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1. Der Gott zum Anfassen

      Das 2. Buch Mose (Exodus) berichtet vom Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Gott befreit sein Volk, er führt es hinaus aus dem Sklavenhaus und schenkt ihm einen neuen Anfang in Freiheit. Die biblischen Texte beschreiben die großen Zeichen und Wunder, die Gott auf diesem Weg tut. Und man möchte meinen: Wer so was mal erlebt hat, wer Gottes Macht so eindrücklich erfahren hat – der kann nie wieder an der Realität Gottes zweifeln. Doch, kann man. Die Wege in die Freiheit werden lang und länger. Die Wanderung des Volkes Israel führt nicht direkt und zügig in das verheißene gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen, sondern in die Wüste. Am Sinai schließt Gott einen Bund mit seinem Volk, er gibt ihm die Zehn Gebote als Ordnung für das neue Leben. Aber das Volk erfährt Gott mehr und mehr aus zweiter Hand, vermittelt durch Mose. Für viele im Volk wird Gott immer ungreifbarer. Schließlich begibt sich Mose auf den Berg Sinai, um die Gebote Gottes zu empfangen. Als seine Rückkehr auf sich warten lässt, wird das Volk Israel kurze Zeit nach dem ungeheuren Aufbruch aus Ägypten immer unruhiger (Ex 32,1 ff.). Wo ist Gott? Wo ist Mose – und was ist sein Plan?

      Schließlich hilft das Volk sich selbst – mit einem Gott zum Anfassen. Die Götter der Antike waren sichtbar. Die Zumutung des unsichtbaren Gottes lastete offenbar schwer auf Israel. So nötigt das Volk Moses Bruder Aaron zur Herstellung eines Goldenen Kalbes, gewissermaßen die Materialisierung der allgemeinen religiösen Ungeduld im Volk. Das Goldene Kalb, ein typisches Symbol dieser Zeit, macht Gott endlich sichtbar, konkret und greifbar (Ps 106,19-20). Als Mose zum Volk zurückkehrt, ist er zutiefst erschüttert. Er zertrümmert die Tafeln mit den Zehn Geboten, der Weg Gottes mit diesem Volk scheint am Ende angekommen zu sein.

      Nun könnte man sagen: Tragisch, dass das Volk nicht noch ein wenig warten konnte. Aber vielleicht ist das auch verständlich. Ist es doch erheblich, was Gott ihm an Geduld und an Vertrauen abverlangt. Mose, möchte man meinen, ist da in einer ganz anderen Lage. Der kennt Gott nicht nur aus zweiter Hand, heißt es doch, dass Gott mit ihm „von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freund redet“ (Ex 33,11). Mose allein geht zu Gott auf den Berg Sinai, Mose allein darf eintreten ins Heiligtum dieser Zeit, ins Zelt der Begegnung, und die Begegnung mit Gott ist so real, dass alle im Volk den Glanz auf seinem Gesicht sehen können, immer wenn er mit Gott geredet hat (Ex 34,35). Mose allein hat einen solchen direkten Kontakt zu Gott. Kein Wunder, dass das Volk zu zweifeln beginnt und Mose nicht. Wirklich? Nein: Auch Mose hat seine Krise. Nach den Auseinandersetzungen um das Goldene Kalb berichtet die Exoduserzählung Folgendes:

      12 Und Mose sprach zu dem HERRN: Siehe, du sprichst zu mir: Führe dies Volk hinauf!, und lässt mich nicht wissen, wen du mit mir senden willst, wo du doch gesagt hast: Ich kenne dich mit Namen, und du hast Gnade vor meinen Augen gefunden. 13 Hab ich denn Gnade vor deinen Augen gefunden, so lass mich deinen Weg wissen, damit ich dich erkenne und Gnade vor deinen Augen finde. Und sieh doch, dass dies Volk dein Volk ist. 14 Er sprach: Mein Angesicht soll vorangehen; ich will dich zur Ruhe leiten. 15 Mose aber sprach zu ihm: Wenn nicht dein Angesicht vorangeht, so führe uns nicht von hier hinauf. 16 Denn woran soll erkannt werden, dass ich und dein Volk vor deinen Augen Gnade gefunden haben, wenn nicht daran, dass du mit uns gehst, sodass ich und dein Volk erhoben werden vor allen Völkern, die auf dem Erdboden sind? 17 Der HERR sprach zu Mose: Auch das, was du jetzt gesagt hast, will ich tun; denn du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen. 18 Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! (Ex 33,12-18)

      Auch Mose ringt mit Gott. Ja, Gott redet mit ihm, Mose hat mit ihm viel erlebt, viel Großes, aber auch Niederschmetterndes. Aber auch Mose ist an einem Punkt angekommen, wo er nicht mehr einfach weitermachen kann. Ja, Mose hat den Gott des Exodus erfahren, er hat den Gott des Sinai gehört. Aber er merkt, dass nun eine neue Aufgabe auf ihn wartet. In seinem Gespräch mit Gott geht es immer wieder um dasselbe: Zeige dich, Gott. Ja, du sagst, ich habe Gnade gefunden, du kennst mich. Aber was bedeutet das für den Weg, der vor mir liegt?

