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Prothesengötter. Frank Hebben
Читать онлайн.Название Prothesengötter
Год выпуска 0
isbn 9783957770820
Автор произведения Frank Hebben
Жанр Языкознание
Издательство Автор
»Das ... ist«, sage ich, als die Glasflügel im Licht kurz aufblitzen. Seit Monaten habe ich kein Wort gesprochen – Zahlen; nur Zahlen auf Zahlen auf Zahlen.
Die Lüftung brummt.
Der Rollstuhl quietscht.
Noch ein, zwei Schwünge, dann greife ich in die Räder und halte vor den Nahrungshähnen an. Ich schaue mich um. Wo ist es? Dort hinten: Es krabbelt auf dem Rand der Wanne und spreizt dabei die Flügel ab. Dreht die Fühler hin und her. Hebt seinen Hinterleib an. Was tut es da nur ... Daten sammeln, verwerten? Ich stelle mein Lupenauge neu ein, um diesen (Tanz) von Nahem zu betrachten:
Ein rhythmischer Bewegungsablauf, eine Programmsequenz als Schleife, die nach fünf Sekunden von Neuem beginnt, sobald das Insekt zu Punkt A zurückgekehrt ist. Erstaunlich! Welcher Klasse gehört es an?
Ich wende den Rollstuhl und bugsiere ihn durch einen Vorhang aus Kabeln, Teile meines Traumfängers, der neben der Wanne hängt, falls ich nicht einschlafen kann. Dahinter, in einer Ecke, befindet sich ein Büchergestell: zwei Kinderromane, eine Betriebsanleitung für einen Monoflügler und ein Lexikon, das auf dem Index steht; alle Folien verkrustet und braun. Umsichtig ziehe ich den Band heraus, lege ihn in meinen Schoß, um die Kapitel durchzublättern ...
(Apis), kein Zweifel; der Bauplan des Insekts ist einer (Honigbiene) nachempfunden. Einer Königin.
Ob jemand die Bienen gezielt zu mir sendet – von der Basis hierhin, hier nach oben, wo Windböen das rostige Containergerüst in 0,1 bis 0,3 Hz Schwingung versetzen? Ich habe mich längst an das konstante Schwanken gewöhnt. Anfangs, neu im Rechenverband 2.13 eingefügt, war das sehr störend gewesen: Permanenter Schwindel und Übelkeit hemmten meine Kalkulationen, führten sogar zu Rundungsfehlern, an denen allein diese (Nausea) schuld war. Ich habe die Krankheit nachgeschlagen, so wie ich jetzt erneut des Lexikon zurate ziehe, um herauszufinden, warum der (Bienenschwarm) diese bizarre Wabenstruktur in einer Nische über der Schlafwanne errichtet.
Binnen Tagen hat sich ihre Anzahl zehnfach potenziert: Noch am selben Abend ist der Königin eine neue, kleinere Replikation gefolgt, der wiederum vier Artefakte gleichen Bautyps folgten ... Mittlerweile schwirren hunderte dieser Einheiten durch meinen Wohncontainer; verschwinden hinter dem Lüftungsgitter und kehren erst nach einer Weile zum, da steht es: (Bienennest), zurück.
Aber wozu?
Zu welchem Zweck kleben sie Hexagone aus schwarzem, industriellen Wachs aneinander?
Ich will auch die restlichen analogen Zeilen in mich einspeichern, doch Schmerzen pochen in meinem Datentumor und mein Lupenauge brennt, alle Buchstaben verschwimmen. Erschöpft klappe ich das Lexikon zu und stelle es zurück ins Gestell. Morgen ein neuer Versuch.
»Diese Methode des Datentransfers ist ineffizient«, sage ich zu meinen Bienen, mit denen ich bisweilen spreche, denn ich habe das Gefühl, dass sie mir tatsächlich zuhören: Beim Klang meiner Stimme unterbrechen sie ihren Bauprozess, stoppen die mechanischen Sequenzen; verharren wie abgeschaltet.
Verfügen sie etwa über I/O-Schnittstellen, einen Prozessor? Oder ist das purer Zufall, ein Konstruktionsfehler, weshalb Schallwellen den Programmablauf hemmen können? Ich muss eine von ihnen sezieren ...
Doch ich finde keine Zeit:
Ein Signalton bedeutet mir, zum Terminal zurückzukehren und das Interface zu benutzen. Eine Nachricht für mich, bestimmt eine neue Verwarnung. Auch die letzten Tage habe ich nicht genügend kalkuliert und konnte das Defizit nicht tilgen, obwohl eine Nacht ohne Schlaf ausgereicht hätte, um die fehlenden Datenkaskaden abzuarbeiten. Aber mir war nicht danach.
