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stickige Luft, kaum Natur und Stille. Diese Stadt schien nie zu ruhen. Und sie machte mich unruhig, unzufrieden mit mir selbst und meinen Nächsten. Es dauerte nicht lange, bis ich nur noch davon träumte, bald mein Studium abzuschließen und zurück nach Hause in die Beschaulichkeit meines Heimatortes zu kehren. Gott sei Dank fand ich eine kleine Kirchengemeinde. Die Menschen hier ähnelten denen zu Hause. Sie schienen ihre kleine Parallelwelt geschaffen zu haben, in der man für eine Zeit lang das laute Getöse der Stadt vergessen konnte. Unser kleines Gemeindezentrum lag im zweiten Hinterhof, und man bekam hier tatsächlich nur wenig von der Stadt mit. Gerne tauchte ich am Mittwoch zur Bibelstunde, am Samstag zur Wochenendandacht und am Sonntag zum Gottesdienst in diese kirchliche Idylle ab. Das Einzige, was mich an dieser Berliner Gemeinde störte – es gab hier kaum Jugendliche. In der Regel war ich die Jüngste unter den vielen Grauhaarigen. Gefragt, wo denn die Jugend geblieben sei, sagte man mir schnell: „Sie haben die Welt lieb gewonnen.“ Und die Welt fing bekanntlich draußen an der Hauptstraße an.

       Je länger ich in die Gemeinde kam, desto unruhiger wurde ich. Wir waren immer dieselben Gottesdienstbesucher. Die Gemeinde wuchs nicht, und wenn, dann nur, weil solche Studenten vom Land wie ich für eine Zeit lang dazukamen. Viele von ihnen verschwanden dann aber auch bald wieder. Die Erklärung unseres alten Pastors: Auch in ihnen würde die Liebe zu Gott erkalten. Die Stadt hatte auch sie in ihren Strudel gezogen. Auf meine Nachfrage, ob wir denn nicht berufen seien, in die Welt zu gehen und die Menschen zu Christus zu rufen, antwortete mir derselbe Mann: „Haben wir schon alles hinter uns. Die Menschen sind böse geworden. Zu uns kommt jedenfalls niemand. Wir haben uns von der Welt losgesagt, weil man weder die Welt noch, was in der Welt ist, lieben soll.“

       Eines Tages überwand ich mich und besuchte eine andere, eine „moderne“ Gemeinde, wie man bei uns zu sagen pflegte. Hier traf ich auf Hunderte junger Leute und moderne Musik und erlebte, wie sich nach dem Gottesdienst mehrere Personen spontan bereit erklärten, Jesus als ihren Herrn zu akzeptieren. Überrascht, so etwas in Berlin vorzufinden, fragte ich den jungen Pastor der Gemeinde, wie das wohl kommt, dass sich bei ihnen Menschen für den Glauben interessieren. Seine Antwort hat mich noch lange danach beschäftigt. Er sagte: „Wir haben die Menschen in der Stadt lieb, sorgen und beten für sie, und jetzt finden sie sowohl uns als auch unseren Glauben attraktiv. So, wie es bei Jesus war: Er wurde Mensch, lebte unter den Menschen, und dann sahen sie seine Herrlichkeit und folgten ihm nach. Es ist alles recht einfach.“

       So einfach war es für mich zunächst nicht. Mein ganzes frommes Denken sprach gegen eine solche Perspektive. Aber ich fing an, intensiv in der Bibel zu forschen. Und mir wurde zunehmend klar: Nur, wer Menschen liebt, kann sie auch zu Gott rufen, und nur, wer die Stadt liebt, kann sie auch verändern. Ich war mit meiner eingefahrenen Haltung jedenfalls nicht zu gebrauchen. Und dann fiel ich eines Tages auf meine Knie und bat Gott für meinen Rückzug aus der Welt um Vergebung, und ich bat, mir seine Wege zurück zu den Menschen in Berlin zu zeigen. Wenn man so will, bekehrte ich mich zur Stadt, und es begann ein anderes Leben …“

       Fragen zur Weiterarbeit:

      1 Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Leben in der Stadt gemacht?