       2. Der offenbar verborgene und verborgen offenbare Gott

      Dreimal bittet Mose Gott, er möge sich ihm und dem Volk neu zuwenden und sich zeigen, und dreimal antwortet Gott ihm. In der dritten Antwort setzt Gott dreimal an:

      „19 Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des HERRN vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. 20 Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. 21 Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. 22 Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. 23 Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir hersehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen“ (Ex 33,19-23).

      Die Antwort ist paradox. Ja, Gott antwortet Mose abermals. Ja, Gott bekräftigt seine bisherigen Zusagen an Mose. Und mehr noch: Gott will und wird sich Mose noch einmal offenbaren. Gott sagt ja, ja und noch einmal ja. Und mittendrin sagt Gott auch einmal: Nein. Ausgerechnet dem zentralen Wunsch Mose, „zeige dich, lass mich deine Herrlichkeit sehen“, verweigert sich Gott: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen“ (33,20).

      Was bedeutet diese paradoxe Antwort, dieses Ja und Nein? Zunächst einmal dies: Gott weist die Bitte des Mose nicht einfach ab. Er sagt nicht Nein und Basta. Mose darf so fragen. Es gehört zum Wesen des Glaubens, dass dieser nicht ein für alle Mal ein sicherer Besitz ist. Die Erinnerung an den Gott des Exodus ist allein keine Gewähr dafür, dass du mit Gott heil durch die Wüste kommst. Gott wendet sich Mose zu, er verheißt ihm die Erfahrung einer neuen Nähe. Gott kommt Mose denkbar nah. Und doch nicht wie gehofft: Sein Angesicht, seine Herrlichkeit wird Mose nicht sehen. Ja, Gott kommt ihm nah, er will seine Hand über Mose halten. Was für eine Geste der Zuwendung. Und zugleich: Gott umgibt ihn mit seiner Hand, damit Mose nicht sehen kann, wie Gott vorübergeht. Ja, Gott zeigt sich, er macht sich sichtbar. Aber was Mose sehen wird, ist, wie Gott davonzieht. Gott kommt ihm nah, doch sehen wird Mose nur, wie Gott sich wieder entzieht.

      Es hat die Bibelausleger viel beschäftigt, wie realistisch die Schilderung gemeint ist. Was soll das denn heißen, dass Mose Gott von hinten sehen kann? Oder was bitte haben die Ältesten gesehen nach dem Bundesschluss am Sinai, wo es heißt: Und sie „sahen den Gott Israels. Unter seinen Füßen war es wie eine Fläche von Saphir und wie der Himmel, wenn es klar ist“ (Ex 24,10). Hat Gott einen Körper, mit Fußsohlen, Hand und Rücken? Heißt es nicht ganz eindeutig, dass man das Angesicht Gottes nicht sehen kann (Ex 33,20; vgl. auch Ri 6,22; 13,22 f.)? Widersprechen sich diese Texte?18

      Man kann an dieser Stelle nicht einfach von Widersprüchen reden. Zu plan- und absichtsvoll stehen diese scheinbar gegensätzlichen Linien nebeneinander. Diese Unklarheit ist für die Offenbarung Gottes wesentlich. So offenbart sich Gott: offenbar verborgen und verborgen offenbar.

       3. Geheimnis des Glaubens

      Wenn wir von Gott reden, rühren wir an ein Geheimnis. „Gott wohnt in einem Licht, zu dem niemand kommen kann, den kein Mensch gesehen hat, noch sehen kann“ (1Tim 6,16). Ja, Gott teilt sich den Menschen mit, durch die Schöpfung, durch die Propheten, schließlich durch seinen Sohn, durch Jesus Christus. Aber er bleibt darin stets unverfügbar, so, wie es im Blick auf den Heiligen Geist heißt: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt“ (Joh 3,8). Was wir uns am Beispiel des Volkes Israels und Moses klargemacht haben, gilt für alle biblischen Geschichten. Gott redet, handelt, greift ein – und dies stets so, dass alles, was man hört, sieht und spürt, zweideutig bleibt. Ganz grundsätzlich kann Paulus sagen: „Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen“ (2Kor 5,7). Nicht, dass es nichts zu sehen gibt, aber in dem, was zu sehen ist, wirklich Gott zu erkennen ist noch einmal etwas Anderes als das, was mit bloßem Auge zu erkennen ist. Diese Spannung lässt sich nicht auflösen. Gott macht sich anschaulich und bleibt doch unsichtbar, er lässt sich berühren und bleibt doch ungreifbar. Davon sind letztlich alle Einsichten des Glaubens geprägt.

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