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auch immer dieses Böse definiert sein mag.

      Von allen altnordischen Göttern ist Thor der Einzige mit dieser besonderen Mission, und er ist auch der Einzige, der viele seiner gefährlichen mythologischen Abenteuer in menschlicher Gesellschaft erlebt. Man kann ihn daher auch als einen „Gott des Volkes“ bezeichnen. Dennoch bestand Uneinigkeit im Hinblick auf die Ziele, denen Thor dient, sowie auf die Feinde, gegen die seine Kräfte gerichtet sein sollen. Diesbezüglich kann gesagt werden, dass er in den letzten 1000 Jahren – und besonders deutlich in den letzten 250 Jahren – in Anspruch genommen wurde, um verschiedenste nationale und regionale Angelegenheiten zu fördern. Kein anderer Gott der altnordischen Mythologie, nicht einmal Thors Vater Odin, hat eine derart kontroverse und prominente Geschichte.

      Die vorliegende Studie beginnt mit einer Erkundung der Erscheinungen Thors in den frühesten bekannten Quellen, hauptsächlich in jenen, die im mittelalterlichen Island in der Lieder-Edda und der Prosa-Edda erhalten geblieben sind. Dann wird den Fragen nachgegangen, warum und wie eine so vielschichtige Mythologie überhaupt entstehen konnte und wie es kommt, dass sich dem Thor ähnliche Gottheiten auch in den antiken Mythen des Mittelmeerraumes, Persiens und Indiens finden. Diese Gemeinsamkeiten mythologischer Systeme gehen über bloßen Zufall hinaus und führen uns in Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung zum – wahrscheinlich – ursprünglichen Donnergott zurück. Doch es war der altnordische Thor, der hammerschwingende Verbündete des einfachen Volkes, den die Krieger und Seefahrer der Wikinger verehrten, dessen Erinnerung in den isländischen Sagas und der skandinavischen Geschichte durch das Mittelalter hindurch erhalten geblieben ist, und es war derselbe Thor, der zur Zielscheibe rücksichtsloser Könige wurde, die ihren Einfluss im christlichen Europa auszudehnen suchten. Es waren die Kultstätten Thors, in welchen blutige Menschenopfer dargebracht wurden, die jene Könige und ihre Missionare danach trachten ließen, sämtliche Spuren des Gottes auszutilgen, zumeist mit Feuer, Schwert und Enteignung jener, die sich weigerten, die neue Ordnung anzunehmen.

      Mit dem Niedergang des Heidentums und der Verbreitung des Christentums fanden die skandinavischen Länder schnell zu einer neuen kulturellen Identität in Europa, doch das außergewöhnliche Erbe der heidnischen Vergangenheit lebte im Brauchtum fort; skandinavische Monarchen zahlten stattliche Summen für die Erforschung der Frühgeschichte ihrer Länder und leiteten aus dieser das Recht ab, über ihre Nachbarn zu regieren. Auf diese Weise blieben altnordische Mythen und Legenden erhalten. Als im späten 18. Jahrhundert ein neuer Geist der Romantik über Europa heraufzudämmern begann, brach plötzlich das gesammelte Wissen jener Vergangenheit aus der düsteren Enge der Schreibstuben der Hofhistoriker hervor an das Licht der Öffentlichkeit und wurde so zu einer wichtigen Inspirationsquelle für Patrioten, Poeten und Bühnendichter. Gerade Thor kam wie kein anderer dem Bedürfnis vieler entgegen, nationale Traditionen neu anzueignen und fremde Einflüsse abzuschütteln. Wohin genau dies den Gott geführt hat, ist Thema des letzten Teils dieser Untersuchung. Es ist die Erzählung von Gier, Eifersucht, Kriegslust, Vorurteilen und schlussendlich vom Weltkrieg. Ebenso ist es die Erzählung von Thor, der aus einem rein skandinavischen Kontext heraus südwärts in die Niederungen nationalsozialistischer Ideologen im Deutschland Adolf Hitlers gezogen wurde.

