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gemäßigteren Verwalter Tschetscheniens ansahen. Maschadow wurde hingegen von russischer Seite unterstellt, dieser schrecke auch vor zivilen Geiselnahmen zur Durchsetzung seiner Ziele nicht zurück, was tatsächlich nicht der Fall war.105 Im Oktober 2003 wurde Kadyrow sen. in einer höchst umstrittenen Wahl zum Präsidenten Tschetscheniens gekürt und nur wenige Monate später, im Mai 2004 Opfer eines Anschlags im Stadion von Grosny.106

      Seitdem ist sein Sohn Ramsan Kadyrow107 der neue tschetschenische Präsident ›von Moskaus Gnaden‹.

      Maschadow wurde im Jahr 2005, eine Woche, nachdem er Putin ein Friedensangebot unterbreitet hatte, von einer FSB-Sondergruppe getötet.108

      Seit dem Jahr 2008 verließen zigtausende Tschetschenen ihre Heimat und zogen verstärkt nach Europa, hier insbesondere nach Belgien.109 Aus dieser Tatsache lässt sich z. T. die starke Gewaltaffinität der belgisch-dschihadistischen Szene ableiten, wie im Kontext der Feldforschung im europäischen salafistisch-dschihadistischen Milieu konstatiert werden kann.110

      Die kategorischen Versuche Russlands, sowohl die ursprüngliche tschetschenische Bevölkerung staatlich gesteuert zu enteignen und sich ihre Bodenschätze anzueignen, indem man versuchte, diese auszusiedeln, zu inhaftieren oder zu ermorden, als auch sie ihrer Sprache zu berauben, wenn man das zuvor erwähnte, dreizehnjährige Sprachverbot betrachtet,111 wirken wie ein gezielter Versuch, eine Volksgruppe ihrer Identität zu berauben. Darüber hinaus mutet das Bestreben, tschetschenische junge Männer willkürlich bei den erörterten »Säuberungsaktionen« zu verstümmeln,112 zu entmannen und als potentielle Gegner frühestmöglich zu demoralisieren, in Verbindung mit der staatlich gesteuerten Konstruktion des Bildes vom »wilden« und scheinbar »unkultivierten Tschetschenen«113 mittels russischer Medien wie ein Indikator für das über Jahrhunderte betriebene Vorhaben an, einen Genozid an dieser Volksgruppe zu verüben.114 Warum diese anti-tschetschenische russische Politik seit so langer Zeit praktiziert wird, ist fraglich und vermutlich nicht ausschließlich wirtschaftlichen Gründen geschuldet, sondern entspricht vielmehr einem Konglomerat von autoritären Herrschaftsansprüchen gegenüber sämtlichen umliegenden Regionen Russlands und einem ausgeprägten Überlegenheitsgefühl hinsichtlich anderer Kulturen, Religionen und Ethnien, der durchaus als ›russischer Orientalismus‹ bezeichnet werden darf.

      Wie im weiteren Verlauf anhand der Biographien der drei Tschetscheninnen erkennbar werden wird, erscheint Politkovskajas Fazit hinsichtlich der tschetschenischen Geschichte im Kontext der vorliegenden Untersuchung über die Gründe junger Tschetscheninnen, sich in den kriegerischen Dschihad zu begeben, als sehr plausibel, da die Journalistin konstatiert, dass die »prinzipielle Bedeutung von Freiheit und Unabhängigkeit des Kaukasus von Russland«, die durch die zwei Nationalhelden Mansur und Schamil personell in das kollektive Gedächtnis Tschetscheniens eingegangen ist, deshalb besonders prägend für »die tschetschenische Nationalpsychologie war, weil die Heimsuchungen und Nöte Tschetscheniens von Generation zu Generation immer wieder mit Russland in Verbindung gebracht würden«.115

      Die tschetschenischen Kämpferinnen verwenden in ihren Ausführungen zur ›Notwendigkeit‹ des Kampfes oftmals den Begriffs Gasawat, um ihre Teilnahme am kriegerischen Dschihad zu begründen.116 Der Begriff Gasawat bedeutet in der Übersetzung »Heiliger Krieg« und bezieht sich auf den Aufruf des ersten Imams des nördlichen Kaukasus, Scheich Mansur, an die lokalen Bauern und Stämmen, sich in Form des Gasawats gegenüber jeglicher Form sozialer Ungerechtigkeit, den Russen sowie deren regionalen Verbündeten, die als personifizierte Unterdrücker und Helfer des Bösen betrachtet wurden, zu erheben.117

