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nichts mehr mitbekommen hat! Weder von meinem Unistudium noch von meiner Primiz; weder von meinem Einsatz in Afrika noch von meiner Arbeit als Redakteur, Journalist, Publizist und Buchautor.

      Eisenbahn-Abenteuer im schneereichen Januar 1947

      Besonders nahe, vielleicht am allernächsten, war mir Papa im eisig kalten Januar 1947. Weil Winter war und es auf Hof und Feldern eher ruhig zuging, entschloss er sich, mich nach den Weihnachtsferien auf der Rückreise ins Internat zu begleiten. Per Bahn fuhren wir von Unterwittighausen aus im weiten Bogen über Tauberbischofsheim, Lauda, Osterburken und Walldürrn ins romantische Miltenberg am Main. Die lange und umständliche Zugfahrt war nötig geworden, weil viele Bahnbrücken, auch die über den Main, noch nicht wieder aufgebaut waren. Deutsche Soldaten hatten sie 1945 gesprengt, um den Vormarsch der Amerikaner zu stoppen. Sie befolgten damit einen der unsinnigsten Befehle Hitlers zu einer Zeit, nachdem amerikanische Soldaten längst deutschen Boden betreten hatten ...

      Als wir Miltenberg erreichten und im Kilianeum vorsprachen, wunderte man sich: Habt ihr keine Information bekommen? Die Ferien mussten verlängert werden. Kälteferien wegen Kohlenmangel! Auch an Esswaren fehlt es allenthalben. Wir beginnen mit dem Schulbetrieb erst wieder im März. Zwischenzeitlich werden allen Schülern von ihren Klassenlehrern schriftliche Aufgaben zugeschickt . . .

      Nein, wir hatten keine Post erhalten; die traf erst ein, als wir wieder nach Gaurettersheim zurückgekehrt waren.

      Noch am Spätnachmittag desselben Tages fuhren wir wieder zurück und erreichten unsere kleine Bahnstation kurz nach Mitternacht. Da Papa den Lokführer kannte, durfte ich einen Teil der Strecke in der Lokomotive verbringen, zusammen mit dem Heizer und einem der Schaffner. Die von der Kohlenheizung ausgehende Wärme tat gut, denn draußen herrschte bittere Kälte, und die Waggons waren nur dürftig beheizt. Diesel- und Elektro-Loks waren damals noch selten und wurden eher auf den großen Transitstrecken gefahren. Für mich, den Zwölfjährigen, war diese nächtliche Fahrt ein echtes Erlebnis.

      Wir waren also wieder an der Wittig angekommen, einem winzigen Flüsschen, das in die Tauber mündet; eine ihrer Quellen befindet sich in Gaurettersheim, am Erlen-Hölzchen. Dort beginnt der Mühlbach, der unterhalb des Dorfes vorbeiführt, um schließlich in Unterwittighausen in die Wittig einzumünden. Damit steht auch fest, dass mein Heimatdorf indirekt mit dem Rhein verbunden ist – und dass »unser Wasser« letztendlich auch an Köln vorbei in die Nordsee fließt!

      Wie gesagt, jetzt standen wir zwischen zwölf und ein Uhr nachts auf dem menschenleeren Bahnhofsgelände. Papa hatte dort sein Fahrrad abgestellt. Mit diesem bewegten wir uns jetzt abwechselnd: Erst fuhr er ein paar hundert Meter, stellte dann das Rad an die Straßenseite und ging zu Fuß weiter. Sobald ich bis auf diese Höhe kam, wo sich das mit meinem Köfferchen bepackte Rad befand, stieg ich auf, überholte Papa, fuhr 400, 500 Meter weiter und legte dann das Rad wieder an den Straßenrand. So taten wir, abwechselnd, bis wir Gaurettersheim erreichten.

      Es war Vollmond, und der ein paar Tage vorher gefallene Schnee lag inzwischen festgefahren und festgetrampelt auf der Landstraße. Während Mond und Sterne uns wie fahle Laternen erschienen, hüpften Scharen von Feldhasen um uns herum. Ich denke, auch ihnen war kalt und sie wollten sich warmrennen. Es war ein tolles nächtliches Hasentreiben, wie man es sich wilder und lustiger kaum vorstellen konnte. Und ich merkte kaum, wie rasch wir uns dem Heimatdorf näherten. Mama war nicht wenig überrascht, als sie uns kommen hörte.

      III

      Im Dorf kannte jeder jeden Große Geheimnisse gab es keine Man war katholisch hielt zusammen half einander aus und fühlte sich geborgen in der Gemeinschaft Gleichgesinnter und ihrer überkommenen Sitten und Bräuche

      Nelson Mandela (1918–2013) schrieb einmal in einem Brief aus seiner Haft auf Robben Island, es gebe keine Macht der Erde, die es mit der Religion aufnehmen könne. Daher habe er so viel Achtung vor ihr.

