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in Friedensverhandlungen einzutreten. Es ist hinreichend bekannt und in vielen Publikationen beschrieben, dass Trotzki diese Verhandlungen entgegen der Meinung Lenins verzögerte. Er entwickelte die These von einer sofortigen Beendigung des Krieges, der Demobilisierung der russischen Truppen und Einstellung aller Kampfhandlungen, ohne jedoch einen Friedensvertrag mit den darin enthaltenen deutschen Forderungen zu unterzeichnen. Dies lief hinaus auf einen Zustand: weder Krieg noch Frieden. Die deutsche Heeresführung war völlig verblüfft und brauchte Zeit, sich zu positionieren.

      Aber auch in der russischen Führung gab es Verwirrung. Eine Gruppe von »Linkskommunisten« mit Bucharin als Wortführer verlangte die Ablehnung aller deutschen Forderungen und die Fortsetzung eines revolutionären Krieges. Lenin entgegnete: »Um einen revolutionären Krieg führen zu können, braucht man eine Armee, und wir haben keine. Unter diesen Bedingungen kann man nichts machen, als die Bedingungen annehmen.« [22]

      Da sich Bucharin nicht überzeugen ließ, spitzte Lenin zu: »Es geht darum, heute die deutschen Bedingungen zu unterzeichnen oder drei Wochen später das Todesurteil der Sowjetregierung.« [23]

      Nach einigem Hin und Her konnte Lenin seinen Standpunkt durchsetzten. Inzwischen war aber der deutsche Vormarsch weitergegangen. Auf diesem Hintergrund stellte die deutsche Seite neue weitergehende Forderungen und verlangte eine Antwort in drei Tagen. Es wurde eine neue russische Delegation nach Brest-Litowsk entsandt, der Trotzki nicht mehr angehörte. Um den Deutschen die Veränderung der russischen Haltung glaubhaft zu machen, war Trotzki als Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten zurückgetreten.

      Der am 3. März 1918 unterzeichnete Friedensvertrag führte infolge der von Trotzki verschuldeten Verzögerung zu nachstehenden Folgen: »Das sowjetische Russland musste 44% seiner Bevölkerung und ein Viertel der Fläche des Zarenreiches, ein Drittel seiner Ernten und 27% der Staatseinnahmen, 80% seiner Zuckerfabriken, 73% seiner Eisenproduktion, 75% seiner Kohleförderung und 9000 Industriebetriebe von insgesamt 16.000 abtreten.« [24]

      Nachdem Ursachen und Folgen dieser Entwicklung überschaubar und analysiert waren, erklärte Trotzki am 3. Oktober 1918 auf einer ZK Sitzung: »Ich betrachte es in dieser autoritativen Sitzung als eine Pflicht, zu erklären, dass in jener Stunde, als viele von uns, darunter auch ich, daran zweifelten, ob es nötig, ob es zulässig sei, den Brest-Litowsker Frieden zu unterschreiben, nur der Genosse Lenin hartnäckig und mit unvergleichlichem Scharfsinn gegenüber vielen von uns darauf bestand, dass wir durch dieses Joch hindurch gehen müssten, um bis zur Revolution des Weltproletariats auszuharren. Und jetzt müssen wir anerkennen, dass nicht wir Recht gehabt haben.« [25]

      Dies war wohl die wichtigste politische Fehlentscheidung Trotzkis, die ihm lebenslang und sicher zu Recht angekreidet wurde und die er sich auch selbst nie verziehen hat.

      Übrigens: in der heutigen trotzkistischen Literatur werden die Vorgänge von Brest-Litowsk ebenfalls gern mit »großer Diskretion« behandelt – wenn überhaupt. Alan Woods schreibt darüber einen einzigen Satz: »Nach der Oktoberrevolution wurde Trotzki zum ersten Volkskommissar für Äußeres gewählt und leitete die sowjetische Delegation bei den Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich und Österreich Ungarn in Brest-Litowsk« [26] – und Punkt! Oder: in der Anthologie »Denkzettel« werden im Sachregister für 447 Seiten zwei Angaben gemacht. Auf der einen angegebenen Seite 306 steht überhaupt kein Wort zu Brest-Litowsk. Auf Seite 436 steht, dass Trotzki diese Friedensverhandlungen leitete, dass er am 10. Februar 1918 den Krieg für beendet erklärte und dass die Bolschewiki Anfang März infolge des Vormarsches der Deutschen Truppen die deutschen Friedensbedingungen akzeptieren mussten. [27] Kein Wort über die Verwicklungen und Verluste, zu denen Trotzkis Verhalten geführt hatte. Auch die Trotzki-Biographie von B. M. Patenaude (Berlin 2010) lässt in der fünfzeiligen Erwähnung von Brest-Litowsk auf Seite 31 Trotzki völlig heraus. Solch neuerer Art trotzkistischer Geschichtsbetrachtung muss mit deutlicher Kritik entgegengetreten werden. Wenn man sich zu Recht gegen Stalins Geschichtsfälschungen verwahrt, darf man sich nicht selbst der Geschichtsklitterung schuldig machen.

