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kaum vernehmbar, stolpernd oder hämmernd, sich wieder verlierend. Ein Herz, das dabei ist, das Schlagen aufzugeben.

      „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt’ für uns!“

      Das Andantino todtraurig. Ein Erschrecken beim Wechsel von a-Moll in fis-Moll. Noch atmete sie, noch hörte sie zu. Mit einem Satz hüpfte das klopfende Herz in den Tanzrhythmus des Allegro moderato. Lass es noch einmal mitschwingen, Tante Pepi! Du hattest nie einen Tänzer, aber getanzt hast du. Bei den Hochzeiten der anderen. Allein. Vehement drängte sich mir ein Bild auf: Ich seh dich, Tante Pepi, mit einem gefüllten Weinkrug auf dem Kopf. Du hast dich im Takt gewiegt dabei, keinen Tropfen verschüttet. Alles Ungeschlachte war von deinem Körper abgefallen. Hoch aufgerichtet, die Arme in die Hüften gestemmt, hast du die Schritte gesetzt, als gingest du mit einem Korb auf dem Kopf über die Weinhügel in die Bezirksstadt, um Eier, Kirschen, Äpfel, Doppelgebrannten zu verkaufen. Du hättest dich zu diesem Allegro moderato gedreht, als wäre es für dich komponiert worden, beschwingt und fröhlich auf dem Untergrund deiner Lebensmelodie in Moll.

      Darum wolltest du Schubert zum Sterben?

      Während des c-Moll-Moderatos, wo Schubert gleichmäßig perlend wie Bach klingt, wurde der Atem der Sterbenden ruhiger, leichter. Ihre Augen suchten meine. Oder bildete ich mir das nur ein? Mich packte die Angst, es könnte der letzte klare Blick sein. Ein neues Motiv schob sich über die kristallklaren Läufe: ein rhythmisches Sich-Fallenlassen, Hochschnellen, erneutes Fallen. Unerbittlich. Herzweh, das mir die Kehle abschnürte.

      „Wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen.“ Die Thresl war etwas lauter geworden, ich hatte ihr Murmeln nicht mehr wahrgenommen.

      Das Allegro vivace übertönte es. Zu laut, zu dramatisch, zu viel panischer Herzschlag. Verzweiflung im Marschrhythmus. Erschrocken drehte ich leiser.

      Mit dem Allegretto pendelte sich die Musik monoton melancholisch ein. Ich griff nach Tante Pepis Hand, spürte einen leichten Druck. Thresls Singsang und das plötzlich einsetzende rasselnde Atmen der Sterbenden übertönten das gedämpfte, sich von aller Schwere lösende, in den Schluss verlierende letzte „Moment Musical“.

      „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens. Amen.“

      VI

      Herzschlag

      Für Tante Pepi musste es die Schubertmesse sein. Unüblich, aber ich hatte darauf bestanden. Die Kirche war voll, bei uns nimmt man es noch genau mit den Verpflichtungen innerhalb der Verwandtschaft; väterlicherseits und mütterlicherseits machte die Sippe einen guten Teil der Dorfbevölkerung aus, dazu die Nachbarn und die Bäurinnen von der Frauenbewegung. Viele Begräbnisleute für eine, die das ganze Leben eine „Dirn“ war, eine Magd, deren Wert nur in ihrer Arbeitskraft bestanden hatte.

      Der Zug mit dem Sarg formierte sich, vorneweg der Ministrant mit dem Grabkreuz: „Josefine Dirnberger“, darunter „1909 – 1998“. Die Organistin improvisierte über das Schlusslied: „… selig pocht’s in meiner Brust. In die Welt hinaus, ins Leben, folgt mir nun des Himmels Lust.“

      Des Himmels Lust. Der Himmel – für Tante Pepi ein Vertrautes. Das, worauf sie hingelebt hatte. Aber des Himmels „Lust“? Ihres waren der Erde Mühen und Plagen, Lust ist in ihrem Leben wohl nicht vorgekommen. Oder doch? Wenn sie für sich allein im Stall gesungen hat? Wenn sie mit kundigen, starken Händen ein Kälbchen aus dem Leib einer schwer gebärenden Kuh gezogen hat und mit „narrischer Freud“ zuschaute, wie das „Kalberl“ mit unsicheren Beinen hochwippte und zu saugen begann? Des Himmels Lust, die Schwere der Erde. Der Sarg schwankte, von sechs Neffen getragen, aus der Kirche.

      Wer hatte denn ausgerechnet neben dem Friedhofstor einen Traktor geparkt? Die Dorfleute wussten doch, dass heute ein Begräbnis war.

