben als notwendig wollte sie auf keinen Fall, über einen möglichen Umzug vom gemieteten Haus in eine Alterswohnung war mit ihr nicht zu diskutieren. Sie überging jede Andeutung des Themas mit schablonenhaften Sätzen: «Ich bin nicht einsam. Langweilig war mir noch nie.»

      Während der Pflege meines Vaters hatte das Spitex-Team auch meine Mutter kennengelernt und ihr nach seinem Tod vorgeschlagen, sie in der neuen Lebenssituation zu unterstützen. Ihre Alzheimerkrankheit hatte begonnen, sich zu zeigen. Die bald achtzigjährige Frau, die kaum je beim Arzt gewesen war, nur wenige Tage krank im Bett verbracht und keinerlei Ansprüche gestellt hatte, fand es freundlich, dass jemand zu Besuch kam und ihr zuhörte, nachdem sich wochenlang alles um ihren Mann gedreht hatte. Sie erzählte gern von ihren Reisen und meinte, es gebe noch vieles zu entdecken. Die regelmässigen Kontaktbesuche ermutigten sie. «Meine Spitex-Frau hat mich gelobt, ich würde mein Leben gut meistern», erzählte sie mir am Telefon freudig, ja stolz.

      Tatsächlich ging sie täglich spazieren, achtete auf ihr Äusseres, auf farblich abgestimmte Kleider und frisch gewaschene Haare. Doch mit der Zeit drangen Abweichungen ihres Verhaltens nach aussen. Nachbarn meldeten mir, sie lasse nächtelang im ganzen Haus das Licht brennen. «Hör nicht auf das Geschwätz!», sagte sie unerwartet selbstbewusst. Gab sie früher viel darauf, was die Anderen denken könnten, so kümmerte sie sich jetzt nicht darum. «Ich lebe für mich, ich bin frei.» Als später das Verwirrtsein in ihren dunkelbraunen Augen lesbar wurde, wirkte sie einsam.

      Dennoch, meine Mutter hätte nie etwas anderes gewählt, als weiterhin daheim zu leben. Es waren die verschobenen Vorgänge im Kopf, welche ihr die Autonomie nahmen. In den nächsten Monaten bildete sich ein Versorgungsnetz, um meine Betreuung und Hilfe zu erweitern. Die Spitex koordinierte den Mahlzeitendienst, die Haushaltshilfe und freiwillige Besucherinnen von Pro Senectute, die meiner Mutter Gesellschaft leisteten. Verwöhnt fühlte sich meine Mutter von der Podologin, die nicht nur ihre Füsse pflegte, sondern sich auch um orthopädische Schuheinlagen kümmerte. Das Gehen wurde trotzdem schwieriger, nicht der Füsse oder Beine wegen, sondern weil die Gehbewegungen im Kopf vergessen gingen. Manchmal stand sie unten an der Treppe zwischen Wohn- und Schlafräumen und fragte: «Wie komme ich dort hinauf?» Während ich vorausging und ihr die Schritte vorzeigte, hörte ich sie hinter mir, sich halblaut ermunternd: «Ich war schon immer eine gute Läuferin. Es braucht halt Übung.» – «Wir könnten in der Stube ein Schlafzimmer einrichten.» – «Nein.

      Ich kann das. Oben ist die Aussicht vielversprechend. Du glaubst es nicht, aber ich schaue immer noch jeden Abend auf den See. Jedes Mal ist die Stimmung neu.» Auch gegen das Anbringen eines längst notwendigen Handlaufs wehrte sie sich vehement, das koste zu viel, zur Not rutsche sie auf dem Gesäss rauf und runter. Während Jahren wusste sich meine Mutter in den meisten, auch unerwarteten Situationen zu helfen und scheute keine Anstrengung, um ihr Bild der willensstarken, gesunden Frau zu wahren.

