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       3. Zarathustra und sein Schatten

      An vielen Stellen ist zu beobachten, dass wichtige Debatten über aktuelle Herausforderungen überlagert werden von einem regelrechten Sog der Polarisierung. In diesem Sog geht es nicht mehr um das nähere Verständnis der Sachfragen, sondern sofort um: Dieses Denken führt in die Irre bzw. ist das einzig mögliche; so zu fragen ist „liberal“ bzw. „fundamentalistisch“; wer so etwas befürwortet, gehört nicht mehr dazu bzw. muss ausgeschlossen werden etc. Wie kommt es zu dieser Logik der Polarisierung?

      Weit verbreitet ist die Diagnose: Eine solche der Logik der Polarisierung gilt als typisch für das, was man Fundamentalismus nennt. Gemeint ist damit die Vorstellung, dass es nur zwei konsequente Haltungen gibt, zwei Lager, zwei Richtungen. Solch fundamentalistisches Denken breite sich aus und mache zunehmend alle produktiven Gespräche unmöglich.

      Das Problem ist nun folgendes: Fundamentalismus ist keine wertfreie Beschreibung. Wer Fundamentalismus sagt, möchte die Alarmanlagen seiner Hörer anschlagen lassen. Natürlich kann man sagen, dass Idealtypen wie fundamentalistisch, modern oder postmodern in der soziologischen Betrachtung neutral verwendet werden, nicht abwertend oder verurteilend, sondern beobachtend und beschreibend. Aber die Schwierigkeit ist offenkundig: Es ist eine typisch moderne Herangehensweise, wissenschaftliches Denken als einen eigenen Weltzugang zu verstehen, bei dem man seine Wörter so verwendet, wie man sie definiert hat. In der Lebenswelt der meisten Menschen sind diese Begriffe jedoch keineswegs neutral. Prämodern klingt nach überholt und verstaubt, fundamentalistisch nach böse und gefährlich. Die öffentlichen Warnungen vor dem Fundamentalismus funktionieren nicht selten nach derselben Logik, die man „dem Fundamentalismus“ eigentlich vorwirft: hier die moderne, aufgeklärte, fortschrittliche Weltgemeinschaft – dort die bösen Fundamentalisten, die uns alle ins Unglück stürzen. So aber befördert man genau das Denken, von dem man sich eigentlich abgrenzen möchte.

      Sehen wir also näher hin? Was ist gemeint mit Fundamentalismus? Ursprünglich handelt es sich bei diesem Wort um eine konservativ-christliche Begriffsprägung. Im 20. Jahrhundert haben sich manche Christen bewusst als Fundamentalisten bezeichnet, um sich von allen liberalen bzw. modernen Erscheinungen in Theologie und Kirche abzugrenzen.11 Mit der Zeit wurde dieser Begriff übertragen auf radikale Erscheinungen aller Art: Das Wort Fundamentalisten wurde verwandt für religiöse Terroristen, für politische Extremisten und überhaupt für alles, was auf radikalen Widerspruch zur Mehrheitsgesellschaft setzt. Fundamentalismus gilt als „Aufstand gegen die Moderne“12. Dass sich auch sehr konservative Christen heute nicht mehr so nennen lassen möchten, ist nur zu verständlich.

      Im Folgenden möchte ich einen anderen Zugang zum Thema des Fundamentalismus suchen, einen Umgang mit diesem Begriff, bei dem nicht sofort bestimmte Gruppen gemeint sind, sondern potenziell jede Denkrichtung, wenn man sie immer weiter radikalisiert. Man versteht keine radikale Denkweise, wenn man nicht jeweils mitbedenkt, gegen was genau jemand seinen radikalen Widerspruch formuliert.

      Lernen lässt sich das beim Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900). Nietzsche kann man als eine Art Prophet der fortgeschrittenen Moderne bezeichnen, egal, ob man diese nun Spätmoderne oder Postmoderne nennt. „Gott ist tot“, dieser berühmte Ausspruch steht in Nietzsches Werk für den Schwund vieler traditioneller Gewissheiten, in der Religion, der Moral und der abendländischen Kultur insgesamt.

      Mit dieser Beobachtung stand Nietzsche im 19. Jahrhundert keineswegs allein. Karl Marx beschrieb diesen Prozess schon in seinem kommunistischen Manifest von 1848 – als eine Folge der Entstehung des modernen Kapitalismus:

      „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“13

      Für Marx waren diese Erschütterungen Folge der Industrialisierung und der zunehmenden Marktorientierung der ganzen Gesellschaft. Aus seiner Sicht wurden durch diese Auflösung aller Traditionen die Voraussetzungen geschaffen für eine neue Gesellschaft der Zukunft, die Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden ohne religiöse Vorurteile schaffen wird.

