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eigenen Entscheidung stehen

      Schon einmal in meinem Leben habe ich in mir einen Ruf gespürt, der nicht in den vorgesehenen Rahmen im Orden passte: Als junger Mann und Priester wollte ich unter Arbeitern leben.

      Damals war die Zeit der 68er, die eine neue Sicht auf die Gesellschaft ermöglichte. Dazu gehörten die Diskussionen über den Krieg und das Dritte Reich. Von den Nazis praktizierte Methoden, wie die zwangsweise Heimerziehung oder die Ausgrenzungen psychisch Kranker und Strafgefangener, die auch nach Kriegsende weiter gang und gäbe waren, konnten infrage gestellt werden. Weltweit erkämpften sich Kolonien ihre Selbstständigkeit, und in der Kirche hatte das Zweite Vatikanische Konzil mit vielen festgefahrenen Vorstellungen aufgeräumt und neue Perspektiven eröffnet. Theologievorlesungen auf Latein wurden ebenso abgeschafft wie Gottesdienste, die von Priestern mit dem Rücken zur Gemeinde gefeiert wurden. In dieser Zeit des Aufbruchs, doch noch unter der Glocke des Kalten Krieges, durfte ich studieren. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich den Lehrstoff mit relativ wenig Aufwand bewältigen und dadurch ausführlich meinen eigenen Fragen nachgehen konnte.

      Im zweiten Jahr meines Philosophiestudiums fragte mich mein Freund Michael Walzer in München auf einem Spaziergang während einer Vorlesungspause, ob ich mit ihm in einer Fabrik eine manuelle Arbeit suchen wolle. Er war in einem Dorf aufgewachsen und hatte erlebt, wie sich die Schüler und Lehrlinge nach der Grundschule sortierten: Die einen besuchten das Gymnasium und saßen auf der Fahrt in die Stadt vorne in der Straßenbahn; die anderen gingen zur Hauptschule und später in die Lehre und saßen hinten. Der Kontakt war unterbrochen, die gesellschaftliche Kluft wurde eingeübt. Michael wollte diesen Graben zwischen bürgerlich geprägten Menschen und Arbeitern überwinden. Ich sagte, ohne eine Minute zu zögern, Ja. Ich wollte mit ihm gehen. Sieben Jahre mussten vergehen, bis wir unser Vorhaben verwirklichen konnten. Als wir damals unser Anliegen im Orden vortrugen, gab es noch kein offenes Ohr dafür. Dennoch haben wir unsere Idee nicht verworfen, sondern weiter damit gelebt. Ich machte den Lkw-Führerschein und jobbte während meines Theologiestudiums in Frankfurt einmal in der Woche als Umzugshelfer. Jeden Donnerstag stand ich morgens mit in der Reihe der Kollegen vor einer Umzugsfirma und wartete auf Arbeit. Wir waren alle Tagelöhner, die meisten meiner Kollegen hatten schon einmal im Gefängnis gesessen. Auf dem Weg zu dieser Arbeit bin ich 20 Minuten Straßenbahn gefahren und habe im Neuen Testament gelesen. In diesen 20 Minuten war mir, der ich Theologie studierte und im Verstehen und Auslegen trainiert war, die Frohe Botschaft Jesu näher als je zuvor. Ich habe die Verbindung zu meinem Leben gespürt, in den Texten Fragen gefunden, die ich mir auch stellte, und gemerkt, dass ich nicht der Erste war, der sich mit solchen Erfahrungen auseinandersetzte. So wurde mir eine weitere Tür geöffnet, an der ich nicht vorbeigehen konnte. Wenn ich die Bibel nicht nur als Studienbuch wahrnehmen wollte, musste ich sie mit meinen Erfahrungen von Ausbeutung, Ausgrenzung und Verachtung zusammenbringen.

      Auch die Beschäftigung mit der Theologie der Befreiung, wie sie damals in Lateinamerika praktiziert wurde, ermutigte mich. Sie bildete den Schwerpunkt in meinem Studium. Ungerechtigkeiten wie die Teilung der Menschen in Arme und Reiche sind in ihr nichts Gottgewolltes, sondern entsprechen dem materiellen Interesse einzelner Menschen und Gruppen.

