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      6 juin 1942

      Wenn ich auch nur etwas weniger Vertrauen zu Maman hätte, würde ich nicht wagen, heute etwas einzutragen. Aber sie ist noch nie in die Privatsphäre meines Tagebuchs eingedrungen, und ich glaube auch nicht, dass sie es je tun würde. Trotzdem halte ich es für eine gute Idee, es nach dieser Eintragung immer mitzunehmen, für alle Fälle.

      Ich war bei Henri in der Rue Royer Collard. Er saß im Bett mit einem großen Verband um den Kopf, sein Auge war blau und schwarz und scheußlich geschwollen, und seine Backe war auch geschwollen, wo ihm die Schläger von der PPF einen Zahn ausgebrochen haben.

      Diese Faschistenspiele, in Rudeln Leute auf der Straße zu verprügeln, sind für manche wie eine Droge. Es ist eine Genehmigung, ungestraft Schmerz zuzufügen. Henri sagt, es ist eine Form von amoklaufendem Infantilismus, aber ich halte es für etwas Böseres. Henri besteht darauf, es gäbe nichts Böseres als bewaffnete Kleinkinder in Horden, die wollen, was sie wollen und wann sie es wollen, und es sich nehmen. Er sagt, dass viele Leute auf der Straße vorbeigingen und niemand eingriff, und dass ein flic vorbeikam, aber als er sah, wer da prügelte und wer da verprügelt wurde, wandte er sich ab und schlenderte unauffällig davon.

      Albert war heute Nachmittag weg, um auf dem Schwarzmarkt Eier zu besorgen. Henri und Albert teilen sich ein Zimmer, das zum größten Teil von Henris Vater bezahlt wird. Sein Vater, der einen Nachtclub besitzt und Henris Mutter nie geheiratet hat, gibt ihm Geld. Henri sagt, der Nachtclub ist voller Deutscher, nicht nur die hier stationierten Wehrmachtsoldaten, sondern Soldaten, die auf Fronturlaub aus ganz Europa hierher kommen, um zu erleben, was sie »Paris bei Nacht« nennen. Die Nazis haben die Namen vom Théâtre Sarah Bernhardt und von jeder Straße in Paris geändert, die nach einem Juden benannt ist, und jeden Verleger in Paris (mit Leichtigkeit) überredet, keine jüdischen Schriftsteller mehr zu veröffentlichen und die Kataloge zu bereinigen, und da sitzen sie nun im Club von Henris Vater und fünfzig anderen und schlürfen Champagner und stopfen sich voll, während immer wieder Offenbachs Cancan gespielt wird und sie die feschen Tänzerinnen beglotzen. Sie können Cancan nicht ohne die Musik von einem Juden kriegen, also tun sie, als wüssten sie von nichts. Henri und ich haben eine Vorliebe für diese Art billiger Ironie, das ist wie eine Schwäche für zu süße, aber unwiderstehliche Bonbons.

      Dann nahm er meine Hand und sah mir in die Augen, wie er es immer tut, und sagte, er hätte den Stern für mich getragen. Er sagte, dass er es nicht mehr ertragen kann, und wenn ich jetzt, wo sein Kopf kahlrasiert und er entstellt ist, nicht mit ihm schlafen will, dann kann er ebenso gut aufgeben und nach Deutschland gehen wie Albert, der zur Arbeit zwangsverpflichtet worden ist, aber er wird sich dann freiwillig melden und wenigstens etwas Geld verdienen.

      »Du versuchst mich zu erpressen«, sagte ich.

      »So weit ist es gekommen«, sagte er. »Sag mir, was ich tun soll, und ich tue es. Ich würde dich sogar heiraten, nur ist das leider verboten.«

      »Wenn es erlaubt wäre, würdest du mir den Antrag nicht machen, Henri, aber davon abgesehen finde ich die Ehe ungefähr so attraktiv wie das Dasein einer Prostituierten, und ich lasse mir meine Gunst nicht gerne bezahlen.«

      »Dein Hang zur Romantik und zur Sentimentalität macht mich noch wahnsinnig«, sagte er.

      »Wie kannst du an Beischlaf denken?«, fragte ich ihn und benutzte absichtlich das vulgäre Wort. »Du kannst dich kaum aufsetzen, du schaffst nicht einmal, die Treppe hinunter auf die Straße zu gehen, und du bist wild darauf, mich zu deflorieren!«

      »Das könnte ich noch, wenn mir die Beine amputiert wären. Gib mir eine Chance.« Er zerrte weiter an mir.

      Mir wurde klar, was ich schon seit einiger Zeit weiß, dass ich entweder aufhören muss, mich mit Henri zu treffen, oder mit ihm ins Bett gehen muss. Ich habe ihn über ein Jahr lang hingehalten, aber er wird immer zudringlicher. Ich bin nicht in ihn (oder sonst jemand) verliebt, aber ich mag ihn. Ich fürchte, ich bin im Grunde eine kalte Person, was romantische Liebe und romantisierten Sex angeht. Ich halte beides für Selbsthypnose. Ich schaue zu, wie Frauen um mich herum sich in Lebewesen verlieben, die ebenso gut große verspielte oder kleine rauflustige Hunde sein könnten, und bin verblüfft, wie das Gehirn sich einfach abschaltet, wenn die Hormone durch den Körper gepumpt werden.