      Viele andere hingegen, konservative Christen und Monarchisten zumal, versuchten, den Verfall der Werte zu stoppen durch Stärkung von Autorität und Tradition, mehr und mehr auch der patriotischen und nationalistischen Orientierung der Bevölkerung.

      Nietzsche hielt weder die Errichtung eines utopischen Kommunismus noch die Rettung des christlichen Abendlandes für möglich. Zugleich staunte er über die Sorglosigkeit vieler Zeitgenossen, als könnte die permanente Auflösung aller überkommenen Gewissheiten folgenlos bleiben. Für Nietzsche war klar, dass es früher oder später zu heftigen Gegenbewegungen kommen müsste gegen die Umwertung aller bestehenden Werte. Diese Entwicklung würde ihre Schattenseite mit sich bringen. In seinem Werk Also sprach Zarathustra (1883) stellte Nietzsche diese Erwartung in Gesprächsform vor, zwischen Zarathustra, dem Vorreiter des radikalen Zweifels – und seinem „Schatten“. Was das für ein Schatten ist, wird durch dessen eigene Rede deutlich:

      „Mit dir strebte ich in jedes Verbotene, Schlimmste, Fernste: und wenn irgendetwas an mir Tugend ist, so ist es, dass ich vor keinem Verbote Furcht hatte. Mit dir zerbrach ich, was je mein Herz verehrte, alle Grenzsteine und Bilder warf ich um, den gefährlichsten Wünschen lief ich nach – wahrlich, über jedwedes Verbrechen lief ich einmal hinweg. Mit dir verlernte ich den Glauben an Worte und Werte und große Namen. […] ‚Nichts ist wahr, alles ist erlaubt‘: so sprach ich mir zu. In die kältesten Wasser stürzte ich mich, mit Kopf und Herzen. Ach, wie oft stand ich darob nackt als roter Krebs da!“14

      Was ist der Schatten? Ein Bild für diejenigen, die dieser Bewegung der allgemeinen Verunsicherung und Auflösung bereitwillig gefolgt sind – und dann einen radikalen Kurswechsel vollziehen. Es spricht gewissermaßen ein ehemaliger Jünger des Zarathustra, der diesem gefolgt ist durch alle Zweifel hindurch zur Auflösung aller früheren Gewissheiten. Doch der Rausch permanenter Befreiung scheint umzuschlagen in das Gefühl unsäglicher Leere. Was ihn einst angezogen hat, stößt ihn nun ab. Dem Rausch der großen Abschiede folgt der Kater eines umfassenden Verlustgefühls. Nietzsche lässt Zarathustra antworten:

      „Deine Gefahr ist keine kleine, du freier Geist und Wanderer! Du hast einen schlimmen Tag gehabt: sieh zu, dass dir nicht noch ein schlimmerer Abend kommt! Solchen Unsteten, wie du, dünkt zuletzt auch ein Gefängnis selig. Sahst du je, wie eingefangene Verbrecher schlafen? Sie schlafen ruhig, sie genießen ihre neue Sicherheit. Hüte dich, dass dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfängt, ein harter, strenger Wahn! Dich nämlich verführt und versucht nunmehr jegliches, das eng und fest ist.“15

      Nietzsche macht an dieser Stelle eine wesentliche Beobachtung. Der Schatten, d. h. der Mensch, der sich mit Zarathustra losgerissen hat von allen Traditionen und Ordnungen, kann nicht einfach zurück. In einer Zeit, in der sich vieles auflöst und alles im Fluss ist, entsteht zwar eine neue Sehnsucht nach beständigen, unveränderlichen Wahrheiten; aber die alten Gewissheiten sind nicht einfach wieder verfügbar. Attraktiv wird daher nun „jegliches, das eng und fest ist“.

      Mit seinem Bild des Schattens macht Nietzsche deutlich, wie Fundamentalismus funktioniert: Er ist eine Reaktion auf eine ungeheure Verunsicherungserfahrung. Und nun ist er radikal auf das fixiert, was er ablehnt. Er lebt nicht mehr in der fraglosen Gewissheit altehrwürdiger Tradition, sicher ist er sich vor allem in der Wut auf das, was ihn verunsichert hat. Nun lebt er gewissermaßen in permanenter Absetzung von seinem Gegner. Nichts ist für die Sehnsucht nach der großen Freiheit beflügelnder als die Beschäftigung mit den Ketten ehemaliger Gefangenschaft. Nichts ist für das Streben nach Sicherheit und Halt so bestärkend wie der angstvolle Blick auf die Mächte der Auflösung. Jeder Radikalismus lebt von der intensiven Beschäftigung mit seinem Gegenbild. Anfällig kann man dafür an allen Seiten des Spektrums

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