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heute gerne argumentativ verwendeten Worte des französischen Priesters und Theologen Alfred Loisy (1857–1940) kann in zwei kontroverse Richtungen deuten. So wird diese Aussage einerseits dahin interpretiert, dass die Wirklichkeit des von Jesus verkündeten Reiches Gottes von sozial-kirchlichen und somit menschlichen, bewussten und unbewussten Struktur- und Kulturelementen im Laufe der zweitausendjährigen Kirchengeschichte überlagert wurde. Andrerseits – und das war wohl die ursprüngliche Intention31 des gewiss hierarchie-kritischen Modernisten-Theologen Loisy – sah dieser „in der Umwandlung der Reichshoffnung zur Kirche einen legitimen geschichtlichen Vorgang“.32 Diese Worte antizipieren gleichsam die vom Zweiten Vatikanischen Konzil in der Kirchenkonstitution formulierte Ekklesiologie: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Was der Theologe offen kritisierte, war das Nachahmen oder sogar das Kopieren weltlicher Macht- und Regierungsstrukturen durch die Kirche Jesu Christi.33

      Der Fokus dieser Arbeit wird die Kirche, beziehungsweise werden Teilorganisationen dieser Kirche, als „die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft“, also „die sichtbare Versammlung“ (LG 8) sein, deren Betrachtung und Analyse jedoch „die geistliche Gemeinschaft“, nämlich „die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche“ (LG 8) mit ihrem jesuanischen Sendungsauftrag miteinschließen und mitdenken muss. Da die Kirche jedoch nicht diese Welt bedeutet, sondern „sie [die Gläubigen] in dieser Welt auch den Tempel Gottes errichten können“ (GS 21), bedarf es einer authentischen Übersetzung des in der menschlichen Welt Werte-vollen für die Kirche und in diese Kirche hinein, denn „… diese Gemeinschaft [der Kirche erfährt] sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden“ (GS 1).

      Die Erkenntnis der Bischöfe und Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass die Welt mit ihren wahren Werten Lehrmeisterin der Kirche Jesu Christi sein kann, macht der kirchenzentrierten Sicht des 19. und 20. Jahrhunderts ein Ende:

      Mit großer Achtung blickt das Konzil auf alles Wahre, Gute und Gerechte, das sich die Menschheit in den verschiedenen Institutionen geschaffen hat und immer neu schafft. Es erklärt auch, dass die Kirche alle diese Einrichtungen unterstützen und fördern will, soweit es von ihr abhängt und sich mit ihrer Sendung vereinbaren lässt (GS 42).

      Wenn Hugo Rahner seine Rede „am hohen Festtag der deutschen Katholiken“ im Jahr 1956, also sechs Jahre vor dem Beginn des Zweiten Vatikanums, mit dem markanten Satz beginnt „Die katholische Kirche ist ein Haus voll Glorie, weit über alle Lande dieser Erdenwelt“34, schimmert in diesen Worten noch die über alles erhabene und petrifizierte Kirche der Vergangenheit durch, die von der Welt nur Negatives, aber nichts Positives lernen kann.35 Aber schon im Titel dieser später publizierten Ansprache klingt die Realität an: „Die Kirche, Gottes Kraft in menschlicher Schwäche“36, ein Gedanke, den Hugo Rahner dann mit den Worten konkretisiert: „Die heilige Kirche Gottes ist in Kraft ihrer Nachbildung des Herrenleibes hienieden immer beides: Kraft und Schwäche, Glorie und Verächtlichkeit, sie ist Herrin und Magd, thronende Königin und arme Pilgerin.“37

      Es ist einerseits die göttliche Communio, die geistliche Gemeinschaft, die die Kirche mit himmlischen Gaben der Kraft und Glorie beschenkt, und es sind andrerseits das sichtbare hierarchische Gefüge und das organisatorische Gesamtbild hier auf Erden, welche sie, nämlich die aufgrund dieser göttlichen Geschenke geliebte Kirche, in ihrem Denken, Handeln und Zusammenleben bisweilen schwach und verächtlich erscheinen lassen (LG 8). Als Arbeitsinitiativen mit vorläufigem Charakter und ohne Anspruch auf letztgültige Vollständigkeit sollen sechs Bilder aus dem Neuen Testament und somit aus den pastoralen Worten Jesu selbst auf das authentische Leben, also auf den getreuen Kern des Lebens, und wohlgemerkt nicht auf die Struktur der Kirche verweisen. Menschliche Zusammenarbeit in der Kirche und somit pastorale Ausrichtung des Sendungsauftrags Jesu (Mt 28,19) haben ihr Fundament in seinen Worten und Taten, was strikte bedeutet, dass Taten und Worte der Kirche heute, wenn sie glaubwürdig gelebt werden wollen, die Taten und Worte Jesu widerspiegeln müssen.