      Lange zu Hause wohnen

      Viele Menschen sind auf häusliche Pflege, Behandlung und Betreuung angewiesen. Die Mitarbeitenden der Spitex versuchen vor Ort herauszufinden, was eine sinnvolle Unterstützung beinhalten sollte. Oft stellen sie fest, dass Gespräche am wirksamsten sind. Wer gut umsorgt wird, fühlt sich besser, geht mit Beschwerden gelassener um und kann, falls nötig, mehr Hilfe annehmen. Aus Sicht der Fachleute liesse sich immer etwas optimieren, doch sie sind zurückhaltend und respektieren die Autonomie der Klientinnen und Klienten.

      Das Zuhause ist immer ein persönlicher Ort. Keiner wie der andere, einmalig wie das hier stattfindende Leben, ausgeprägter im Alter, wenn die Bewegungen bedächtiger werden und den Radius verkleinern. Die selbst eingerichteten Räume und gewachsenen Gewohnheiten gehören zur eigenen Identität – genauso wie die Bezugspunkte draussen, die Birke vor dem Fenster, die vertraute Nachbarschaft, die Wege, die Läden oder das Café, wo man anderen begegnet. Wer wählen kann, wohnt bis ins hohe Alter und möglichst bis zum Lebensende daheim. Viele befürchten, in einem Spital oder Heim fremdbestimmt zu sein und buchstäblich den vertrauten, sicheren Boden unter den Füssen zu verlieren. Die Spitex nennt das Zuhause den «Ort der Würde».

      Eine Studie,13 die auf Befragungen von über achtzigjährigen Spitex-Klientinnen und -Klienten beruht, besagt, dass ältere Menschen eine Bereitschaft zum Risiko zeigen, um wie gewohnt zu leben, selbst wenn sie geschwächt sind. Die Gefahr, zu stürzen, sich zu verletzen oder die eigenen Kräfte zu überfordern, zählt wenig gemessen am Wert der Autonomie und der Angst, nicht mehr sich selbst sein zu können. Lieber ein Risiko eingehen als die Würde aufgeben. In der erwähnten Studie wird von einem alten Mann berichtet, der darauf besteht, seine Kleider selbst zu waschen und zu bügeln, obwohl er unter Schmerzen leidet. Er schildert, wie er sich nach jedem gebügelten Hemd hinsetzen muss, um sich zu erholen. Niemand habe ihm gesagt, er müsse das tun, aber er wolle sich keinesfalls gehen lassen, um nicht so zu werden wie ein Kollege, der schmutzige Hemden trage. Auch wenn die täglichen Aktivitäten viel Energie kosten, bedeutet es Freiheit, sie selbst zu verrichten. Dafür entwickeln vor allem ältere, allein lebende Menschen überraschende Strategien und Tricks.

      Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Älterwerden wird in der Schweiz wesentlich unterstützt durch unzählige neuere Wohnformen, beispielsweise Alterssiedlungen oder Mehrgenerationenhäuser, die sich durch eine hindernisfreie Architektur auszeichnen und wo gemeinschaftliche Aktivitäten und gegenseitige Unterstützung stattfinden oder sogar Betreuungs- und Pflegeangebote vorhanden sind.

      Das reale Leben findet zu Hause statt, nicht im Heim

      Die individuelle Unabhängigkeit zu respektieren und zu stärken, solange die Sicherheit der begleiteten Person nicht ernsthaft gefährdet wird, ist der Spitex ein grosses Anliegen und ein Grundsatz ihrer Arbeit. Wenn jemand seine Medikamente unbedingt selbstständig vorbereiten und einnehmen will, aber offensichtlich mit der Dosierung nicht klarkommt, bemühen sich die Pflegenden, dem Klienten zu erklären, weshalb Hilfe sinnvoll ist. Die betroffene Person zu überzeugen, gelingt am besten, wenn zu ihr bereits eine Beziehung besteht und sie weiss, wie bedeutsam die Spitex für das Leben in der vertrauten Wohnung ist.

      Wie

Скачать книгу