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Prothesengötter. Frank Hebben
Читать онлайн.Название Prothesengötter
Год выпуска 0
isbn 9783957770820
Автор произведения Frank Hebben
Жанр Языкознание
Издательство Автор
Die Bienen toben! Unscharf kann ich sehen, wie sie ihre Köni-gin aus dem Haufen zu befreien versuchen.
Da ist sie.
Ihr Gehäuse scheint intakt. Zum Glück!
Als der Wohnbehälter polternd abgesenkt wird, nehmen weder ein Stahlgerüst noch ein Walzwerk das schwere Gewicht auf: ein Knirschen wie von Stein, nachdem die Zangen gelöst sind und ein Rotorenkreischen den Abflug der Libelle einleitet. Schon wird die Maschine leiser, bis nichts mehr außer dem Lüftungsstrom zu hören ist, der neue, fremdartige Gerüche in meine Arbeitszelle bläst – süßlicher Rost, vermischt mit scharfem Lösungsmittel. Das Klima hier im Süden scheint besser, die Luft ist trocken und frisch und eine angenehme Wärme sickert durch die Deckenplatten; meine Schlafwanne werde ich wohl nachts nicht länger nutzen müssen ...
Ob die Sonne draußen scheint? Vielleicht sollte ich einen Formantrag auf Ausgang stellen, obwohl: Ich glaube kaum, dass sie mir ein solches Privileg gewähren würden, solange mein Konto überbucht ist. Nein, ganz sicher nicht. Muss mich mehr anstrengen, die versäumte Zeit aufholen. Kalkulationen. Zwischenschritte. Summen. Darauf kommt es an! Ich drücke einen Knopf, um das Standby abzuschalten.
### Einheit 6.20.233.04, 2.13, Name Chémo
### Zugriffsrechte bestätigt
### Verbindung hergestellt
### Heutige Schicht bis: 201.5
### Zeitkonto: -417
### 1 neue Nachricht vom Hauptwerk:
### Arbeitsplatzwechsel von Nordsektor B, Planquadrat 331.32, nach Südsektor C, Planquadrat 811.47 ## Status:
abgeschlossen!
### Bei Betriebsstörungen bitte Instandhaltung Z12 benachrichtigen
### Willkommen 6.20.233.04, 2.13!
Mit dem Zwinkern eines Auges hole ich die ersten Datenpakete ab, zerlege sie, fülle sie in mein Rechenregister, lasse die logischen Operationen im Kopf durchlaufen, während ich immer mehr in einen katatonischen Zustand verfalle – schnell die Zeit und den Raum um mich herum vergesse. Fühle mich leicht, wie schlafend; träume von silbernen Gleichungen, auf denen Bilanzen als Güterzüge in die Finsternis rauschen, ein endloser, ratternder Strom aus Zahlenkolonnen. Ich sitze an den Gleisen und schaue ihnen nach, nicke, wenn sie am Horizont verblassen.
Erst sehr viel später werde ich von einem Frösteln geweckt, das mir scharf den Rücken runterläuft; schweißgebadet schrecke ich im Rollstuhl hoch und taste mechanisch – steife Finger – nach den Lichtnadeln, die ich zitternd herausziehe.
Die Wärme ist fort.
Abend? Oder Nacht? Im Halbdunkel des Containers kann ich das Wabennest nur schemenhaft erkennen: Es hängt exakt am selben Platz über der Schlafwanne, in der Nische zwischen Stromzähler und Verteilerkasten ... Die Bienen müssen es komplett vom Boden abgetragen haben, um es dann neu an die Wand zu heften. Bemerkenswert, wie fleißig diese kleinen, zerbrechlich dünnen Artefakte sind.
### Zeitkonto: -217
Ich sollte mir ein Beispiel nehmen!
Drei Zyklen sind durch. Mein Konto steht auf +118, der Antrag ist gestellt – nun heißt es warten, bis der endgültige Bescheid kommt; ob positiv oder negativ, ist schwer zu kalkulieren, das Hauptwerk entzieht sich jeder Logik, sodass eine Wahrscheinlichkeitsberechnung immer nur ins Leere läuft. Manche flüstern, es arbeite auch mit Zufallsmodi, um dynamische Prozesse anzustoßen, doch das sind Gerüchte ohne Wert.
Chaotische Kontrolle = Anarchie.