»Sie werden mir die Lizenz entziehen«, sage ich lauter in den Raum, um das Brausen zu übertönen, während ich den Rollstuhl mit kräftigen Schüben vorwärts bewege, an meiner Schlafwanne, an der Lüftung vorbei, auf deren Gitter die Bienen nur so wimmeln. Wie viele mehr werden der Königin noch folgen? Ihre wachsende Anzahl irritiert mich, denn mein Wohnraum ist eng, obwohl ich ihre Nähe bis jetzt nicht als störend empfinde – im Gegenteil: Ein mir halb bewusstes Gefühl von Leere ist verschwunden. Ich fühle mich ... wohl.
Stoppe die Räder; lege die Fahrsperre an, ehe ich hastig nach dem Glasfaserbündel greife, um alle Lichtnadeln in den Kopf einzustecken. Ein kurzes Stechen, und die Einwahl beginnt:
### Einheit 6.20.233.04, 2.13, Name: Chémo
### Zugriffsrechte bestätigt
### Verbindung hergestellt
### Heutige Schicht bis: 195.8
### Zeitkonto: -325
### 1 neue Nachricht vom Hauptwerk: Arbeitsplatzwechsel von Nordsektor B, Planquadrat 331.32, nach Südsektor C, Planquadrat 811.47
### Zeitkonto wird auf -417 gesetzt
Kaum habe ich die letzte Zeile biologisch umgesetzt, da höre ich auch schon das Schleifen der Großwalzen, die meinen Container hoch zum Dach befördern; es rumpelt hinter den Wänden – dann ein wuchtiger Schlag, bevor Zangen einer Frachtlibelle draußen über die Rillen schaben, andocken, einrasten, den Behälter aus der Verankerung wegreißen.
Der Boden wackelt. Mit aller Kraft klammere ich mich am Rollstuhl fest, schließe die Augen, als plötzlicher Schwindel mir zusetzt.
Der Bienenschwarm surrt, aufgebracht.
Dann ein Gefühl wie Schwerelosigkeit, ein Pendeln über dem Abgrund, während brüllende Rotoren die Ladung rauf in den Himmel hieven. Einmal habe ich sie mit eigenen Augen gesehen, diese Frachtlibellen, schwarze Monster aus Maschinen und Treibstoff, als meine alte Wohnzelle gegen eine neue ausgetauscht werden musste, weil die Decke durchgerostet war und leckte und tropfte, die Elektronik ständig ausfiel. An diesem Tag fegten Regenschauer über das Geländer, von wo aus ich zum ersten Mal – frierend, kauernd, nur notdürftig durch eine Folie geschützt, die mich und meinen Rollstuhl umhüllte – den Nordsektor B sehen konnte:
Die Stadt, eine Krake aus Metall; im Zentrum das Hauptwerk, geodätische Kuppeln, so schwarz wie die Wolken, die sie durchstoßen. Von dort ein vielarmiges Netz aus Fabriken, das bis zum toten Horizont greift – Hallen, Lager, Schornsteine, Qualm, dazwischen die Rechenanlagen, turmhohe Gerüste, in denen die Container festhängen. Und für das Blinzeln eines Auges: die Sonne! Ein Riss im Himmel lässt die Strukturen erstrahlen, ein Bernsteinlicht wie goldenes Öl, funkelnde Tropfen, überall! Nie zuvor hatte ich etwas Schöneres gesehen. Viele Zyklen ist das her ...
Ein Ruck, ein Schwanken, und die Rotoren kreischen, bevor der Flug schneller und holpriger wird. Verkrampft, die Hände steif an den Griffen, lasse ich die Windstöße über mich ergehen, die immer und immer wieder gegen die Wände donnern. Um meine Angst, meinen Schwindel zu verdrängen, stelle ich mir vor, welche Landschaft unter meinem Wohnbehälter vorbeizieht – zuerst die Containerwelt, in denen die Rechenknechte, Archivare und Protokollanten zwischen den Fabrikkomplexen leben, darin die unheimlichen Werkshelfer, halb Mensch, halb Maschine; ihre Arme gespickt mit Werkzeugen, mit Sägen und Schweißgeräten; und in ihren Adern schwarzes Blut.
Ich mag sie nicht, sie sind mir unheimlich, obwohl ich noch keinen dieser Schwerarbeiter zu Gesicht bekommen habe, doch es gibt Codegerüchte, schlecht versteckt zwischen den Einsen und Nullen, die von Revolten und Sabotage flüstern. Sie meiden uns, so wie wir sie meiden, denn jeder hat seine Klasse, zu der er gehört ...
Die Ausläufer der Stadt sind mir als grob gezackte Skizzen im Gedächtnis; und was dahinterliegt, weiß ich nur von einer alten, topografischen Karte, die ein Archivar mit mir gegen Zeitrationen eintauschte. Wo war das gewesen? Und wann? Eine Wüste, aus rotem brennenden Licht. Dann wieder eine Stadt, Südsektor B, dann Südsektor C und dahinter ... die fraktale Küste eines Meeres aus stark verdünnter Salzsäure, HCL.
Gerade will ich neue Bilddaten aus meinem Speichertumor abrufen, als eine scharfe, fauchende Schlagböe