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mit Melanchthons Willen zur Ausgrabung der letzten Wurzeln des Christentums im Boden der römischen und griechischen Kultur. So bilden die beiden für das Projekt Wittenberg das perfekte Gespann. Die Tiefe und der Ernst der Bücher sind ihre Schatzkammer, sie besorgen den Wittenberger Studenten die passende Lektüre. Luther übersetzt von 1522 bis 1534 die Bibel, Melanchthon Aristoteles‘ „Nikomachische Ethik“. So kommt es nicht nur zur didaktischen Beschwörung der Antike im deutschen Schul- und Unterrichtswesen, sondern auch dazu, dass das neuzeitliche Verständnis von Mensch und Staat in Deutschland von Aristoteles und seinen Retro-Fanatikern geprägt ist. Was damit gemeint ist, kommt ganz eklatant in Melanchthons Verständnis von Aristoteles‘ „Politik“ zum Tragen: „Politia est legitima ordinatio civitatis, secundum quam alii paesunt, alii parent“, Politik als zivile Ordnung, in dem die einen befehlen und die anderen gehorchen. Die einen, das sind die Verwalter und Beauftragten des Staates, die anderen sind das Volk. Das Phänomen des Gehorsams gegenüber dem Staat hat in Deutschland also eine lange Geschichte. So lang, dass die extreme Gehorsamkeit der Deutschen der Beobachterin Madame de Staël noch dreihundert Jahre später auffällt.

      Durch diese Hin- und Rückwendung zum Aristotelismus wird die deutsche Bildungs-, Rechts-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte entscheidend geprägt – mit der denkwürdigen Wendung, dass die Intellektuellen des Landes von oben nach unten dozieren. Sie wurden entweder Prediger oder Beamte und Berater des Staatswesens. So entsteht das archetypische, hermetische, deutsche Modell vom „Staat“, wenn man so will, eine Art Instanz gewordenes Gewissen.

      Von Wittenberg in die Welt

      VON WITTENBERG IN DIE WELT

      Nachdem Luther und Melanchthon Wittenberg in eine Mustereinrichtung der Reformation verwandelt hatten, kümmert sich Melanchthon um andere Universitäten.

      So überziehen Gehorsam, Ernst und Innerlichkeit ganz Deutschland: In Marburg, Königsberg, Jena, Helmstedt, Straßburg, Gießen, Duisburg und Kiel werden zwischen 1527 und 1665 protestantische Universitäten gegründet. Die katholische Kirche lässt sich das nicht gefallen. Im Zuge der Gegenreformation entstehen bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts katholische Universitäten in Dillingen, Paderborn, Osnabrück, Bamberg, Innsbruck und Breslau. Aber der Einfluss Melanchthons ist gewaltig. Sein Verdienst ist es, Aristoteles‘ „Politik“ für den täglichen Gebrauch im Staatswesen fruchtbar zu machen. Melanchthons Image heute ist das nach einem von Karl Hartfelder 1889 geprägten Wort vom „Praeceptor Germaniae“, dem „Lehrer Deutschlands“. Seine Adepten und Kopisten perfektionieren in den nächsten Jahrhunderten das Verwaltungsmodell Deutschland bis zum unübersichtlichen „Monströsen“, wie Samuel von Pufendorf im 17. Jahrhundert die Staatsverfassung Deutschlands bezeichnet. Kein Wunder: Bis zur Aufklärung war diese Art Staatsbildung Sache der Kopisten und Kameralisten der „old school“ Wittenbergs. Und die verstanden keinen Spaß. Sie machten buchstäblich Ernst.

      Das Tragische: Martin Luther wollte ursprünglich eine Art Verfassung für Deutschland niederlegen, Melanchthon für ihre Durchsetzung sorgen. Er folgte zwar der Lehre Luthers, hielt aber für die Durchsetzung politischer Interessen Cicero und Aristoteles für eine bessere Anleitung als die Bibel. Luther ging eher nach menschlichem Instinkt in dem Sinne, dass (Zitat) „aus einem verzagten Arsch selten ein lustiger Furz komme“. Natürliche Rechte waren aber für Melanchthon nicht die Auswüchse menschlicher Instinkte, sondern die Bildung göttlicher Weisheit und Gerechtigkeit in der menschlichen Seele. Auch für ihn war jede Regierung von Gott eingesetzt. Ihre Macht aber bekam sie nur durch ein Volk, das der Regierung gehorcht.

      Die Machtverhältnisse sind damit konzeptionell klar geregelt. In der neuzeitlichen politischen Verfassung entsteht die soziale Ordnung durch die klare Unterteilung in befehlende Obrigkeit und parierende Untertanen. Das lateinische „parere“ („gehorchen“) erscheint noch in der Redewendung vom „Vaterland“, denn es hat die gleiche Quelle wie das lateinische „parentes“, die Eltern. Der Mythos vom „Vaterland“ mit seiner Konnotation der Unterwürfigkeit ist in Deutschland bereits im ausgehenden Mittelalter angelegt.