      2 Was macht für Sie die Stadt aus?

      3 Worauf könnten/würden Sie in der Stadt nicht verzichten wollen?

      4 Was fördert für Sie den Glauben in der Stadt?

      5 An welcher Stelle behindert und verhindert die Stadt den Glauben?

      6 Wie sollte sich Ihrer Meinung nach die christliche Gemeinde der Stadt gegenüber verhalten?

       Kapitel 2

       Leben in der Stadt

       2.1. Die Stadt verstehen

      Wer für die Stadt Verantwortung übernehmen möchte, der sollte sich mit ihr beschäftigen. Erst wenn wir die Stadt und ihre kulturellen und sozialen Welten, ihre Gestaltungskräfte, verstehen, können wir beginnen, über Veränderungsprozesse und Eingriffe ins urbane Leben nachzudenken. Und christlicher Gemeindebau setzt solche Eingriffe voraus. Mit der Gemeinde Jesu kommt ein Transformationsagent auf die soziale Bühne der Stadt. Die ekklesia, wie Jesus sie baut, soll Verantwortung für die Menschen vor Ort übernehmen, ja noch mehr – das Gemeinwesen selbst in einen Nachfolger Jesu verwandeln (Mt. 28,19-20). Mit ihr zieht Gerechtigkeit, wie Gott sie denkt, in die Stadt (2Kor. 5,21).

      Was sollten, ja müssen Gemeindebauer über die Stadt unbedingt wissen, um Gemeinde in der Stadt effektiv bauen zu können? Hier ein paar grundsätzliche Beobachtungen. Wir zeichnen dabei sowohl die sozialen als auch machtpolitischen Räume in der Stadt nach. Denn erst, wenn wir wissen, wo, wie und unter welchen Einflüssen Menschen in der Stadt leben und ihren Glauben praktizieren, können wir in ihr Leben prophetisch und gegebenenfalls auch transformativ hineinsprechen und hineinhandeln. Leben aus Gott setzt immer Wissen und die Bereitschaft, das Wissen in die Tat umzusetzen, voraus. Menschen sind dem Leben aus Gott entfremdet aufgrund ihrer Ignoranz und der Verstockung ihrer Herzen (Eph. 4,17-18). Erst wenn wir die Wahrheit über die Stadt erkennen, können wir befreit transformativ handeln (Joh. 8,32).

       2.2. Soziale Welten der Stadt

      Städte sind keine homogenen, sozialen Räume, vielmehr bestehen innerhalb der Grenzen einer Stadt eigene soziale Welten.24 Man spricht in diesem Zusammenhang auch von urbanen Systemen25 und Gesellschaftstypen.26

      Unter einem urbanen System verstehen wir ein flächendeckendes dreidimensionales Netzwerk von vielfältigen sozialen und physischen Verknüpfungen. Knoten dieses Systems sind Punkte mit einer hohen Dichte an Menschen und Gütern.27 Mit anderen Worten, da, wo die meisten Menschen leben und wo sie am meisten lebensrelevante Güter erwerben, liegen wichtige urbane Zentren, die wir Knoten nennen. Zwischen diesen Knoten verlaufen die Ströme von Information, von Gütern oder auch sozialen Kontakten. Was man in der Stadt an Information weiterleitet, an Gütern anbietet und welche kulturellen Einflüsse prägend sind – das wird in den Knoten durchdacht und entschieden.

      Urbane Systeme ähneln Netzwerken und werden seit den 1990er Jahren auch Netzstadt genannt. Das Modell wurde von den Schweizern Franz Oswald und Peter Baccini entwickelt und soll helfen, die unterschiedlichen Verflechtungen in einem urbanen System in Beziehung zueinander zu setzen, indem es analytische Instrumente und Qualitätskriterien definiert. Es ist prinzipiell an der langfristigen Gestaltung des urbanen Raums interessiert und bewusst ganzheitlich gedacht. Es erschließt damit sowohl sozial-ökonomische als auch kulturell-religiöse Entwicklungen in der Stadt. Das Netzwerk setzt sich aus den folgenden drei Elementen zusammen:

       Knoten – definiert als Orte hoher Dichte von Personen, Gütern und Informationen.

       Verbindungen – die die Flüsse von Personen, Gütern und Informationen zwischen den Knoten gewährleisten.

       Skalen – diverse Maßstabsebenen, innerhalb derer Territorien räumlich abgegrenzt und die Knoten und Verbindungen identifiziert werden können.

      Das Wechseln des Betrachtungsmaßstabs erlaubt es, sowohl verschiedene Knoten und Verbindungen auf der nächsthöheren Skala zu einem übergeordneten Knoten zu aggregieren, als auch einen Knoten auf der nächsttieferen Skala in Subknoten und die entsprechenden Verbindungen dazwischen aufzulösen. Dies erhöht die Flexibilität des Modells und führt zu neuen Hierarchien, die sich deutlich voneinander unterscheiden.

      Oswald/Baccini differenzieren fünf Skalen, die sich auf Person, Nachbarschaft, Gemeinwesen, Region und Nation beziehen:

       Die individuelle Skala – die Wohnung als kleinste Einheit urbanen Lebens. Hier ist die Person samt

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