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aufleuchten zu lassen, gewährt er einen tiefgründigen und einzigartigen Einblick in frühe germanische Sitten und Glaubensvorstellungen. In der Germania finden wir die erste Erwähnung der Verwandtschaftsverhältnisse der germanischen Götter, die Tacitus in Übereinstimmung mit der Vorgehensweise, die als interpretatio Romana bekannt ist, mit den Namen ihrer römischen Äquivalente belegt: ‚Von den Göttern verehren sie am meisten den Merkur, dem sie an bestimmten Tagen auch Menschenopfer darzubringen, für Recht halten. Herkules und Mars versöhnen sie durch zulässige Tieropfer.’21 Merkur, der Gott des Handels, den Julius Caesar in seinem Gallischen Krieg ebenso als den meistverehrten Gott der Germanen erwähnte, korrespondiert hier mit Odins Vorläufer Wotan; Herkules, der Keulen schwingende Gott, der für seine Stärke bekannt ist, entspricht Thors Vorläufer Donar; und Mars, der imperiale Kriegsgott, der einst aber auch ein Fruchtbarkeitsgott gewesen ist, korrespondiert vermutlich mit Tyrs Vorläufer Ziu. Was Odin und Thor betrifft, unterscheidet sich ihr Bild kaum von dem, das wir in den Eddas beschrieben finden.

      Doch in schwedischen Überlieferungen, tausend Jahre nach Tacitus’ Darstellung der germanischen Bräuche, scheint Thors Aufgabe die trifunktionalen Grenzen zu durchkreuzen und er in einen Rang über Odin hinaus erhoben zu werden. Etwas davon ist in einer Beschreibung des heidnischen Tempels zu lesen, die der deutsche Chronist Adam von Bremen in der letzten Hälfte des elften Jahrhunderts verfasste:

      In diesem Tempel, der ganz mit Gold geschmückt ist, verehrt das Volk die Standbilder von drei Göttern, und zwar so, dass der mächtigste von ihnen, Thor, mitten im Gemach seinen Thron hat; zu beiden Seiten nehmen Wotan [Odin] und Frikko [Freyr] Plätze ein. Die Bedeutung dieser Götter ist folgende: Thor, sagen sie, herrsche in der Luft und gebietet über Donner und Blitz, Wind und Regen, heiteres Wetter und Fruchtbarkeit. Der andere, Wotan, das heißt der Wütende, lenkt die Kriege und verleiht dem Menschen Stärke gegen seine Feinde; der dritte ist Frikko, der Frieden und Freude den Sterblichen spendet.

      Sein Bildnis versehen sie auch mit einem gewaltigen männlichen Glied. Den Wotan aber stellen sie bewaffnet dar, wie unser Volk es mit dem Mars zu tun pflegt. Thor mit seinem Zepter verkörpert anscheinend den Jove [Jupiter] …

      Für alle ihre Götter haben sie Priester ernannt, die die Opfer für das Volk darbringen. Wenn Seuche und Hungersnot drohen, wird dem Abbild des Thor ein Trankopfer dargebracht; wenn Krieg, dem Wotan; wenn es Hochzeiten zu feiern gibt, dem Frikko.22

      Wenn die Informationen Adams weitgehend stimmen, dann ist Thor, wie Jove oder Jupiter, der höchste Gott, ein Himmelsgott, der über Donner und Blitz gebietet; das Zepter, das er in der Hand hält, kann durchaus eine Fehldeutung Mjöllnirs gewesen sein. In dieser Darstellung der religiösen Hierarchie wird die drittrangige Stellung der Fruchtbarkeitsgötter, in der sie in den Eddas gewöhnlich erscheinen, stattdessen als höchste Funktion präsentiert, die zumindest in Teilen durch Thor veranschaulicht wird. Auf eine relativ weit verbreitete Vorstellung von einer Gottheit in der Weise, wie Thor von Adam beschrieben wird, weisen altertümliche Opferrituale der Samen hin. In diesen werden die Vorstellungen von Erde und Donner miteinander vereint, um die Fruchtbarkeit der Viehbestände anzuregen und um Regen für das Gedeihen der Feldfrüchte zu erbitten. Trotzdem, so argumentiert Dumézil strikt, darf Thor nicht als Fruchtbarkeitsgott im selben Sinne wie Freyr oder Freyja gesehen werden; seine vermeintliche Unterstützung bei der Nahrungsmittelproduktion kommt weniger als Ergebnis beabsichtigter Handlungen zustande, die auf die Urbarmachung der Erde abzielen, sondern ist vielmehr ein glückliches Nebenprodukt seiner heftigen kosmischen Aktivitäten.23