      5 Gründer der Roten Armee und Heerführer

      Die nach dem nunmehr verlustreichen Friedensschluss folgende Periode war die des Bürgerkrieges und der ausländischen Interventionen. Es entstand die objektive Notwendigkeit, für die junge und in Bedrängnis geratene Sowjetmacht eine Armee zu schaffen. Ungeachtet der Affäre von Brest-Litowsk vertraute Lenin im Einverständnis mit der gesamten Führung Trotzki diese Aufgabe an. Er wurde zum Volkskommissar für Militärangelegenheiten und zum Vorsitzenden des Obersten Kriegsrates berufen. Der Aufbau einer Armee angesichts des vorherigen Zerfalls der zaristischen Armee, der Kriegsmüdigkeit des ganzen Landes, der Probleme bei der Versorgung neuer Armeeeinheiten mit Waffen und Munition, mit Bekleidung und Verpflegung sowie des Mangels an der Sowjetmacht ergebenen Offizieren stieß auf fast unvorstellbare Schwierigkeiten. Dabei gab es auch innerhalb der sowjetischen Führungsgremien viel Unsicherheit und auch Widerspruch, z.B. in der Frage der Rekrutierung ehemaliger zaristischer Offiziere, bei der Disziplinierung von Armeeangehörigen oder bei der Einführung des Systems roter Kommissare an der Seite jeden Kommandeurs.

      Hier ist nicht der Raum, um im Einzelnen diese komplizierte und widerspruchsvolle Entwicklung nachzuzeich­nen. Es sei verwiesen auf die Trotzki-Biographie von Pierre Broué, der Gründung und Aufbau der Roten Armee außerordentlich anschaulich und überzeugend darstellt, sich dabei auf umfangreiches Quellenmaterial stützt und auch die dabei aufgetretenen Widersprüchlichkeiten dialektisch auslotet.[29]

      Bürgerkrieg und ausländische Interventionen waren in vollem Gange. Unter den weißgardistischen Generälen Kornilow, Koltschak und Denikin, verstärkt durch eine tschechoslowakische Legion, rückten die konterrevolutionären Armeen in Richtung Moskau und Petersburg vor. Die noch in Formierung befindliche und keineswegs gefestigte Rote Armee hatte größte Mühe, den Angriffen standzuhalten. Da nicht die Geschichte des Bürgerkrieges und der Interventionen hier Gegenstand ist, sondern Leo Trotzki, soll ein für den letztlichen Sieg der Roten Armee wesentliches Detail dargestellt werden.

      Als Volkskommissar für militärische Angelegenheiten und Vorsitzender des Obersten Kriegsrates war Trotzki Oberbefehlshaber der Roten Armee. Um die zersplitterten Fronten ständig im Blick zu haben, den jeweiligen Abschnittskommandeuren konkret Rat und Hilfestellung geben zu können und um jungen Armeeeinheiten durch persönlichen Einfluss und Einsatz den Rücken zu stärken, wandte er eine in der Kriegsgeschichte einmalige Methode an. In der Nacht vom 7. zum 8. August 1918 ließ Trotzki auf der Basis des Salonwagens und einiger Spezialwaggons des früheren zaristischen Eisenbahnministers einen besonderen Zug zusammenstellen. Dieser Zug war wie folgt zusammengesetzt: ein zentraler Waggon des Volkskommissars als Arbeitsraum und Kommandozentrale, je ein Wagen für die Sekretäre und Mitarbeiter, eine Druckerei, ein Erholungsraum, ein Speiseraum, ein Wagen mit Lebensmitteln und Ausrüstungsreserven, ein Rundfunksender mit Telegrafenstelle und ein Sanitätswagen. An der Spitze und am Ende des Zuges waren je ein gepanzerter Wagen mit einer speziellen Maschinengewehrabteilung platziert. Außerdem gab es dazwischen noch einen Güterwaggon mit einer großen Ladefläche, in dem einige kleine Autos und ein Panzerwagen Platz hatten, um vom jeweiligen Standort des Zuges rasch zu den vorderen Frontabschnitten zu gelangen. Wegen der Schwere des Zuges und der nötigen Geschwindigkeiten wurde er von zwei Lokomotiven gezogen. Am Morgen des 8. August 1918 fuhr dieser Zug unter dem Kommando Trotzkis aus Moskau ab und war während der gesamten zweieinhalbjährigen Kriegszeit unterwegs an vielen Fronten. Er hat in etwa 36 Fahrten über 200.000 Kilometer absolviert. Wo er auftauchte, brachte er zurückweichende Fronten zum Stehen, fügte auseinanderlaufende Truppen zusammen und übte wesentlichen Einfluss auf die Kampfmoral der Truppen aus. Eine ausführliche Schilderung der Kampfesweise des Panzerzuges und der dabei praktizierten Armeeführung Trotzkis findet sich in der Trotzki-Biographie von Bertrand M. Patenaude (Ullstein Buchverlag Berlin 2010), auf den Seiten 32 bis 35.

      Diese Art der Kriegsführung, bei der der Oberbefehlshaber der Armee nicht von einem Hauptquartier aus die Kämpfe leitet, sondern einen Panzerzug zum Hauptquartier macht und mit ihm an den verschiedensten Fronten selbst auftaucht – und zumeist dort, wo die Lage am meisten gefährdet war –, war ungewöhnlich und hat national wie international großes Aufsehen hervorgerufen. Trotzki hat sich mit seinem Panzerzug in die Kriegsgeschichte

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