      Fragen nach der „richtigen“ Organisationskultur und Antworten darauf müssen in allen Facetten „auf dem Niveau des Evangeliums“38 gestellt und formuliert werden. Es ist Überzeugung der christlichen Kirchen, dass sich Gott der ganzen Menschheit räumlich und zeitlich in der Geburt, dem Leben, dem Leiden, dem Tod und dem neuen Leben der Person Jesus geoffenbart hat. Seine Jüngerinnen und Jünger schrieben das Leben ihres Rabbi und ihr Zusammenleben mit ihm nieder, um ihren apostolischen Nachfolgern in ihrer missionarischen Sendung das Erbe Jesu authentisch weiterzureichen. Allerdings ist die Heilige Schrift keine Enzyklopädie für Argumente, wie viele evangelikale oder fundamentalistische kirchliche Gemeinschaften es gerne sehen wollen.39 Die Bibel ist eine Art Roadmap für eine Nachfolge Jesu, die nicht nur Aufgabe des einzelnen „Heiligen“ ist (Röm 16,2; 1 Kor 1,2; Eph 4,3;5,3; Hebr 13,24), wie die ersten Christen genannt wurden, sondern des ganzen Volkes Gottes, das durch Raum und Zeit zum Vater im neuen Jerusalem unterwegs ist (Offb 3,12; 21,10).

      Im Folgenden sollen sechs neutestamentliche Meilensteine organisationskultureller Werte und Verhaltensweisen exemplarisch erläutert werden, die Jesus denen beispielhaft mit auf den Weg geben will, die seine Nachfolge ernst nehmen. Diese biblischen Highlights nehmen Bezug auf die im 5. Kapitel dargelegten Dimensionen einer Organisationskultur: Steuerung, Kommunikation, Leistung, Vertrauen, Wachstum und Identität.

      Steuerung – die Verwandlung der geschockten Jünger

      Nach der Verurteilung durch den Hohen Rat der Juden und der Kreuzigung Jesu durch die römische Besatzungsmacht vor den Toren Jerusalems schien für seine Freunde der Traum eines gemeinsamen Wegs zu Ende gegangen zu sein. Jesus hatte die Frohe Botschaft von der Barmherzigkeit seines Vaters nicht auf die Frommen und die im sozialen Scheinwerferlicht angesiedelten Juden eingeschränkt, sondern auch die am Rand der Gesellschaft Stehenden angesprochen: Aussätzige und Sünder, Dirnen und Zöllner. Dieses Szenario war für die Jünger Jesu unerträglich und sie alle ergriffen die Flucht (Mk 14,15). Sie waren schockiert, ratlos und am Boden zerstört: „Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde“ (Lk 24,21). Dann aber stand er wieder inmitten seiner Jünger, die ihm einen Fisch zu essen gaben (Lk 24,42). Und er begann mit ihnen über das zu sprechen, was mit ihm in Jerusalem geschehen war. Ihre geöffneten Augen (Lk 24,45) waren Voraussetzung dafür, sie zu Zeugen seines neuen Lebens zu machen und sie auf den Weg zu schicken, allen Völkern die Umkehr zu predigen (Lk 24,45-47).

      Nach der Dramatik der Tage in Jerusalem war die Eigeninitiative der Jünger auf null gesunken. Sie verschanzten sich hinter verschlossenen Türen (Joh 20,24-29), bis ihr wieder lebender Freund die Initiative übernahm. Die letzten Worte Jesu, die Johannes in seinem Evangelium berichtete, sind an Petrus gerichtet: „Du aber folge mir nach!“ (Joh 20,22). Damit war es klar, welche Aufgabe Jesus ihm und allen seinen Jüngern übertrug. Sie sollten seine Initiative weitertragen. Der neutestamentliche Exeget Thomas Söding spricht von einem „österlichen Motivationsschub“, der die Geburt der ersten christlichen Gemeinden erst ermöglichte.40

      Die Erzählung der beiden Jünger, die von Jerusalem nach Emmaus unterwegs sind und denen sich auf ihrem Weg ein offensichtlich Fremder anschließt, gipfelt im gemeinsamen Brotbrechen, bei dem ihnen schlagartig die Augen aufgehen und sie in diesem Fremden ihren Freund Jesus erkennen (Lk 24,13-35). Mut- und Ratlosigkeit hatten die beiden in den letzten Stunden in eine Passivität abdriften lassen, die erst im gemeinsamen Essen durchbrochen wurde. Und der Evangelist fügt die Unmittelbarkeit ihrer Initiative an: „Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück …“ (v.33). Kleopas und sein im Evangelium namenloser Freund setzen das spontan in die Tat um, was Jesus ihnen auf dem Weg dargelegt hatte (v.27).

      Der notwendige Wandel von einer passiven Fremd- zu einer aktiven Selbststeuerung41 scheint den Jüngern von Jesus auch

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