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Das Flüstern Gottes. Freddy Derwahl
Читать онлайн.Название Das Flüstern Gottes
Год выпуска 0
isbn 9783897109575
Автор произведения Freddy Derwahl
Жанр Религия: прочее
Издательство Bookwire
Weder meine Frau noch meine fünf Kinder, noch meine Freunde und Freundinnen legten mir bei meinen Expeditionen Steine in den Weg. Ich begann zu begreifen, dass meine Lebenskurve auch eine Sehnsuchtskurve war. Der ruhige Gott begann das Leben zu beruhigen. Die stillen Zeichen waren sich sammelnde Orientierungen, für die es schließlich nur eine Richtung gab. Die Reisen mündeten in eine einzige, in eine innere Reise: Ich sollte über das geistliche Leben, das ich selbst nicht geschafft hatte, schreiben, berichten, erzählen und filmen, immer wieder, es ist eine endlose Geschichte, die Antwort auf eine Berufung mit anderen Mitteln.
So habe ich über Jahrzehnte hinweg Klöster, Abteien, Mönche und Einsiedler besucht. Zunächst die Trappisten in Mariawald, meine erste Liebe. Dann in Belgien die Abteien Chevetogne, Rochefort, Orval, Val-Dieu, das luxemburgische Clervaux, in den Niederlanden Benedictusberg, im bevorzugten Frankreich fast alle Zisterzienserklöster, im baskischen Spanien La Oliva, in Italien die Camaldoli, in Griechenland mehrmals den Heiligen Berg Athos, in Rumänien die Moldauklöster, in Ägypten die Wüsten- und Einsiedler-Regionen, in den USA Genesee Abbey und schließlich in Algerien das Kloster der sieben ermordeten Mönche in Tibhirine sowie den letzten Überlebenden Frère Jean-Pierre am Hohen Atlas im marokkanischen Midelt.
Ich sprach mit den ganz Alten und den ganz Jungen, mit Äbten und einfachen Brüdern, mit Kranken und Sterbenden, mit Wissenschaftlern und Künstlern, mit Eintretenden und Gescheiterten, mit Einsiedlern und ihren Schülern und nicht zuletzt mit Nonnen und Schwestern. Vielleicht waren die Frauen in ihrer sensiblen Nachdenklichkeit die dankbareren Gesprächspartner. Ob steinalt gebeugt oder blutjung, da war immer Zuhören und Verständnis, die ich als mütterlich empfunden habe.
Dabei sind viele Tagebücher, Reisenotizen, Bücher, Bildbände und Fernsehreportagen entstanden. Immer war alles anders und doch ging es allein um das Eine: Gottessuche, Gottesnähe, Gottesstille, der leise, der flüsternde Gott. Eine amerikanische Reklusin schrieb, manchmal, wenn sie die tiefste Stille erreiche, „höre ich ihn hinter meinem Rücken“. Ob ich diese Stille gehört habe, weiß ich nicht. Doch hörte ich, wie andere sie hörten.
Bei der Suche nach der elementaren Begegnung habe ich auch einzelnen heiligen oder heiligmäßigen Männern und Frauen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die an sie gerichtete Stimme Gottes verstummt, selbst kaum hörbar, nicht. Sie schwebt nach wie ein Lobpreis der Lebensüberwindung. Die Mystikerin und Patronin Europas Teresa von Avila in schmerzlicher Verlassenheit, der Wüsteneinsiedler Charles de Foucauld beim tödlichen Angriff auf Tamanrasset, der belgische Blutzeuge Jean Arnolds auf dem Schafott der Nazis und zur Jahrtausendwende die sieben „Schlafenden“ auf dem Klosterfriedhof von Tibhirine. Sie alle lassen, nach ihrem dramatisch beendeten Leben, weiter aufhorchen.
So bin ich sehr dankbar, dass ich bei diesen intimen Gesprächen herausragender Menschen mit Gott ein Zeuge sein durfte. Ein überall wie ein Freund willkommener Begleiter durch geistliche Landschaften auf meist unbegangenen Wegen. Eigentlich liegt da der tiefere Grund der Entstehung dieses Buches: Die Kraft und die Freude des Glaubens an Gott den Menschen mitzuteilen: vor allem den Suchenden, den an ihm Leidenden oder nichts von ihm wissen Wollenden.
Freddy Derwahl
Eupen, am Aschermittwoch 2021
Die Wälder waren, nach dem gütigen morgendlichen Lächeln meiner Mutter, mein erstes Erlebnis auf Erden. Eine Mischung aus Freiheit und Furcht. An sich eine Gotteserfahrung. Ich spürte große Stille, große Weite. An den Rändern verbreitete die Moorlandschaft des Hohen Venn eine Ahnung von Abenteuer, eine Sehnsucht nach Nähe und Ferne. Vielleicht sogar nach mehr. Sie bleibt für immer.