      Im Würgegriff des StaatesM

      IM WÜRGEGRIFF DES STAATES

      Europa lernte, dass bürokratische Wohlfahrtsstaaten und mächtige Gewerkschaften die einzige Alternative zum erbitterten Klassenkampf seien; die Amerikaner lernten, dass Regierung und Gewerkschaften bestenfalls notwendige Übel sind“, schreibt Walter Russell Mead in seinem Artikel „Goodbye Europa“ (SZ vom 3. Mai 2002). Der deutsche „Staat“ ist offenbar seit Luther und Melanchthon mit dem merkwürdigen Mythos behaftet, allumfassend zu sein. Alles politische Denken ging damals von einem Staat aus, dessen Träger vorstehen, und der Rest gehorcht – und vieles scheint noch immer davon beherrschend zu sein. Die damaligen Träger des „Staates“ sind vor allem Intellektuelle, die in seinem Dienst und beratend und verwaltend tätig sind. Das ist eigenartig: Die deutsche Intelligenz der ersten Stunde berät den Staat und seine Herrscher. Damit haben sie fast eine größere Macht als die Herrscher selbst. Und gleichzeitig sorgen sie dafür, dass Macht und Wissen in ihren Reihen bleiben. Dass der Staat die „ultima ratio“ alles Denkens und Handelns ist, scheint den Zeitbewohnern Deutschlands gar nicht anders vorstellbar. Deshalb bekommt der Staat in Deutschland die überbewertete Rolle, eine Art Träger des Verstandes sein zu müssen. Statt etwa der pragmatischen Machtphilosophie von Machiavelli, dessen weltliche Gebrauchsanweisung für Machthaber, der „Prinicipe“, 1513 zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt wurde, setzt sich die kleinkarierte und kleingeistige Beamtenpolitik der an der Universität ausgebildeten Angestellten durch, die sich im Rahmen ihrer Verselbständigung immer weiter in die kleinsten Adern der lebensweltlichen Dinge hineinfrisst. Aus der Überlegung, Für- und Vorsorge für das Volk zu treffen, entwickeln die universitär ausgebildeten Berater in Deutschland die Policey- und Kameralwissenschaften, und aus ihnen gewaltige Beamten- und Verwaltungsapparate. Aus den spätmittelalterlichen politischen Beratern wird das neuzeitliche Verwaltungspersonal, das sich um Ordnung, Sicherheit, wirtschaftliche Absicherung und die Sicherstellung staatlicher Einkünfte durch die Untertanen kümmert. Die Beamten hatten sich an die Prinzipien der Aktenmäßigkeit, der Anonymität und der hierarchischen Organisation zu halten, die später von dem Soziologen Max Weber als „Grundprinzipien der neuzeitlichen Bürokratie“ definiert wurden.

      Bürokratie vor Demokratie

      BÜROKRATIE VOR DEMOKRATIE

      Die Entwicklung vom Fürstenstaat zum abstrakten Verwaltungsstaat hat auch seine positiven Seiten. Die aufkommende Dominanz des Staates unter lutherischer Prägung beruht auf dem Willen, vorherige Ereignisse zukünftig zu vermeiden. Erinnerungen aus dem Dreißigjährigen Krieg wie das Massaker der Bartholomäusnacht in Frankreich (1572) und der Mord an Wallenstein sind noch sehr präsent. Dieser Willkür konnte ein rechtmäßig eingesetzter Staat Einhalt gebieten. Dieser Staat aber musste ein neuer, ein vor- und fürsorgender Staat sein. Aus der Not entstand durch die dringend notwendigen Fragen der Absicherung der elementaren Bedürfnisse des Volkes, vor allem geweckt durch akute Hungersnöte in Kriegs- und Krisenzeiten die Grundlegung des modernen Wohlfahrtstaates, und die zu dieser Zeit in Deutschland entwickelten Prinzipien der Entwicklung entsprechender Systeme wurde seit der Hälfte des 19. Jahrhunderts ein echter deutscher Exportschlager. Nicht übersehen sollte man dabei, dass der damalige Staat so handelte, um durch das Überleben des Volkes sein eigenes Überleben zu sichern. Sämtliche merkantilistischen Tätigkeiten und Möglichkeiten der Machts- und Wirtschaftsexpansion liegen natürlich in den Händen der Machthaber, und ihre Träger sind die Beamten. Ihr Wesen ist der nicht klar umrissene, aber umso idealere „Staat“. Das Problem: Die Vielzahl der kleinen Fürstenstaaten mit ihren territorialen Machtansprüchen verhindern eine Einheitlichkeit in Form eines Staates über den gesamten deutschen Sprachraum. Wären die weniger gebildeten Zulieferer des Staatswesens, die Mitglieder des Volkes, gefragt worden, sie hätten schon damals nicht viel für die Idee des Staates übrig gehabt. Schließlich waren sie dem System des Beamten- und Bürokratenstaates ausgeliefert. Ein Zeugnis dafür ist Veit Ludwig Seckendorffs „Teutscher Fürstenstaat‘ von 1656, ein einflussreiches Werk aus der Lutherschule. Es bildet über ein Jahrhundert lang den wichtigsten Text zur politischen

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