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Ein Argument in diesem Zusammenhang lautet: Da Missbrauchsüberlebende durch körperliche Berührung verletzt wurden, wird jede weitere Berührung zu weiterem Schaden führen. Jim Struve hat darauf hingewiesen, dass mit gleicher Berechtigung das Sprechen mit Missbrauchsüberlebenden unterbunden werden kann, da Überlebende in der Regel auch durch Worte verletzt worden sind.* Worte und Berührungen sind natürliche Elemente menschlicher Kommunikation. Entscheidend ist, ob sie unterstützend und heilend verwendet werden oder nicht.

      Wenn über Berührung gestritten wird, geht es vor allem um die Frage der Retraumatisierung. Überlebende und Therapeuten eint die Befürchtung, dass Menschen, die ein physisches Trauma erlitten haben, durch die Arbeit mit körperlichen Herausforderungen und Angriffen erneut traumatisiert werden könnten. Kurzum: Sie werden durch einen Angriff nicht traumatisiert. Unterliegen traumatisiert – Siegen ist heilend!

      Souveränität markiert die Grenzlinie zwischen neuer Verletzung und Heilung. Wenn sich Klienten durch Berührung und Selbstverteidigungstraining innerlich sammeln, erfahren sie das eher als Triumph denn als Trauma. Das Gefühl, erfolgreich zu sein, dieses Mal siegen zu können, schafft Erleichterung, Freiheit und Heilung. Es ist weniger ein einzelnes Ereignis, das traumatisiert, sondern die Machtlosigkeit, die Hilflosigkeit und der Schmerz, die ein Opfer erlebt. Stellen Sie sich vor, Sie fallen ins Wasser. Ist das traumatisierend? Ja – wenn Sie nämlich nicht schwimmen können. Schwimmen Sie hingegen gut, dann macht Ihnen das, was für einen anderen Menschen traumatisierend ist, vielleicht sogar Spaß. Das Problem besteht nicht darin, angegriffen, sondern darin, überwältigt zu werden. Sobald Sie feststellen, dass Sie erfolgreich mit Berührungen, körperlichen Herausforderungen und Angriffen umgehen können, beginnen sich die Verfestigungen alter Traumatisierungen aufzulösen.

      Die Heilung begleiten

      Falls Sie professionell oder im Rahmen einer Selbsthilfegruppe als Gruppenleiter agieren, sollten Sie sich ihrer Fähigkeiten wie auch der Grenzen Ihrer Kompetenz und Wahrnehmungsfähigkeit bewusst sein. Leiten Sie nur Übungssequenzen an, bei denen Sie die Sicherheit der Teilnehmer gewährleisten können. Die Übungen und Trainingsziele, die ich Ihnen in diesem Buch vorlege, stehen für sich selbst und können ohne weitere Vorbereitung oder Ausbildung angeleitet und erreicht werden. Und wieder gilt: Sollten Sie sich unsicher fühlen, ob Sie bestimmte Sequenzen anleiten können, sollten Sie zweifeln, ob die Gruppe genug Ressourcen zur Bewältigung einer Übung hat, oder selbst bei einer bestimmten Thematik nervös werden, dann verzichten Sie darauf, ziehen Sie sich von dem Thema zurück. Wenn ein bestimmtes somatisches Übungselement schwierig für Sie ist, kann es sinnvoll sein, eine Zeit lang Unterricht in einer Methode zu nehmen, in der Körperselbstwahrnehmung ein zentrales Thema ist. Vielleicht besteht auch die Möglichkeit, an einem BIM-Training oder dem Training einer anderen somatischen Disziplin teilzunehmen. Hinweise auf die BIM-Ausbildung finden Sie am Anfang dieses Buches.

      Holen Sie sich das Einverständnis der Menschen ein, mit denen Sie arbeiten, bevor Sie irgend etwas tun. „Darf ich Ihren Bauch berühren?“ „Ist es in Ordnung, wenn wir daran arbeiten, Ärger durch Ruhe zu ersetzen?“ Missbrauchsüberlebende haben massive, gewalttätige Grenzüberschreitungen erlebt, und es ist äußerst wichtig, sie jedes Mal über das aufzuklären, was Sie vorschlagen. Nur wenn Sie die ausdrückliche Erlaubnis Ihrer Klienten erhalten, sie zu berühren oder anders mit ihnen zu arbeiten, dürfen Sie anfangen.

      Behalten Sie auch vor Augen, dass, nur weil eine Person Ihnen eindeutig und ausdrücklich etwas Bestimmtes erlaubt hat, es sich keineswegs um eine wirkliche Erlaubnis handeln muss. Missbrauchsüberlebende sind gut darin geübt, zuzustimmen und zu verstummen. Sie sind darauf trainiert, Menschen mit Macht zu erlauben, sie zu benutzen. Manchmal wird Ihnen jemand die Zustimmung zu Berührungen oder Übungssequenzen geben, weil er oder sie denkt, zum Mitmachen verpflichtet zu sein. Manchmal wird ein Missbrauchsüberlebender erst in der Lage sein, Nein zu sagen, wenn er den Schritt, zu dem er seine Zustimmung innerlich vorher nicht gegeben hatte, tatsächlich bewusst und gewollt gegangen ist. Manchmal wird jemand alle Stufen des Prozesses durchlaufen und gleichzeitig innerlich so perfekt von dem, was passiert, abgetrennt sein, dass Sie die Person mit Ihren Interventionen innerlich gar nicht erreichen, ohne es selbst wahrzunehmen. Ich bin mit diesem Problem nur selten konfrontiert, aber es ist wichtig, dass Sie sich dieser Möglichkeit bewusst sind. Gehen Sie langsam und sorgfältig vor, das ist letztlich alles, was Sie tun können.