      Der Traktor. Sein Motor begann zu pochen. Schwerfällig erst, ktok – ktok – ktok. Langsam in Fahrt kommend, tok, tok, tok. Letztendlich in einem rhythmischen Gleichmaß verharrend, das den Herzschlag eines Menschen ausmacht. Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

      Das grüne Blech über dem offenen Motorblock zitterte mit jedem Herzschlag mit. Das war – das war doch unserer! Der grüne 15er-Steyr, Baujahr 1953, den man noch mit der Kurbel starten musste. Pepi war lange Zeit die einzige Frau im Dorf gewesen, die Traktor fahren konnte.

      Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk. Über den Fahrersitz war ein schwarzes Kopftuch mit eingewebter silbergrauer Blumenbordüre gebreitet. Das konnte nur meinem Bruder eingefallen sein! Ihm war von Tante Pepi das Traktorfahren beigebracht worden. Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk – ein Dank, der zu Lebzeiten nie ausgesprochen worden war.

      Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

      Ein unterdrücktes Schluchzen würgte die Kehlen der „Bestattleute“, von denen nur wenige über den Tod der alten Frau wirklich zu trauern hatten. Die Jüngeren konnten sich kaum an sie erinnern, aber das klopfende, inständige „Toktohk, tok-tohk, tok-tohk“ ging allen unter die Haut. Die Männer wischten sich die Augen.

      Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

      Die Frauen weinten und schnäuzten sich.

      In meinen Ohren pochte ein Klavier zum Klopfen des Traktors.

      Das C-Dur-Moderato mit dem Herzschlagmotiv.

      Das traurige Andantino.

      Der heitere f-Moll-Tanz mit dem Hauch von Melancholie. Ich sah sie vor mir, die Tante Pepi, wie sie dem Leichenzug voraustanzt, auf dem Kopf den Weinkrug, im wiegenden Schritt zu Schuberts Allegro moderato: Tok-tohk, tok-tohk, tok-tohk.

      Als der Pfarrer anhob „Wir übergeben den Leib der Erde …“, verstummte das Tok-tohk. Tante Pepi war gestorben.

      VII

      Köszönöm

      Und jetzt, zehn Jahre später, sitze ich im Konzerthaus und höre den János Kahn spielen, als wüsste er von all dem. Ich möchte ihn umarmen dafür. Ich sehe nur seine Umrisse, meine Augen schwimmen. Er ist bei Schuberts letztem „Moment Musical“, dem Allegretto, angekommen. Dunkel und weich schlägt die Linke die todtraurigen Akkorde an, die Rechte huscht sacht über die Tasten, als würde sie einem heulenden Frauenzimmer tröstend übers Haar gleiten.

      Köszönöm, János Kahn. Danke, Franzl Schubert.

      I

      Heuballen

      Dr. Roland Stückler, aufrechten Gangs, wenn auch der Stütze eines Wanderstocks bedürftig, trat aus dem Dunkel des Waldes. Im jähen Sonnenlicht breitete sich vor ihm eine stark ansteigende Wiese aus, darüber hin verloren sich sommergrüne Weinzeilen ins Blau hinein. Frohgemut über Stock und Stein wandernd (wie er für sich selbst sein mühsames Hochstapfen zu bezeichnen pflegte), hielt er auf die beiden Traktoren zu, die sich am oberen Rand des Wiesenstücks bewegten. Sein aufgekratzter Sportsgeist reute ihn bald; er hätte den Umweg über die schmale Straße nehmen können, die sich weit weniger schweißtreibend als die von ihm gewählte Direttissima in sanften Kurven weinbergwärts wand. Stehenbleiben. Luftholen. Unangenehm nässend machte sich der Schweiß an gewissen Stellen seines Altmännerkörpers bemerkbar. Keine Wehleidigkeiten! Wiewohl schon im Ruhestand, war er immer noch fit, immer noch ein hochgeschätzter Chirurg, also frisch drauflos! Erhobenen Kopfes schritt er weiter aus.

      Was es heutzutage nicht alles gibt! Der eine Traktor dort oben sog mit einem gierigen, grünen Rachen Gras in sich hinein, das hinten wie fest gepresster Riesenkot ausgeworfen wurde. Der zweite Traktor nahm den gepressten Ballen auf ein Gestänge, schlang einen überbreiten, weißlichen Nylonverband herum und begann den zentnerschweren Rundballen einzuwickeln, bis er mumiengleich wieder vom Gestänge gerollt und auf der Wiese abgelegt wurde. Neugierig geworden, stieg Dr. Stückler, der sich erst vor zwei Tagen im südsteirischen Weinland eingemietet hatte, über die hingemähten halb trockenen Streifen Grases. Er reckte die Nase vor und sog dieses

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