      Inwiefern korrespondiert der hier beschriebene religiös legitimierte Volksaufstand jedoch mit der gegenwärtigen Dschihad-Teilnahme der tschetschenischen Kämpferinnen? Und wie ist es möglich, dass tschetschenische Frauen am Kampf teilnehmen, obwohl das kaukasische Moralgesetz Adat der Frau weder die Rolle der Rächerin noch die der Kämpferin zugesteht?118

      Um diesen Zusammenhang zu begreifen, empfiehlt sich ein kurzer Exkurs in die Konzeption des Terminus Dschihad. Der Begriff Dschihad leitet sich aus dem arabischen Wort

(Jahd) ab und wird als »Anstrengung« oder »Bemühen« übersetzt.119 Die Übersetzung des Begriffs Dschihad als »heiliger Krieg« ist demnach inadäquat, zumal das Synonym des Verbes ›kämpfen‹ aus dem arabischen Wort qital abgeleitet wird und viermal so oft im Koran Verwendung findet wie der medial präsentere Begriff Dschihad.120 Grundsätzlich wird der Dschihad in drei Dimensionen aufgesplittet:121 den kleinen, kriegerischen Dschihad, dessen Bedeutungsgehalt theologisch betrachtet sehr gering ist, den mittleren Dschihad, verstanden als ›Wissensstreit‹, sowie den großen und bedeutsamsten Dschihad eines jeden Gläubigen, die kontinuierliche Anstrengung, ein rechtschaffener Gläubiger zu sein.122 Die Verquickung des Konzeptes des kleinen Dschihads mit dem tschetschenischen Äquivalent des Gasawats der Kämpferinnen basiert auch auf dem Kult um die im historischen Exkurs erwähnten Muriden. Diese berühmten kaukasischen Kampftruppen waren nicht nur für ihre Glaubensfestigkeit hinsichtlich der Prinzipien der Scharia sowie des Gasawats bekannt, sondern wurden auch aufgrund der sozialen Gerechtigkeit, die sie in ihrem Umfeld konstituierten, verehrt.123 Die tschetschenischen Kämpferinnen versuchen demnach durch ihr Wirken, die Tradition dieser ›ehrenvollen‹ Kämpfer zu imitieren und hierdurch deren Andenken zu huldigen. In eben jener Tradition agierte auch Bassajew, der sich selber als Amir der Islamischen Brigade der Märtyrer bezeichnete, während der saudische Abu al-Walid vielmehr dem wahabitischen Dschihad-Konzept nacheiferte. Ein verbriefter Hinweis auf das Konzept des kleinen Dschihads bzw. Gasawats und die individuelle Pflicht zur Teilnahme daran, findet sich ebenfalls im Majlis al-Shura, dem nationalen Scharia-Verteidigungsrat, aus dem Jahr 2003 zur Verteidigung des Islams und dessen Verbreitung sowie zum Schutz ›Gläubiger‹ und ›Ungläubiger‹, die sich unter dem Schutz der muslimischen Rechtsprechung befänden.124

      Während das Kaukasus Emirat, als eine dschihadistische Gruppe mit Verbindungen zu Al-Qaida (AQ), bis zu Beginn der 2000er Jahre maßgeblich für terroristische Aktionen verantwortlich war, verlor diese Bewegung seit der Entstehung des Islamischen Staates, dem gegenüber viele lokale DschihadistInnen den Treueeid ablegten, an Bedeutung, obwohl das Kaukasus Emirat nach wie vor über zahlreiche Unterstützer verfügt, die in seinem Namen Anschläge verüben.125 Es existieren inhaltliche Übereinstimmungen hinsichtlich der dschihadistischen Ideologie des Kaukasus Emirats und der Gruppe Junud al-Sham, welcher die Respondentinnen vermeintlich angehören, bspw. im Hinblick auf die Ablehnung Andersgläubiger oder die Rechtfertigung von Gewalt.126 Unterschiede finden sich in Bezug auf die nationalstaatlichen Bestrebungen, die während der Interviews mit den Tschetscheninnen zum Teil erkennbar wurden und im weiteren Verlauf dieser Untersuchung detailliert werden.

      »Wir sind geboren in der Nacht, als die Wölfin Junge warf.

      Früh beim Löwengebrüll gab man uns unsere Namen.

      In Adlernestern fütterten uns unsere Mütter,

      Stiere zu zähmen lehrten uns unsere Väter.

      Unsere Mütter weihten uns unserem Volke und unserem Lande.

      Wenn sie uns brauchen, stehen wir ohne Furcht auf.

      Wir wuchsen mit Bergadlern in der Freiheit auf.

      Schwierigkeiten und Hindernisse überwanden wir mit Würde.

      Eher schmelzen die Feuersteinfelsen zu Blei,

      als dass wir in Leben und Kampf unsere Würde aufgeben.

      Eher bricht die Erde durch die brennende Sonne,

      als

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