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wird ihnen zu einem Verhängnis besonderer Art: Die freie Konfessionsausübung (seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555) ging mit der konkurrenzfreien Ausübung des Berufs einher. Die Territorialstaaten begannen, Handel und Gewerbe in eigener Regie zu gestalten. Einerseits musste sich das Bürgertum um nichts kümmern. Andererseits hatte es nichts zu sagen. Selbst in der Theorie des Widerstands ist der Staat Dreh- und Angelpunkt des Denkens, die in Deutschland bezeichnenderweise fast so alt ist wie das neuzeitliche Staatsmodell. Denn selbst wenn man die in Deutschland entstehende und herrschende Staatskonzeption ablehnt, muss man sie als herrschende voraussetzen, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das deutsche Staatsmodell, in dem man es mit einem System, nicht mit einem Despoten zu tun hat, ist nicht einfach wegzudenken oder zu beseitigen. Deswegen beschäftigt man sich in Deutschland schon im 17. Jahrhundert sehr intensiv mit der Frage, wann es legitim ist, gegen eine politische Autorität Widerstand zu leisten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg war es bitter nötig, das wirtschaftliche Leben wieder in Gang zu bringen. Die neuen Intellektuellen der Zeit (die „alten“ besorgten in der Verwaltungswissenschaft den Nachschub an Getreide, die Finanzierung der Heere und andere Staatsaufgaben) sehnten sich nach dem Zusammenbruch alter Werte und nach einer neuen Ordnung, die auf Vernunft und Naturrecht beruht. Und vor allem: Einheit. Man suchte sie in einer tragenden Verfassung. Und auch diese sollte dem Verwaltungs- und Gestaltungswahn der Staatsbeamten zum Opfer fallen – bis schließlich nichts mehr dem Zufall überlassen war. Der Westfälische Frieden brachte eine neue Verfassung hervor, die die Fürsten des Landes regelrecht unabhängig machte und die zentrale Macht schwächen sollte. Das ist der Beginn der deutschen Kleinstaaterei. Um von einer Feudalgesellschaft vieler kleiner Fürstentümer zu einem modernen Staat zusammenzuwachsen, müssten diese Einzelmächte zu einer Macht vereinigt werden, die als gesetzgebende Autorität akzeptiert werden kann. Dies legt einen abstrakten Staat nahe, der mehr auf intellektuellem Kalkül als auf Pioniertaten beruht.

      Deutschland in kranker Verfassung

      DEUTSCHLAND IN KRANKER VERFASSUNG

      Samuel von Pufendorf ist derjenige, der Staat und Kirche endgültig voneinander trennen will, und der erste, der die Vernunft einsetzt, um das natürliche Recht des Menschen wirken zu lassen. Unter dem Pseudonym „Severinus de Monzambano“ veröffentlicht der sächsische Spross einer Dynastie von protestantischen Theologen im Jahr 1667 eine Schrift, die für Furore sorgt und in etlichen Auflagen und Sprachen erscheint: „Über die Verfassung des deutschen Reiches“.

      Diese „Verfassung“ kann man durchaus auch im psychologischen Sinne verstehen. Unter verdecktem Namen betrachtet von Pufendorf die Verfassung einer Nation als schwach, wenn sie „etwas Unregelmäßiges und Monströses zeigen“. Diese Schwäche und Unregelmäßigkeit ist in Deutschland so dominant, weil ein Kaiser versucht, monarchische Systeme wiederherzustellen, während die Reichsstände nach Unabhängigkeit streben. Beide aber haben eine gewisse Macht und schwächen dadurch das System. Deshalb verhält es sich im deutschen Kulturkreis so, „dass gewisse Elemente in der deutschen Verfassung es unmöglich machen, diese auf eine der so genannten einfachen Staatsformen (...) zurückzuführen“. Weil es nicht einfach geht, wird es kompliziert, und „abgesehen davon, dass jede Mischung verschiedener Staatsformen nur ein Monstrum von Staat darstellen kann, so passt auch keines genau auf das deutsche Reich“. Sein Urteil ist eindeutig: „Es bleibt also nichts übrig, als Deutschland, wenn man es nach den Regeln der Politik klassifizieren will, einen unregelmäßigen und einem Monstrum ähnlichen Staatskörper zu nennen, der sich im Laufe der Zeit durch die träge Nachgiebigkeit der Kaiser, durch den Ehrgeiz der Fürsten und die Ruhelosigkeit der Pfaffen aus einer Monarchie zu einer so ungeschickten Staatsform umgestaltet hat“ (v. Pufendorf 1922:94). So sieht es aus im Staate Deutschland in dieser Zeit. Im Zuge der Diagnose der „Krankheiten“ Deutschlands attestiert von Pufendorf dem Mittelstand einen Hang zur Eifersucht und Klage – ein regelmäßig auftauchendes Symptom der Volksmentalität, sobald es sich zu schwach fühlt, um die buchstäblich herrschenden Dinge zu ändern. Aber genau darin liegt der Kern der Krankheit: „ (...) eine Menge von Menschen, mag sie noch so zahlreich sein, ist nicht stärker als ein Mann, solange jeder seine besonderen Zwecke verfolgt“, sagt von Pufendorf. Konfessionelle Verschiedenheiten und die Durchsetzungsinteressen am Staat vom Kaiser einerseits, den Reichsständen und Territorialstaaten andererseits verhinderten jedoch jede Einigkeit. Nach v. Pufendorfs Auffassung liegt der prinzipielle Grund für das „fieberhafte“ Deutschland – der Disparatheit untereinander angesichts der monströsen Entwicklungen in Verfassung und Recht des Staates – in den Wurzeln der römisch orientierten Politik Karls des Großen und der Vorstellung, dass das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ sich immer noch immer als Nachfolger des römischen Imperiums betrachtet. Sein wichtigstes Heilmittel: Wiederherstellung der „inneren Eintracht“, vor allem durch die rechtliche Ausgewogenheit.

