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Ein Quantum Zeit. Volkmar Jesch
Читать онлайн.Название Ein Quantum Zeit
Год выпуска 0
isbn 9783831257713
Автор произведения Volkmar Jesch
Жанр Математика
Издательство Bookwire
Passiert das mit weiteren Büchern, ist plausibel, dass mit jedem Vorgang die Unordnung im Bücherreal zunimmt. Wie schnell und in welchem Umfang der Grad der Unordnung aber zunimmt, ist immer wieder erstaunlich.«
Er machte eine kurze Pause, bevor er zum Kern des Problems vorstieß: »Wenn wir die möglichen Zustände der Bücher etwas detaillierter betrachten, sollte es uns gelingen, den Grad der Unordnung zu spezifizieren. Wird durch das segensreiche Wirken der Reinemachfrau das erste Buch aus dem Regal genommen, gibt es, so unsere Annahme, zwölf Möglichkeiten, wohin es nach dem Abstauben wieder gestellt werden kann, denn das Buch muss ja nicht an die gleiche Stelle zurückgeschoben werden. Das sind die möglichen Zustände, die das eine Buch im Regal einnehmen kann. Wir können damit den Grad der möglichen Unordnung für das eine Buch mit der Zahl zwölf genau beziffern. Soweit ganz einfach und übersichtlich.
Das Problem ist nur, dass es bei weiteren Vorgängen mit der Übersichtlichkeit schnell dahin ist. Werden zwei Bücher herausgenommen und irgendwo wieder zurückgestellt, sind es schon 132 Möglichkeiten einer unterschiedlichen Anordnung, nämlich zwölf Möglichkeiten für das erste Buch, multipliziert mit den elf Möglichkeiten für das zweite Buch. So geht das in Riesenschritten weiter. Bei drei Büchern sind es 1.320 Möglichkeiten und bei der doppelten Anzahl von sechs Büchern bereits die sagenhafte Zahl von 665.280 Möglichkeiten.
Wollen wir den Grad der maximalen Unordnung für diese kleine Bücherreihe mit zwölf Büchern bestimmen, sind wir bei 479 Millionen Möglichkeiten. Maximale Unordnung kann also in der Anzahl aller möglichen Zustände, die eingenommen werden können, ausgedrückt werden.«
»Puh«, sagte sie. Auch in ihrem Kopf wirbelten irgendwelche Teilchen wie wild hin und her. Sie musste von diesen hohen Zahlen wieder runterkommen. Obwohl sie beeindruckt war, konnte sie es sich nicht verkneifen, das Beispiel als irreal abzutun: »Von wegen segensreiche Tätigkeit. So eine schusselige Putzfrau gibt es doch gar nicht. Und selbst wenn, macht sie diesen Job nicht lange. Ich würde dem Hotel empfehlen, sie hochkantig rauszuwerfen. Dann bleiben die Bücher so, wie sie sind. Nix mit Unordnung. Ganz im Gegenteil. Dann lagert sich eben Staub auf den Büchern ab, schön gleichmäßig und ordentlich.«
»Sie können die zunehmende Unordnung nicht durch Nichtstun aufhalten«, warf er ein. »Der Schein trügt, wenn sie eine ordentliche Verteilung des Staubes annehmen. Sie müssen das globaler sehen. Durch das Absetzen des Staubes auf den Büchern hat dessen Unordnung in der Welt insgesamt zugenommen.«
Sie wollte einhaken, er ließ es aber nicht zu.
»Wir können putzen, so oft wir wollen, immer wieder wird sich Staub ablagern, selbst wenn wir ein Zimmer nicht betreten. Denn die Unordnung nimmt immer zu. Es ist zwar nicht unmöglich, dass sämtliche Staubpartikel in einem Zimmer durch das Schlüsselloch verschwinden, doch statistisch gesehen ist das extrem unwahrscheinlich. Schade eigentlich. Bis dieser Zustand der Ordnung hergestellt ist, muss man viel länger warten, als das beobachtbare Universum existiert.«
Beeindruckend, welche Überlegungen er anstellt, dachte sie. Wie konnte man überhaupt auf die Idee kommen, dass sich alle Staubpartikel durch das Schlüsselloch wieder verkrümeln? Sie hätte das für unmöglich gehalten. Er hielt das nur für unwahrscheinlich, allerdings für extrem unwahrscheinlich.
Wieder der Begriff der Wahrscheinlichkeit, mit dem er sie konfrontierte, dieser … dieser Wahrscheinlichkeitsjunkie. Sie lächelte. Diese Charakterisierung gefiel ihr. Offensichtlich war er Statistiker oder hatte einen ähnlich langweiligen Beruf.
Sie wusste gar nichts über ihn. Ein unmöglicher Zustand. Aber wahrscheinlich ergab sich bald die Möglichkeit, ihn etwas auszufragen. Sie lächelte. Vielleicht bekam sie auch ohne direkte Frage mehr über ihn heraus. Und listig, wie sie meinte, fragte sie ihn: »Und wie kann man die Wahrscheinlichkeit berechnen?«
»Zunächst ganz einfach, bei komplexen Vorgängen helfen dann statistische Betrachtungen«, antwortete er. Sie triumphierte. Im Berufe raten war sie immer gut gewesen.
