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surren, Mikrofone geben Rückkopplung, die Menge raunt, Blitzlichter zucken. Tumult, plärrende Zwischenfragen, heilloses Durcheinander. Frank Finkel tupft sich die Lippen ab und spricht: „Schauen Sie, wir haben alles aufgeschrieben, Punkt für Punkt, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr um Jahr. Und wir haben alles in einen Film gepackt, drum wollen wir nicht länger reden über das Unfassbare, Jungs, lasst uns den Film gemeinsam anschauen, und natürlich auch Mädchen. Der Worte sind genug gewechselt, lasst Taten folgen. Drum: Licht aus! Film ab!“

      Im Projektionsraum geöffnete Filmpropeller. Eine Hand legt letzte Filmschleifen in den Umroller. Die Sicherheitsklappe wird geschlossen, der Starterknopf wird umgelegt. Mit dem typischen sirrenden Rasseln setzt sich die Filmspule in Bewegung und der Lichtstrahl beginnt den Film auf die Leinwand zu werfen. Die Lichter werden gedimmt, als sie ganz verlöschen, öffnet sich der rote Samtvorhang, und der Film beginnt im untergehenden Gemurmel der überraschten Presseleute.

      Im Morgennebel die Statue of Liberty an einem eiskalten Vorfrühlingstag im Jahr 1945. Am Oberdeck zur dritten Klasse der „Serpa Pinto“ stehen Arm in Arm, die kalte Meeresluft als weißen Atem aus Mund und Nase blasend, Franz Finkeldei und Mikesch Miljenko als Kinder von etwa 13 und 15 Jahren. Über ihre Mützen haben sie gegen die Kälte noch einen Schal gebunden, damit sieht es so aus, als hätten sie Mumps oder Ziegenpeter.

      Franz nickt anerkennend: „Aber du hast ja immer daran geglaubt, dass wir es schaffen.“

      Mikesch: „Schmonzes… Ehrlich gesagt habe ich nie daran geglaubt, dass wir es schaffen, aber … das weiß man ja nie…“

      Mit Tuten und Gegengetute der nahenden Schlepper macht die „Serpa Pinto“ auf sich aufmerksam und bahnt sich langsam ihren Weg durch die weit ausladenden Hafenanlagen zum weiter entfernten Anlegerkai, dem Tor für viele Flüchtlinge in eine neue Welt, Ellis Island.

      1941

      Hohenstein, mitten in der Stadt, besser gesagt, dem kleinen Flecken Hohenstein wird Franz Finkeldei auf der Straße von SS-Leuten aufgegriffen und zusammen mit etwa 15 Leidensgenossen in einen feuchten Keller gesperrt. Am Morgen werden alle auf einen vergitterten Leiterwagen, der von zwei Ochsen gezogen wird, geladen. Hintendrein fährt ein weiterer Wagen mit Leichen, hintendrein fährt ein Wagen mit streng riechendem Chlor. In einem Waldstück vor eine Grube wird der Leichenwagen ausgeladen.

      Neugierig sehen die Gefangenen von ihrem Leiterwagen zu. So viele Leichen hat Franz noch nicht auf einem Haufen zusammen gesehen. SS-Leute werfen jede einzelne in die vorbereitete Grube. Als das Chlor über die Toten geschüttet ist, beginnt der Transport sich in Richtung Bahnhof in Bewegung zu setzen.

      BAHNHOF WEINSTEIN

      Am Bahnhof sieht man etwa 1.000 bis 1.200 Menschen, Männer, Frauen, die vor einigen Tagen niedergekommen waren, die mit ihren Babys abgeführt werden, gebrechliche Greise, die man auf Bahren transportiert, Verwundete, kleine Kinder mit Milchflaschen im Arm, etwa 40 Personen werden in einen Güterwagen gepfercht, auf dem rechts auf der Holzwand steht: Ladung acht Pferde. In der Mitte des von außen verriegelten Waggons ein Eimer für die Bedürfnisse der Menschen, der bereits übervoll ist, überläuft und dessen Brühe einen furchtbaren Gestank verbreitet. Jetzt werden die eisernen Jalousien der Oberlichter geschlossen, mit einem ohrenbetäubenden Pfeifen setzt sich der ganze Zug in Bewegung, und die Brühe schwappt wieder über. Später verrichten manche ihr Geschäft direkt in den Waggon, und die Übrigen müssen in diesem Pestgeruch ausharren. Die Reise dauert vier bis fünf Tage. Über unendliche Bahngleise geht es in die ewigen Weiten des Ostens.

      NACH LITAUEN

      Der Gefangenentransport hält zischend und Dampf ablassend. Einfahrt in den Provinzbahnhof der östlichen Grenzstadt Tauroggen im Grenzgebiet zu Litauen. Durch die Schlitze in den Bretterwänden erkennen die Gefangenen Schwestern vom Roten Kreuz, die Versorgungskarren mit belegten Broten, Wasser und Tee über die Bahnsteige schieben, um Soldaten und Wachpersonal zu versorgen.