      In unserer fast ausschließlich katholischen Dorfgemeinschaft hatte der Ortspfarrer das Sagen. Er wurde von allen respektiert, geachtet und, vielleicht, auch ein bisschen gefürchtet. Gewiss, man hatte keine Angst vor ihm, nicht so wie vor den Polizisten im Dritten Reich. Oder wie vor dem einen oder anderen Nazi. Oder wie wir Kinder vor dem Schullehrer.

      Nein, so nicht. Aber, wie gesagt, Hochwürden wurde allenthalben gehört, wenn er von der Kanzel predigte, oder auch sonst die Richtung vorgab. Also direkte Angst hatten wir vor ihm keine, allenfalls mal vor seinem Wolfshund. – Ein fränkisches Sprichwort heißt ja: Niemand im Dorf sei frecher als die Kinder des Lehrers und die Hunde des Pfarrers!

      Natürlich spielte immer auch das Temperament des betreffenden Priesters eine Rolle. Die beiden Ortsgeistlichen, die ich kennenlernte, waren friedliebende Männer. Pfarrer Ferdinand Friedel (aus Metz in Elsass-Lothringen) war sehr beliebt. Seine beiden Schwestern sorgten selber dafür, dass die Hochachtung, die Herrn Hochwürden im Dorf entgegengebracht wurde, auch ihnen, den Pfarrdamen, zugute kam. Die Arbeit im Pfarrhaushalt und im Garten besorgte eine Haushaltshilfe, ein Magd, die fleißig und schweigend ihre Aufgaben erfüllte. Eine von den Stillen im Lande. Die Leute im Dorf schätzten dieses leicht nach vorne gebeugte, emsige, unauffällige Persönchen ganz besonders.

      Nach Friedels Tod, Anfang der 1940er Jahre, übernahm Hans Spielmann die Pfarrei; er war gerade noch halb-heil den Händen der Nazis entkommen. In seiner früheren Gemeinde in der fränkischen Rhön war er von einer Hitler-Anbeterin (einer Volksschullehrerin) als Gegner des Dritten Reiches angeklagt worden. Nach mehrwöchiger U-Haft in Würzburg sollte er ins KZ Dachau überstellt – oder, schlimmer noch, vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt werden. Da schaltete sich ein Verwandter seiner Haushälterin ein; der soll ein hohes Tier in der Wehrmacht gewesen sein. Tatsächlich schaffte er es, die Nazibeamten von der Unschuld des Priesters zu überzeugen. Spielmann wurde entlassen und von Bischof Matthias Ehrenfried in unsere relativ kleine Gemeinde versetzt.

      Spielmann war allerdings gesundheitlich noch sehr gezeichnet von den Schrecken der Haft. Seine Nervosität schwand nie mehr ganz. In einem dicken maschinengeschriebenen Manuskript hielt er seine Erinnerungen an die Nazizeit fest. Mir vermachte er später, als ich schon Theologie studierte, das Original; eine Kopie dieser Memoiren ging an das Archiv der Diözese Würzburg.

      Er, Pfarrer Hans Spielmann, war es auch, der mich auf die dritte Gymnasialklasse vorbereitete, und mich, ohne dass ich so recht wusste, was es damit auf sich hatte, zur Aufnahmeprüfung nach Miltenberg schickte. Ihm lag sehr daran, mich in einem bischöflichen Internat unterzubringen, wohl darum wissend, dass mein Onkel, Pater Calasanz Josef Hofmann12, der jüngste Bruder meiner Mutter, mich viel lieber ins Internat der Mariannhiller nach Reimlingen gelotst hätte. Ich glaube, nicht einmal meine Eltern hatten Spielmanns Hintergedanken wirklich durchschaut. Noch ehe Onkel Josef eingreifen konnte, hatte ich schon die Zusage bekommen: Ich werde ab September 1946 sowohl ins Kilianeum als auch in die dritte Klasse des Miltenberger staatlichen Gymnasiums aufgenommen.

      Pfarrhäuser, Pfarräcker und Hobby-Pfarrer

      Zu Pfarrer Friedels und Pfarrer Spielmanns Zeiten gab es im Dorf neben einem riesigen Pfarrhaus zwar noch mehrere Pfarräcker und einen weiträumigen Bauernhof mit Scheune und Stallung, aber keiner der beiden Geistlichen fühlte sich als Landwirt. Das war früheren Pfarrern vorbehalten. Zur Zeit unserer Eltern und Großeltern. Damals galten die Gemeindepfarrer auch als aufgeschlossene und fortschrittliche Landwirte. Sie waren belesen und wussten oft besser Bescheid als die ortansässigen Bauern, wie man zu ertragreichen Ernten kam, wann man pflügen und wann säen müsste und auch was nötig wäre, um Viehseuchen fernzuhalten.

      Vom einen oder anderen dieser bäuerlichen Pfarr-Herren sprach man noch Generationen später. Sie langten zu, hieß es, sie hielten Predigten a la Abraham a Sancta Clara13 und stoppten mitunter mitten in der Messe, um ein paar freche Messbuben abzuwatschen. Aber sie machten auch sonst im Alltag der Bauern immer wieder von sich reden. Echte Originale waren sie, manchmal auch grobe und jähzornige. Aber was den Bauern allemal imponierte: Dass sie, diese Geistlichen,

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