      Selbst in der Zeit nach der Bekehrung stimmten kulturelle Überlieferungen, die den Platz Thors in der Rangordnung der altnordischen Götter betrafen, nicht zwangsläufig mit dem überein, was wir dazu in den Eddas finden; allerdings tendierten christliche Autoren dazu, ebenso wie Thors Anhänger aus Uppsala, ihn als Jupiter zu betrachten. In ihrer Ablehnung aller heidnischen Gottheiten setzten Saxo Grammaticus, ein dänischer Historiker des zwölften Jahrhunderts, und Ælfric, ein englischer Homilet und Prediger im zehnten Jahrhundert, Jupiter mit Thor gleich und folgten damit der römischen Tradition, die Odin mit Merkur identifizierte, wobei Odin allerdings nicht als höherrangig gegenüber Thor gesehen wurde.24 Die gleiche Beurteilung von Thors Status finden wir in der Clemens Saga, eine der vielen Lebensgeschichten Heiliger, die aus frühen lateinischen Quellen von isländischen Klerikern zur Erbauung ihrer Landsleute während des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts übersetzt wurden. In dieser Erzählung über Pontifikat und Märtyrertum des Heiligen Clemens von Rom im ersten oder zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, wird das Prinzip der interpretatio Romana umgekehrt, wobei den römischen Gottheiten die Namen ihrer mutmaßlichen altnordischen Entsprechungen gegeben werden. Hier bezieht sich der Übersetzer auf den Tempel Thors, der sicherlich dem Tempel des Jupiter entspricht. Als Clemens von ‚verstockten Heiden’ angegriffen wird, bezichtigen diese ihn der Gotteslästerung, werfen ihm vor, dass er die Befähigung zu seinem Amt durch Zauberei erlangt habe und ‚unsere edlen Götter entehrt und sagt, Thor sei kein Gott, unser treuer Schutzpatron und die höchste Göttlichkeit, voller Mut und immer nahe, wo immer er verehrt wird.’25

      Weiterhin wurde ihm zur Last gelegt, alle nordischen Götter in Verruf zu bringen. Doch ziehen nicht alle Hagiographen die gleichen Parallelen zwischen den römischen und den altnordischen Göttern, weshalb Thor – abhängig von der jeweiligen Heiligenvita – hier mit Jupiter und dort mit Herkules gleichgesetzt wird, ebenso wie Odin sowohl als Jupiter oder Herkules wie auch als Merkur oder Mars auftauchen kann.26 Trotzdem erlangten, wie hinlänglich bekannt ist, die Korrespondenzen zwischen altnordischen und römischen Göttern eine quasiorthodoxe Festschreibung – und zwar in den Tagen der Woche. Eine vereinfachte Darstellung dieser Entsprechungen wäre die folgende: der germanische Dienstag [engl.: Tuesday] oder Tyrs-/​Tiustag entspricht dem ‚Marstag’, wie im Französischen Mardi; der Mittwoch [engl.: Wednesday] oder Odins-/​Wodenstag entspricht dem ‚Merkurtag’, wie im Französischen Mercredi; und der germanische Thors-/​Donnerstag entspricht dem ‚Joves-/​Jupiterstag’, analog zum französischen Jeudi. Im Laufe des dritten Jahrhunderts u. Ztr. wurde die Ersetzung der germanischen durch römische Götter in den Namen der Wochentage üblich.27

      Die unterschiedlichen Einschätzungen der Rangordnung der Götter und die damit implizierte unterschiedliche Bewertung der Wichtigkeit der drei göttlichen Aufgaben sind durch die jeweiligen historischen Zusammenhänge bedingt. Handel und Wohlstand, der gewiss auch die Fruchtbarkeit der Felder und Viehbestände einschloss, hatten für die frühen Stämme Germaniens, von denen Tacitus berichtet, anscheinend Vorrang vor körperlicher Kraft und militärischer Leistungsfähigkeit. In späteren Zeitabschnitten wurde jedoch die militärische Leistungsfähigkeit zunehmend mit dem Schutz des Landes in Verbindung gebracht, der für den Besitz guter Weiden und eine reiche Ernte erforderlich war; mit der Verlagerung dieser Prioritäten wurde Thor eine größere Bedeutung zugemessen. Für das einfache Volk, das auf dem Lande oder auf See arbeitet, und – im neunten und zehnten Jahrhundert – auch in den kriegerischen Verbänden der Wikingerzeit nach materieller Verbesserung strebt, ist dies nachvollziehbar. Gerade weil Thor sich dieser großen Beliebtheit erfreute, wurde er von christlichen Berichterstattern als die wichtigste altnordische Gottheit wahrgenommen, und deshalb wurde ihm in besonderem Maße kritische Aufmerksamkeit zuteil; eine unbeabsichtigte Folge war, dass sich, zumindest für eine gewisse Zeit, die Anhänger Thors ihm jetzt erst recht zuwandten. Dass Thors Platz in der göttlichen Hierarchie in den Eddas oder in der Skaldendichtung nicht so stark glorifiziert wurde, ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass Dichter im Dienste der Aristokratie standen, deren politische Interessen und Ziele treffender von Odin widergespiegelt wurden. Was die Übereinstimmungen zwischen altnordischen und römischen Gottheiten betrifft, wird die Zuordnung auch dadurch erschwert, dass sowohl Verwandtschaftsstatus als auch Eigenschaften des jeweiligen römischen Gottes ebenfalls variieren können, je nachdem, ob sich das Imperium gerade im Krieg oder im Frieden befand. Darauf mögen die unterschiedlichen Einschätzungen der Entsprechungen verschiedener Götter in den Übersetzungen lateinischer Texte zurückzuführen sein, die auf das dritte und vierte Jahrhundert zu datieren sind, so wie es in vielen isländischen Sagas der Fall ist, die über das Leben von Heiligen berichten.

      Während die unbesiegten Germanenstämme

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