1. In den Wäldern
Dem Wald war nicht zu trauen. Finster verlief seine Grenze dicht am Rand der ostbelgischen Stadt Eupen. Sie lag vor den Wäldern, es war nur eine kleine Distanz, doch herrschte Spannung. Die Tannen standen hoch aufgerichtet, fast eine Wand, auf die man schaute, und manchmal war es, als starrten daraus Augen zurück. Nachts vermischte sich ihre Front mit dunklen Wolken oder dem Sternenhimmel. Kamen die Stürme, wurden sie bedrohlicher, fiel das Mondlicht auf die Zweige, glich der Schein einem unheimlichen Signal aus der Höhe. Eine Blockhütte stand einsam beim Dickicht, eine Kanzel beugte sich zwischen alten Buchen über dem Abhang, unten im Tal rauschte der Fluss, die Hill. Ihr Name klang hell und schnell, ihre Quelle lag oben im Moor, nahe einer alten Römerstraße im Hohen Venn. Andere Reviere, Wege und Bachläufe hießen Eiterbach, Blutacker oder Schwärzfeld, Unruhe stiftende Namen. Sie haben meine Kindheit geprägt, da war schon früh ein Herzklopfen, vom Wald ausgelöst, zugleich Wildnis und Märchenwald, Zuflucht und Verlies, großer Respekt.
Unsere Wälder reichten bis tief hinab in die Vogesen und erstreckten sich immer mächtiger über die Ardennen, bis sie an der belgisch-deutschen Grenze in ein grünes, nahezu heiteres Wiesen- und Heckenland übergingen. Bei den Wanderungen der Jugendgruppe machten wir uns das, was wir als Heimtücke gefürchtet hatten, vertraut. Doch als Fälle von Freitod an der Talsperren-Mauer bekannt wurden, die Mordkommission nach Gewaltverbrechern fahndete und unter Einsatz von Militär im winterlichen Wald Verirrte gesucht wurden, kehrte das Gefährliche dieser Landschaft zurück. Zwei Kinder verliefen sich im Hilltal und wurden erst nach Tagen von einem Holzfäller entdeckt. Zugeschneite Höfe mussten mit einem Nothubschrauber versorgt werden, die Tollwut der Füchse und die Wildschweinpest brachen aus.
Schlimmer als der „Schwarze Mann“ war die Weite der Wälder. Als ein verheerender Brand in einer Sommernacht große Flächen vernichtete, waren die Feuerwände, wie ein Fanal, bis auf der Straße Kaiser Karls des Großen von Aachen nach Lüttich sichtbar. Das Wild flüchtete in die tieferen Reviere. Die Gefahr blieb bis zum nächsten starken Regen bestehen, jederzeit konnte der Wind die Funken im glühenden Torfboden wieder anfachen.
Als letztes Jahr erstmals ein Wolf im Großen Moor auftauchte, löste das Bild, das einem Meister-fotografen gelungen war, einen Schock aus. Tief in den Menschen dieser Landschaft sitzt immer noch eine Spur jener Furcht aus Kindertagen, die ihnen von den Märchen der Brüder Grimm und von alten Legenden eingeflüstert wurde. Der Mythos Wolf verkörperte alles, was man sich hier an drohender Gefahr vorstellen konnte.
Doch war da auch eine völlig andere Seite, die in den Bann zog: die Schönheit, die Stille und Unberührtheit der Wälder. Wer den Weg unter den Buchen des Soortales hinauf stieg, spürte den Hauch einer anderen Zeit. Auf federndem Boden ging es ins Weglose. Das Pfeifengras im Hohen Venn bog sich im Herbstwind ockerfarben wie Savanne. Heidekraut und Birken säumten die Uferpfade. Pilze, Blau- und Preiselbeeren wurden gesammelt. In den Gräben sickerte das rote Torfwasser. Im späten November fiel der erste Schnee und verwandelte die unsichere Landschaft in einen glitzernden Hinterhalt. Kam Nebel auf, verschwand die Welt. Ging am Kreuz der Verlobten die Sonne unter, tauchte sie die Stätte des tragischen Todes eines jungen Paares in das Licht eines sakralen Ortes. Im Frühjahr blühten Narzissen und Wollgras. Dann wagte sich das junge Rotwild aus dem Dickicht, beim geringsten Geräusch die Lauscher gespitzt, die feuchten Riecher in die Windrichtung, die nicht trog und die Muttertiere mit ihren Kitzen in eleganten, federleichten Sprüngen zurück in die Verstecke trieb. Die Stille kehrte zurück und nur noch die Vennbäche, die von der ehemaligen Baraque Michel und der Eifelgrenze zu Tal eilten, verrieten mit ihrem monotonen Rauschen die Wegstrecke. Ihr im Altweibersommer zu folgen, war ein grandioses Erlebnis, die Waldgänge führten auf Holzwegen ins Unbegangene.
Die Stille der Wälder war gewaltig. Sie wirkte wie ein Schock. Auch ihr traute man alles zu, so als beginne an ihren Nahtstellen ein unheimlicher Bezirk. Unsere Kinderphantasie malte sich darin eine rückzugslose Tiefe aus, die Welt hatte ihr letztes Wort gesprochen. Kein Wort mehr, kein Wort. Selbst wenn die hohen Tannen eine Handbreit Himmel freigaben, auf dem der Kondensstreifen eines Flugzeugs verkümmerte, drang der Düsenlärm nicht bis in die Tiefe. Am Rand des Verlorenseins nur Waldesstille, die im Spiel des Windes ihre tieferen Schichten preisgab. Noch ein Grillengezirp,