      Erinnern Sie sich bitte: Sie müssen kein Experte sein, wenn Sie die BIM-Übungen anleiten wollen. Vieles aus meiner Praxis lässt sich nicht einfach aufschreiben, aber das, was in diesem Buch zu lesen ist, können, dürfen und sollen Sie verwenden. Sie müssen nicht das gesamte Material beherrschen, bevor Sie einen Teil davon nutzen. Wenden Sie das an, was Ihnen zugänglich ist, alles Weitere wird sich Ihnen im Laufe der Arbeit erschließen.

      Außer sich Fallbeispiel

      Martha war außer sich, als Sie in die Praxis kam. Ein Paar Tage nach unserer letzten Sitzung war ihr klar geworden, dass sie meine Interventionen als Übergriff erlebt hatte, und war nun wütend auf mich. (In der vorhergehenden Stunde hatten wir Möglichkeiten erkundet, wie sie sich sammeln und zentrieren konnte und so die Kontrolle über ihre Grenzen aufrechterhielt. Martha war als kleines Kind sexuell missbraucht worden. Nachdem ich ihre Erlaubnis zu einem verbalen Experiment eingeholt hatte, sagte ich, ich würde ihr einen Finger in die Muschi stecken. Sie hatte die Aufgabe, gleichmäßig zu atmen, ruhig zu bleiben und laut und deutlich „Nein“ zu sagen.)

      Ich fragte Sie, was genau sie als Übergriff erlebt habe. Nach längerem Zögern fiel ihr die Antwort immer noch schwer, es war der Moment gewesen, in dem ich das Wort „Muschi“ benutzt hatte. Ich bat sie, das Wort „Übergriff“ zu erklären, und gemeinsam fanden wir eine Definition: Es handelt sich um einen Übergriff, wenn man wider den eigenen Willen einem verletzenden Zwang oder Druck oder einem Einfluss irgendeiner Art zum Nutzen der Person, die diesen Zwang anwendet, ausgesetzt ist.

      Als Martha danach mein Verhalten logisch und leidenschaftslos betrachtete, war ihr schnell klar, dass ich sie weder körperlich verletzt hatte noch irgendeinen persönlichen Nutzen aus der fraglichen Situation gezogen hatte. Ich hatte lediglich die Rolle des Angreifers in einer Selbstverteidigungsübung übernommen. Ich schlug ihr vor, das Gefühl, angegriffen zu werden, von einem tatsächlichen Übergriff zu unterscheiden. Dadurch, dass ihr bewusst wurde, ein Gefühl von etwas zu haben bedeute nicht notwendigerweise, dass dem ein wirkliches Ereignis entspricht, konnte sie sich von den intensiven Gefühlen, die sie überschwemmten, distanzieren. Das half ihr, wieder eine selbstbestimmte Haltung gegenüber ihren Gefühlen und ihrer Umgebung einzunehmen.

      Intellektuell war sich Martha darüber im Klaren, dass ich sie nicht angegriffen hatte. Aber während wir über die Situation sprachen, geriet sie mehr und mehr außer sich und begann zu weinen. Ich ließ sie die Hände auf ihren Bauch legen und den Bauch beim Atmen nach außen pressen. Sie beruhigte sich sehr schnell und meinte erstaunt, normalerweise schmerze ihr Hals wenn sie sich zwinge, nicht zu weinen, jetzt aber sei sie einfach nur innerlich ruhig. Das machte ihr den Unterschied deutlich zwischen dem „negativen“ Versuch, etwas nicht zu tun, mit dem Weinen aufhören, und der „positiven“ Handlung, sich zu sammeln und zu zentrieren.

      Dann gingen wir wieder zur Arbeit auf der Matte über. Wieder sagte ich zu Martha, ich würde ihr meine Finger in die Muschi stecken. Ich bewegte meine Hand so langsam auf ihren Schritt zu, dass sie viel Zeit hatte, ihren Bauch zu entspannen und zu atmen. Dann ließ ich sie meinen Arm wegstoßen, meine Haare fassen, meinen Kopf nach hinten ziehen, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen, und ließ sie mich zu Boden werfen. Sie war sehr überrascht, dass ihr das gelang, und wollte diese Sequenz sofort begeistert mehrmals wiederholen. Nachdem sie mich ein paar Mal auf die Matte geworfen hatte, verkündete sie, sie fühle sich großartig und ihr Körper würde prickeln, als ob er gerade aufwache.