Er bekam von ihrem Gefühlsausbruch nichts mit. Mit ihrem Einwurf verband er eine ganz andere Wahrnehmung: »Sie werden gleich sehen, dass uns die Frage nach der Berechnung der Wahrscheinlichkeit enorm weiterbringt, weil wir genauer verstehen werden, wie sich die Welt in Richtung Zukunft entwickelt. Ein vertieftes Verständnis dafür hilft uns, zu begreifen, was es bedeutet, wenn wir diesen Vorgang wieder rückgängig machen wollen, um in die Vergangenheit zu gelangen.
Also, worum geht es? Es geht darum, dass das Fortschreiten der Gegenwart durch die Grundsätze der Wahrscheinlichkeit bestimmt wird, wenn es aus dem Bereich der möglichen Geschehensabläufe einer Möglichkeit gelingt, den Sprung in die Realität zu vollführen, wie wir besprochen haben. Und die Wahrscheinlichkeit kann man berechnen, wenn man sie in Beziehung zur maximalen Unordnung setzt.«
Er machte eine kurze Pause, um den letzten Satz wirken zu lassen. Sie schaute zunächst etwas verdutzt, aber nicht lange.
»Wie sind Wahrscheinlichkeit und Unordnung verknüpft?«, fuhr er fort. »Eigentlich ist die Beziehung ganz banal, und sie ist uns bewusster, als wir gemeinhin annehmen. Denn je größer die Unordnung ist, umso unwahrscheinlicher wird es, dass wir einen bestimmten Gegenstand finden. Oder anders gesagt: Wenn die Anzahl der Möglichkeiten steigt, die als Nächstes passieren können, dann nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, dass genau eine bestimmte Möglichkeit als Nächstes realisiert wird.«
Das kam überraschend, war aber irgendwie simpel. Wer Ordnung liebt, ist nur zu faul zum Suchen, dachte sie. Und unwahrscheinliche Dinge passieren eben selten. Aber bestimmt war das noch nicht alles an Erklärung, wenn er so bedeutungsvoll schaute. Die Sätze schienen eine fundamentale Bedeutung zu haben, was ihr bislang entgangen war. Das wirklich Fundamentale kam auch gleich.
»Man muss etwas näher hinschauen, damit die Beziehung zwischen Wahrscheinlichkeit und Unordnung Konturen gewinnt«, sagte er. »Bleiben wir bei unserem Beispiel mit den Büchern. Wenn bei 12 Büchern eines herausgenommen wird, kann der maximale Grad der Unordnung durch die Zahl 12 charakterisiert werden. Das ist die Anzahl aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, denn es gibt 12 Möglichkeiten, das Buch wieder in die Reihe einzusortieren.
Der Kehrwert dieser Zahl, nämlich 1/12, beschreibt nun die Wahrscheinlichkeit dafür, dass beim Zurückstellen des Buches eine dieser möglichen 12 Möglichkeiten ausgewählt wird. Die Wahrscheinlichkeit, dass die unachtsame Reinemachfrau das erste Buch an einer ganz bestimmten, beliebig ausgewählten Stelle wieder einsortiert, beträgt demnach 1/12.«
Sie war verblüfft. Wahrscheinlichkeit war die Umkehrung der Unordnung und umgekehrt? Dass höchstmögliche Unordnung und Wahrscheinlichkeit dergestalt verbunden waren, hätte sie nicht gedacht. Sie grübelte.
Er hatte recht, natürlich. Wenn man einen Würfel warf, war die Wahrscheinlichkeit die 6 oder irgendeine bestimmte andere Zahl zwischen 1 und 6 zu würfeln, genau 1/6. Denn es standen maximal 6 Möglichkeiten zur Verfügung.
»Wenn die Putzfrau zwei Bücher herausnimmt und irgendwo wieder einsortiert«, fuhr er fort, »gibt es 132 Möglichkeiten, wie wir wissen, also ist die Chance, dass beide Bücher irgendwo an einer bestimmten Stelle wieder einsortiert werden 1/132. Bei drei Büchern ist die Chance bereits 1/1.320, und so geht das durch die rasant zunehmende Anzahl von Möglichkeiten in Riesenschritten weiter in Richtung zunehmende Möglichkeiten oder anders gewendet in Richtung ansteigende Unordnung.
Bei dieser Betrachtung müssen wir unterstellen, dass die Putzfrau die Bücher wirklich irgendwo einsortiert und sich nicht an irgendeine Vorgabe hält. Aber das wollen wir für unsere Überlegung einmal tun, ihr dafür danken und sie nicht gleich entlassen.«
Sie lächelte und sagte: »Jetzt verstehe ich auch, dass es so unwahrscheinlich ist, dass 32 Spielkarten allein durch Mischen wieder ihre Ausgangsordnung erreichen.«
»Weil nahezu alle Gegenstände in der Welt in Bewegung sind«, fuhr er fort, »ist es