Ich nutze die Zeit, um den Bienenschwarm zu untersuchen: Eines der Insekten habe ich mit bloßer Hand gefangen und zerlegt; die Einzelteile liegen auf einem Plastikteller, säuberlich geordnet, sodass ich das Artefakt auch wieder zusammenbauen kann, wenn die Analyse vorbei ist. Mein Lupenauge zeigt mir:
zwei Tropfensensoren, facettiert,
eine Mikrobatterie als Stromquelle, gespeist durch
Solarzellen in den Flügeln, die ab 0,25 lx arbeiten,
ein Prozessor, groß wie ein Stecknadelkopf,
eine Speicherkapsel, digital,
diverse Feinmechaniken, einem Uhrwerk nachempfunden,
goldene Drähte, 45,2 · 106 S/m
eine Signatur ... tatsächlich! Eingeätzt in den Wehrstachel, der vermutlich als Empfangsantenne dient:
Ah Muken Cab, 3.31.XXX.XX, X.XX.
Ob das der Name des Handwerkers ist? Seine Kennnummer, die er sorgsam verschlüsselt hat? Und plötzlich, als ich die Batterie aufnehme, wieder im Gehäuse fixieren will, da ahne ich:
Diese Bienen sind ungesetzlich!
Es muss gefährlich sein, sie zu besitzen, sie müssen gegen den Codex verstoßen. Aber das hieße ja: Ich habe eine Straftat begangen – sie freiwillig in meinen Container gelassen, anstatt das Hauptwerk zu informieren! Meine Finger zucken; das Kleinteil fällt mir aus der Hand und rollt vom Teller auf den Boden, bis es gegen die Wanne springt, dort liegen bleibt.
Was mache ich? Was mache ich bloß?
Zerstreut, nervös, kratze ich mir Schorf ab, während ich den Rollstuhl erst zum Netzwerk, dann zur Luke drehe: Die Iristür darf nur im Notfall manuell geöffnet werden; ohne Bescheid kein Ausgang, ansonsten folgt eine Bußbelastung des Zeitkontos; Wiederholungstäter werden mit einer Herabstufung der Arbeiterklasse abgestraft, §935.a und §935.b. Die Paragrafen hallen durch meinen Kopf; verharre reglos, kann mich zu keiner Aktion zwingen; stecke im Patt, die Gleichung ist zu beiden Seiten blockiert, egal, was ich tue, es ist das Falsche: Ich verliere mein Gesicht und werde vom Rechenknecht zum Werkshelfer modifiziert, wie ich einst vom Konstrukteur zur Rechenmaschine transformiert worden bin.
Panik, schreckliche Angst.
Nein, mir bleibt eine Option offen: Schweigen und alles für mich behalten. Wenn ich nicht auffalle, wird auch weiter nichts passieren. Ich werde meine Pflicht erfüllen – arbeiten, essen, schlafen. So wie alle anderen auch!
Die Zyklen vergehen, doch ich zähle sie nicht mehr. Ein taubes Gefühl beherrscht mich, eine ständige Müdigkeit, die es mir schwer macht, mich auf die Rechensequenzen zu konzentrieren; meine Fehlerquote liegt weit über Normal. Nachts schlafe ich schlecht, muss oft den Traumfänger benutzen, um die quälenden Gedanken abzustellen, die durch meine Zellen tanzen, sobald ich in der Wanne liege, im rötlichen Halbdunkel, umgeben vom braunen Isoliergel, das mich kaum wärmt.
Tagsüber friere ich trotz der Wärme in den Metallplatten; vermutlich bin ich krank, eine Grippe, ein Virus, das mich befallen hat, weil ich noch nicht an das trockene Klima gewöhnt bin ... oder ein Nervenleiden, das mich von innen heraus zerfrisst.
Die Schuld belastet mich.
Ständig kommt mir der Gedanke, dass ich den Schwarm zerstören sollte – zerlegen, zertrümmern, die Reste durch den Abfallschacht entsorgen. Dann habe ich das Werkzeug meist schon in der Hand, kann mich jedoch nicht überwinden. Ihre Nähe hat etwas Tröstendes, ich war so lange ganz allein, abgeschottet von der Außenwelt, die durch diese Insekten ein Stück weit zu mir gekommen ist; was auch immer da draußen sein mag.
Mein Wunsch, den Container zu verlassen, wurde vom Hauptwerk abgelehnt. Gründe hierfür gab es keine ... Zufallsmodus? Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr will ich es glauben. Oder wird ein Ausgang möglicherweise nie erlaubt, und wir sind freiwillig und treu unsere eigenen Wärter in einem Gefängnis ohne Stäbe? Was hält mich eigentlich davon ab, nicht einfach die Iristür zu öffnen, hinauszufahren oder mit Krücken auf den Korridor, den Steg, das Baugerüst zu steigen, das mich wegbringt aus diesem Gefängnis aus schwarzen Nullen, schwarzen Einsen! Wer verpflichtet mich zu einer Arbeit, die ich mir nicht ausgesucht habe? Wer hat dazu ein Recht!
Gefährliche Gedanken.
Ich