      Aber es gibt Hoffnung. Von Pufendorfs zweites großes Werk war „De jure naturae et gentium“ (1672). Er widerspricht dort der Lehre von Thomas Hobbes, dass jeder Mensch im vorstaatlichen Zustand „des anderen Menschen Wolf“ sei, oder dass es sich um einen Zustand des „Krieges aller gegen alle“ handeln würde. Jedenfalls war es seiner Ansicht nach nicht aus diesen Gründen notwendig, einen Herrscher einzusetzen oder einen Staat zu errichten. Mit dem Aufkommen des aufgeklärten Absolutismus entstand das Bedürfnis nach allgemein verbindlichen gesellschaftlichen Kodierungen, die diese Ideen in Gesetze und Rechtsprechungen umsetzten. Aufgrund der Vielzahl der Fürstentümer und Territorialstaaten sollte bei allen Verfassungen der spezielle „Volkscharakter“ gewahrt bleiben, aus dem ein Staat hervorgeht. Und so natürlich besonders der Deutschen.

      „Wage es zu denken!“: Die Aufklärung

      „WAGE ES, ZU DENKEN!“: DIE AUFKLÄRUNG

      An diesem Punkt, etwa ab 1700, geschieht etwas fundamental Neues: Die Entdeckung der eigenen und einzigartigen Fähigkeit des Menschen, selbst zu denken, sich selbst auszubilden und über sich selbst hinauszuwachsen – Kants „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Mündigkeit“, die Aufklärung. Es handelt sich um eine kulturelle Leistung, um die man Deutschland mit seinen bestimmenden Dichtern und Denkern einfach nur beneiden kann, allen voran der Denker Kant und der Dichter Goethe. Sie haben gegenüber allen anderen Kulturen sich nicht dem szientistischmechanistischen Weltbild angeschlossen, das seit Descartes ganz auf die Wissenschaft gesetzt hat, den Fortschritt preist und menschliche Potenziale außer Acht lässt. Umso merkwürdiger ist es, dass man in Deutschland diese Werte als „Klassiker“ einstuft und nicht das unglaubliche Potenzial in dieser Bewegung als eine deutsche Erfindung verbucht. Aber fangen wir von vorne an.

      Unter dem preußischen König Friedrich I. erlebt Preußen eine große intellektuelle Blüte. Der überragende Denker dieser Phase war der Philosoph, Mathematiker, Diplomat und politische Berater G.W. Leibniz. Leibniz‘ Auffassung vom Staat war geprägt von dem Bemühen um Humanität. Ideen zur Beförderung des menschlichen Glücks hatten Vorrang vor nationalen Anwandlungen. Der Staat bildete für ihn eine moralische Instanz, die einem allgemeinen Willen entspricht. Der Staat sollte sich der Prinzipien des Naturrechts annehmen. Die Herrschaft des Gesetzes war die wesentliche Aufgabe des Staates, neben Sauberkeit, Unterstützung der Armen und die Kultivierung der Wissenschaften und Künste. Leibniz‘ Theodizee, sein populärstes Werk, ist eine Hymne an die Freiheit unter den Bedingungen der Vernunft. Er legte damit die philosophische Grundlage für die Reformideen von Christian Wolff.

      Wolff wurde zunächst des Atheismus bezichtigt, des Reiches verwiesen und später von Friedrich Wilhelm I. rehabilitiert. Der Grund dafür war sein Weltruhm als führender Philosoph in Deutschland. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und galten an den Universitäten der Welt als Pflichtlektüre. Wolffs Rationalismus fand durch Propagandisten und Parodisten eine unvergleichliche Breitenwirkung. Doch noch zu Lebzeiten kamen seine Ideen aus der Mode, als neue französische und englische Denker Aufmerksamkeit erregten. Trotzdem war die so genannte Leibniz-Wolff-Schule im deutschen Kulturkreis derart fest institutionalisiert, dass Wolff als „Schulmeister der Deutschen“ galt, die mit seinem strengen und disziplinierten Denken einherging. „Sapere aude!“ – „Wage es, zu denken!“ war Wolffs Leitspruch, den später Immanuel Kant als Grundgedanken der Aufklärung

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