      Marie Charlotte, die früher meine beste Freundin war und einmal irrtümlich für eine Jüdin gehalten wurde, weil sie immer mit mir herumlief, ist jetzt in einen deutschen Leutnant verliebt. Da er zu den herrschenden Eroberern gehört und Offizier ist, gestattet ihre Familie ihm, ihr den Hof zu machen. Sie sagen, das ist ehrenwert. Ich weiß das alles, weil Marie Charlotte immer noch auf mich wartet und mir Zeichen gibt, ihr an unsere alte Schwatzstelle im kleinen Park Georges Cain gleich bei unserem alten lycée zu folgen. Da sitzen wir dann zwischen den zerbrochenen Statuen oder unter dem alten Feigenbaum, wie wir es früher taten. Ich nehme mir immer wieder vor, sie links liegen zu lassen, aber wenn ich sie sehe, erinnere ich mich, wie nah wir uns waren, und kann nicht mit ihr brechen.

      Ich schiebe vor mir her aufzuschreiben, was ich getan habe. Ich wand mich aus Henris ziemlich enger Umarmung, bemüht, ihm nicht wehzutun. Dann setzte ich mich von ihm weg auf einen Stuhl. Ich versuchte mir darüber klar zu werden, ob ich ihn verlassen und nie wiedersehen soll, aber ich mag Henri sehr, und ohne ihn und meine anderen Freunde müssten wir noch viel mehr hungern. Rivka ist so dünn, dass es mir Sorge macht. In ihrem Alter hat bei mir die Menstruation angefangen, und so war es auch bei Maman, aber bei Rivka hat sie noch nicht angefangen, und ihre Brüste sind so winzig wie Erdbeeren. Sie braucht das zusätzliche Essen, das ich nach Hause bringe. Was macht es schließlich schon? Wir können alle fortgeschafft werden in unbekannte Gefahren. Ich mag Henri mehr als jeden anderen Mann, den ich kennengelernt habe, also warum nicht er? Sonst werde ich mich immer fragen, wie das wohl ist, und es nie erfahren.

      Ich saß also auf dem Stuhl und sagte geradeheraus: »Gut, Henri, hör zu. Ich werde mit dir schlafen. Aber nicht heute. Erhol dich erst von deiner Schlägerei.«

      »Ich habe mich schon genug erholt, ich schwöre es, dafür habe ich mich genug erholt.«

      »Aber ich schwöre, für mich wäre es kein Genuss, mit einem Mann zu schlafen, wenn ich jeden Augenblick Angst haben müsste, ihm mehr wehzutun als das Faschistengesindel. Willst du, dass ich es genieße, oder ist dir das egal?« Ein billiges Argument, aber eines, dessen Wirkung ich nicht bezweifelte.

      Er versicherte mir, ihm läge nichts mehr am Herzen als mein Genuss, und er sei fest entschlossen, mich in einen Taumel der Lust zu versetzen, sobald ich mich in sein Bett begäbe. Ich erinnerte ihn daran, dass Albert erst am Monatsende zum Arbeitseinsatz eingezogen wird. Ich möchte ungern Albert zum Zeugen haben. Die Intimsphäre ist mir wichtig.

      »Du willst mich nur abwimmeln.«

      »Henri, habe ich dir je versprochen, mit dir zu schlafen?«

      Er gab zu, dass ich das immer abgelehnt hatte.

      »Jetzt verspreche ich es. Wenn Albert nach Deutschland abgereist ist. Bis dahin wirst du wieder heile Haut und Haare haben –«

      »Du liebst mich nicht ohne Haare.«

      »Im Moment siehst du aus wie eine Zwiebel. Aber dann werde ich tun, was du verlangst.«

      »Das ist nicht mal mehr einen Monat hin.«

      Ich wusste, ich hatte ihn überredet. Ich fand auch, ich hatte Gott eine Chance gegeben, mich zu retten, wenn er es will, und dem Schicksal, wenn es mir geneigt ist. Und so, mein Tagebuch, habe ich mein Versprechen gegeben. Nicht, dass ein simples, recht lästig platziertes Häutchen mir irgendetwas bedeutet. Es geht mir eher darum, dass ich für mein Empfinden eine gewisse Klarheit besitze, die mir bei den meisten Frauen nicht begegnet. Ständig tun oder lassen sie etwas oder glauben oder bezweifeln etwas oder kommen oder gehen, weil der Mann, an dem sie hängen geblieben sind, es so will. Wenn ich nun in Zukunft mit Henri schlafen muss, so will ich versuchen, gelassen zu bleiben und einen klaren Kopf zu bewahren und nie zu glauben, nur weil wir unsere Körper zusammentun, mache ihn das intelligenter, als er ist, oder zu einer Art Genie.

      6 juillet 1942

      Heute habe ich mein Versprechen eingelöst.

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