      Der Makel, mit welchem die altnordische Mythologie seit ihrem Missbrauch durch die Nationalsozialisten behaftet ist, konnte bis heute nicht vollständig eliminiert werden, ebenso wie der damit verbundene Argwohn gegenüber dem elitären Denken der Gelehrten.

      Die Gegenbewegung, die sich in den USA im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts als Reaktion auf diese elitäre Kultur ausgebildet hat, war die Massenkultur. Einst dreidimensional zur Schau gestellter Vorkämpfer der „Herrenrasse“, finden wir Thor in den Vereinigten Staaten auf zwei Dimensionen zu The Mighty Thor, einem Superhelden in Nöten, reduziert. Thors Geschichte vom Mythos zum Marvel Comic handelt von der Entwicklung des modernen Europa und dem Aufkommen der Ideologie des Massenkonsums. Sie ist eine Geschichte mythologischer Größenverhältnisse.

Kapitel 1 Der Riesentöter: Thor in der altnordischen Mythologie

      Snorri Sturluson

      Wie Snorris grausames Ende zeigt, war das Island des dreizehnten Jahrhunderts ein Ort großer Unruhe, wo Gier und Eigennutz herrschten und schließlich zum Bürgerkrieg führten – ein Zustand, an welchem der norwegische König großen Anteil hatte. Snorri trug, als Schlüsselfigur in der Machtpolitik jener Tage, durch sein Handeln kaum zu einer Verbesserung der Gewaltsituation bei. Island war eine 250 Jahre alte oligarchische Republik, wie sie im übrigen Europa unbekannt war. Etwa zwanzig Jahre nach Snorris Tod war die Unabhängigkeit Islands nicht länger aufrecht zu erhalten, und das isländische Parlament ordnete sich bereitwillig der norwegischen Monarchie unter. Noch im selben Jahrhundert begann in Island eine Literatur zu wachsen, die noch heute weltweit als eine der größten kulturellen Leistungen aller Zeiten gilt. Eine zentrale Bedeutung kam dabei Snorri zu.2

      Was das Schicksal Snorri an freier Zeit beschert hatte, war niemals verschwendet. Drei Meisterwerke mittelalterlicher Literatur sind ihm zu verdanken: die Heimskringla, eine umfangreiche Geschichte der norwegischen Könige, die Egils saga, eine fesselnde Erzählung von Snorris Krieger- und Dichtervorfahren aus dem zehnten Jahrhundert, und die Prosa-Edda (in diesem Fall bezeichnet der Begriff „Edda“ eine Erklärung der altnordischen Mythologie und der mit dieser verbundenen traditionellen Dichtung). In diesem späten, in den 1220er Jahren entstandenen Werk, wird die altnordische Götterwelt klarer beschrieben als in sämtlichen anderen mittelalterlichen Quellen. Niedergeschrieben in einem Stil, der den Aufbau des europäischen Volksmärchens, Motive aus der griechisch-römischen Literatur und gelehrte christliche Kommentare miteinander vereinigt, ist Snorris Gestaltungsform sowohl für den verfeinerten als auch für den volkstümlichen Geschmack seines zeitgenössischen Publikums bezeichnend. Die Prosa-Edda ist dennoch nicht als Werbung für das Heidentum verfasst, zumindest nicht in einem ideologischen Sinne. Im Gegenteil, er ermahnt seine Leser ausdrücklich, dass „Christenmenschen weder an heidnische Götter glauben sollen, noch an die Wahrheit dieser Darstellung … “3

      Obwohl Island zu den letzten Ländern Europas gehörte, die das Christentum annahmen – im Jahre 1000 unserer Zeitrechnung – war es bereits im dreizehnten Jahrhundert völlig in die isländische Kultur integriert, auch wenn unter vielen Amtsträgern Groll über den fremden Druck herrschte, der die Unabhängigkeit des isländischen Kirchen- und Steuerwesens bedrohte. Unter den Verteidigern der Autonomie der isländischen Kirche galt dies nicht zuletzt

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