      Einer fleht: „Schwester! Schwester! Bitte haben Sie ein wenig Wasser für uns?“

      Schwester: „Es gibt für Euch kein Wasser!“

      Und ab schiebt sie mit ihrem Erfrischungswägelchen. Die Augen Franz‘ treffen den Blick des Bittenden, der ungläubig seinen Kopf schüttelt. Das Pfeifen der Lokomotive durchbricht die Stille. Im Pfiff der Dampflokomotive setzen sich die schwarzen Räder wieder in Bewegung. Aus der Ferne, aus den Trichtern der Lautsprecher ertönt Musik in Marschmanier, etwa der „Badenweiler“. Und weiter geht die Fahrt Richtung Osten, Litauen. Aus Tag wird Nacht und Nebel verschluckt die baumelnde Schlusslaterne des Zuges. Im Waggon die dicht gedrängten Menschen, sie können weder liegen noch sitzen, sondern kauern oder stehen in den unmöglichsten Stellungen. Kein Wasser, eine Gluthitze, keine Luft, manche versuchen, mit Taschenmessern die Luftklappen ein wenig zu verbiegen und zu öffnen. Ein Gefangener stirbt an einem Erstickungsanfall. Andere an Herzanfällen. Das Gewimmer und das Surren von Gebeten werden schlimmer. Als der Zug dampfend und schwitzend in Gubinau einfährt, hört man aus den Waggons nur flehentliche Stimmen, die um Luft bitten.

      Ein deutscher Offizier: „Ihr habt das, was ihr verdient!“

      Rot-Kreuz-Schwestern werden wie schon vor Stunden angebettelt. Stimmen aus dem Waggon ertönen: „Bitte gebt uns Wasser!“

      Wieder stehen Franz und der Gefangene am Sichtschlitz. Der Gefangene bittet mit seinen Fingern durch die Lamellen: „Bitte! Gebt mir nur ein wenig Wasser. Wenigstens für die Kinder. Die sind halb tot vor Durst.“

      Schwester: „Ausgeschlossen!“

      Der Gefangene sieht einen deutschen Polizisten am Gleis stehen und bittet ihn: „Herr Schutzmann, schauen Sie hier, bitte helfen Sie uns! Nur ein wenig Wasser, die Schwestern wollen uns nichts geben.“

      Er hat noch nicht zu Ende gesprochen, als eine Pistolenkugel des angesprochenen Polizisten vor ihm in die Ladewand knallt, um ihm den Mund zu stopfen. Der Zug dampft unter Pfeifen und Zischen aus dem Bahnhof heraus, und immer schneller donnert er über die Gleise, vorbei an ewigen Ebenen, dampfenden Mooren und schneebedeckten Weiten. An Ortsschildern wie: Priez Englau, Eytkau und Ragniff. Endlich kommt der Transport um 17 Uhr am darauffolgenden Tag am Bestimmungsort im winterlichen Kaunen an. Kein richtiger Bahnhof ist Ziel des Zuges, nein, in freiem Gelände markieren einige Bahngleise mit Rampen den Halt des Zuges. An der Rampe in Kaunen Schreie, unheimliches Bellen. Der Waggon wird aufgerissen und SS-Leute drängen mit ihren Schäferhunden die Menschen heraus und über allem schneidende, hysterische Laute durch deutsche Befehle und Hundegebell. Mit Gewehrkolbenschlägen, Bajonettstößen, Stockhieben und Hundebissen will man der Menschenmenge Herr werden. Diejenigen, die fallen und nicht mehr aufstehen können, werden von den Hunden zerrissen. Die Toten, die Sterbenden und alle diejenigen, die nicht mehr gehen können, werden auf einen Haufen geworfen. Gepäck und Pakete übereinandergestapelt. Über die letzten Menschen hinweg werden die Waggons bereits ausgespritzt mit eiskaltem Wasser. Manche der Kinder, die ein wenig Wasser abhaben wollen, werden sofort erschossen. Ein SS-Mann wirft ein Kind an den Füßen in die Luft, während ein anderer auf diese lebende Zielscheibe schießt: Als es wieder klatschend auf dem Steinboden aufkommt, ist es bereits tot. Etwas weiter reißt ein SS-Mann ein Baby aus den Armen seiner Mutter und zerreißt es in Stücke, indem er es an einem Bein zerrt und auf dem anderen mit seinem Fuß steht.

      Ein Offizier schreit zur Begrüßung: „Alle müssen sich ausziehen!“

      Ein anderer Offizier trennt die Frauen, Kinder, Greise und Männer an der Rampe. Er hat einen Zollstock und misst die kleinen Kinder durch. Die meisten stempelt er auf Brust oder Schenkel. Die Gefangenen ziehen unter Stockschlägen und Hundebissen nackt und einzeln an dem SS-Offizier vorbei. Mit einem Zeichen des Fingers gibt er die von ihnen einzuschlagende Richtung an. Nach links die Männer zwischen 15 und 45 Jahren und natürlich die jungen Frauen, das heißt die arbeitsfähigen und hübschen Menschen, nach rechts der ganze Rest des Transportes. Frauen und Kinder, Greise, Kranke, die Unnützen, die Unverwertbaren. Franz sieht nach kurzer

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