      Um einen Weg aus der Verelendung zu finden und um auch als Ausgeschlossene aus dem Evangelium heraus christlich zu leben, bildeten Lateinamerikaner selbst organisierte Basisgemeinden. Mit ihnen wollte ich in meiner europäischen Welt solidarisch sein, erzählte von dieser Bewegung in Vorträgen, unterrichtete Religion in Berufsschulen und suchte nach Wegen, Ähnliches zu wagen. In den Semesterferien ging ich weiter arbeiten, einmal auch mit Michael in Bottrop. Besonders gegenwärtig aus dieser Zeit ist mir ein Erlebnis in einem großen Kohlenbunker. Dort arbeitete ich mit zwei türkischen Kollegen zusammen, und zur Frühstückszeit setzten wir uns einfach irgendwo in den Staub. Die beiden Kollegen brachen ihr rundes Brot in Stücke und gaben auch mir etwas ab. Ich nahm das Brot und aß davon. Bis heute lebe ich aus der Erinnerung an dieses spontane Brotbrechen, wie es der auferstandene Jesus mit den beiden Jüngern in Emmaus getan hat. Im Lukasevangelium wird erzählt, wie sie ihn dabei plötzlich in dem vermeintlichen Fremden erkannten und sich erinnerten, wie ihr Herz gebrannt, als er mit ihnen auf dem Weg gesprochen hatte (Lukasevangelium 24,32). Ich hatte nun in dem Kohlenbunker selbst ein Abendmahl mit Jesus erlebt, wie es in der Kirche gefeiert wird.

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      Europäisches Treffen der Arbeiterpriester 2007 im Tempel in London

      In dieser Zeit lernten wir auch andere Arbeiterpriester kennen, die ähnlich wie wir eine manuelle Arbeit gesucht hatten und mit Arbeitern leben wollten. Die Freundschaft zu Gleichgesinnten half uns, an unserer Hoffnung auf den gemeinsamen Weg festzuhalten und diese auch vor anderen auszusprechen. Und so gab es einige Zeichen, die uns bestärkten, abzuwarten, bis die Zeit reif für unser Anliegen sein würde. Der Kreis der Arbeiterpriester hat sich in Deutschland später erweitert und umfasst jetzt Frauen und Männer aus verschiedenen Kirchen, die einen solchen Schritt in manuelle Berufe gewagt haben. Heute heißen wir Arbeitergeschwister.

      Am Ende meines Studiums lud mich ein befreundeter französischer Arbeiterpriester, der während meines Studiums in Deutschland in einer Fabrik beschäftigt gewesen war, in seine neue Jesuiten-Kommunität in Toulouse ein. Mit dieser Einladung ging ich zu meinen Ordensoberen und brachte mein Anliegen erneut vor. Ich wurde nicht mit offenen Armen empfangen. Gefängnisseelsorge war für mich vorgesehen. Ich beharrte auf meinem Wunsch und schlug vor, dass auf der bevorstehenden Weltversammlung der Jesuiten ein Gespräch mit einem französischen Arbeiterpriester geführt werden sollte.

      In dieser Zeit eines weltweiten Umbruchs brachte die Kongregation eine entscheidende Weichenstellung für den Orden: »Einsatz für Glaube und Gerechtigkeit« – so wurde die Identität der Jesuiten 1975 neu formuliert.

      »Oft schon unsere Herkunft, dann unsere Studien und unsere Bindungen schirmen uns von der Armut ab, selbst vom einfachen Leben und seinen täglichen Sorgen. Wir haben Zugang zu Wissen und Macht, wie ihn die meisten Menschen nicht haben. Es wird darum nötig sein, dass eine größere Zahl der Unsrigen das Los der Familien mit bescheidenem Einkommen teilt, das heißt das Leben derer, die in allen Ländern die Mehrzahl bilden und oft arm und unterdrückt sind.«

      In anderen Ländern der Welt lebten Jesuiten bereits in dieser Nähe zu Ausgegrenzten, nur in Deutschland gab es solche kleinen Gemeinschaften (Kommunitäten) noch nicht. Ich wurde nach der Rückkehr von dieser Weltversammlung gefragt, ob ich immer noch donnerstags arbeiten ginge, und als ich bejahte, war die Entscheidung für Frankreich gefallen. Fortan stellte ich mich der Frage, wie wir diese Perspektive in die Wirklichkeit umsetzen könnten? Wir suchten kein Engagement für Arbeiter, Gefangene oder Kranke, sondern wurden selbst Arbeiter, um mit den Kolleginnen und Kollegen nach mehr Gerechtigkeit zu suchen. So wurde auch mein persönlicher Lebensweg in der Gemeinschaft mit Arbeitern möglich.

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      Mit den Gästen aus Frankreich ins Gespräch treten

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