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Stiege hinauf. In ihrer Strickweste über der weißen Bluse zum schwarzen Rock und mit den glänzend geputzten altmodischen Sonntagsschuhen fiel sie auf unter den Konzertgästen. Für sie aber war alles richtig, „wie in der Kirche“. Manchmal griff sie sich ins Haar, das Kopftuch fehlte ihr. Mit tiefem Ernst im Gesicht setzte sie sich auf den Platz auf der Galerie über dem Podium.

      Sobald János Kahn auftrat, hatte ich Tante Pepi vergessen. Schaute er nicht nach der ersten Verbeugung zur Galerie herauf? Zu mir?

      Das Programm war mir, der ambitionierten Musikstudentin, vertraut. Die sechs „Moments Musicaux“ konnte ich selbst spielen, sie sind technisch nicht sehr anspruchsvoll.

      Aber er, wie er sie spielte! Was seine Hände mit den Tasten anstellten, war nichts anderes, als mir das Paradies auf die Erde zu holen.

      Verstohlen blickte ich auf Tante Pepi. Wo war sie mit ihren Gedanken? Daheim bei ihren Kühen? Hölzern saß sie da, den Kopf nach vorn gereckt. Oh. Ihre Augen! Rund und grau ruhten sie im seichten Wasser. Das Andantino rührte sie an. Als János das schubertsche f-Moll-Tänzchen aufführte, war ein Stück Seligkeit in ihrem Gesicht. Es blieb, solange das cis-Moll-Moderato mit der Klarheit eines Bach-Präludiums dahinperlte. Es verschattete sich, als Elegisches Überhand gewann. Erschrocken zuckte Tante Pepi zusammen, als das Allegro vivace scharf und hämmernd losbrach. Mit halb geöffnetem Mund starrte sie auf den Pianisten, als ob er ihr von Himmel und Hölle erzählen würde, und – im Allegretto – vom Herumirren auf dem Weg dorthin.

      Die Leute klatschten. Tante Pepi schaute mich fragend an. Wieso machen die einen solchen Lärm? Es war Pause. Tante Pepi wollte nach Hause fahren. Das kränkte mich. Ich hatte nicht begriffen, dass bei ihr das Glas randvoll war mit noch nie Gehörtem, noch nie Gefühltem.

      „Hat es dir nicht gefallen?“, fragte ich im Auto.

      „Wohl“, antwortete sie einsilbig. Dann: „Wie der sich das hat ausdenken können, der kleine Mann. So was.“

      „Wer?“

      „Der halt, der gespielt hat.“

      „Tante Pepi, der hat sich das nicht ausgedacht, der hat nur nachgespielt, was sich der Franz Schubert ausgedacht hat, der von der Schubertmesse und von, Am Brunnen vor dem Tore‘.“

      „Ah so.“

      Wir waren schon fast daheim, als sie zum Reden ansetzte: „Gibt es von derer Musi eine Platte, dass man das noch einmal hören kann?“

      „Ich glaub schon. Hat es dir doch gefallen?“

      „Ja“, sagte sie mit großer Entschlossenheit in der Stimme.

      „Das möchte ich hören, wenn’s mit mir zum End geht. Ich bet immer um eine gute Sterbestunde. Da möchte ich das noch einmal hören. Kannst du mir das versprechen?“

      „Ich versprechs dir“, antwortete ich feierlich und beglückt. Tante Pepi und ich, wir waren zu Verbündeten geworden.

      V

      Abschiednehmen

      „Ist sie …?“ – Meine Augen suchten eine Antwort im Gesicht meines Bruders. Der schüttelte den Kopf. Ich war als Erste, nur mit Handgepäck, aus dem Zoll gekommen.

      „Sie wartet auf dich“, murmelte Karl, und mir wurde dabei klar, dass sein Kopfschütteln kein Verneinen war, sondern Verwunderung: Wieso fliegt seine Schwester wegen der alten Tant über den großen Teich?

      „Ich hab’s ihr versprochen“, antwortete ich auf die ungestellte Frage. „Ist sie im Spital?“

      „Zwei Wochen war sie im Spital, vorgestern haben wir sie heimgetan, unser Doktor meint, den morgigen Tag erlebt sie nicht mehr.“

      Warum hatten sie mich nicht angerufen? Der Weihnachtsbrief war eineinhalb Wochen unterwegs gewesen, und dass sie Tante Pepi ins Spital geben mussten, stand bloß in einem Nebensatz. Seit zwanzig Jahren arbeitete ich in den Staaten, längst war Telefonieren kein Luxus mehr, aber meine Familie blieb beim alten Brauch, mir zu den Festtagen einen Brief mit allen Neuigkeiten zu schreiben. Die unverwüstliche Tante Pepi im Spital! Alarmiert hatte ich einen Flug nach Hause gebucht.

      Obwohl fast neunzig, war Tante Pepi nie bettlägerig gewesen. Jedes Mal, wenn am Ende meines Heimaturlaubs das Auto mit den gepackten Koffern vor der Haustür gewartet hatte, hatte ich zum Abschiednehmen nach Tante Pepi gesucht. Gewöhnlich war sie im Stall zu finden gewesen, in letzter Zeit oft vor dem ausrangierten Esstisch im Wirtschaftsraum, wo sie Erbsen auslöste, Möhren putzte, Nüsse aufknackte.

      „Ich fahr wieder fort.“

      Und sie: „Kommst, wenn’s so weit ist mit mir?“

      „Kannst dich verlassen drauf. Und pfiat Gott!“

      „Pfiat di Gott!“

      Jetzt war es so weit mit ihr.

      Ich war zwanzig gewesen, als ich ihr versprochen hatte, „in der Sterbestunde“ den Schubert zu spielen. Sie war damals schon bald siebzig. Gut zwei Jahrzehnte war das her. Ich war nach Amerika gegangen, war verheiratet gewesen und wieder geschieden, hatte Karriere gemacht. Sie, die Tante Pepi, war immer dieselbe geblieben, die schweigsame, arbeitsame alte Frau mit dem Kopftuch. Erst beim vorletzten Heimaturlaub hatte ich gemerkt, dass der ungefüge Körper zusammengegangen war, und das letzte Mal sah ich, dass ihre alten Kleider fremd am hageren Leib herunterhingen.

      Noch bevor ich das kleine Zimmer betrat, war Karl zu ihr hineingegangen: „Die Fini ist da!“

      Ein gellender Aufschrei empfing mich: „Fini! Die Fini!“ Man hatte mich nach ihr, meiner Taufpatin, Josefine getauft, unglücklicherweise. Ich bin jetzt die Josy. Sie, Josefine Dirnberger, Pepi gerufen, lag mit weit geöffneten Augen in ihrem Bett und schaute mir entgegen.

      „Dass d’ da bist!“

      „Ich habe dir die Musik mitgebracht“, würgte ich heraus.

      Mühsam bewegte sie den Kopf zu einem Nicken. Dann fiel die Anstrengung ab von dem ausgezehrten Gesicht, die Lider senkten sich über die obere Augenhälfte, als wäre es zu mühsam, sie ganz zu schließen. Die Tür der Kammer ging auf und meine Schwägerin kam mit der Nachbarin herein, der Thresl, die musste auch um die neunzig sein.

      „Die Thresl ist zum Beten kommen. Sie sagt, die Pepi ist a fromme Frau, die soll net ohne Beten sterben.“ Thresl reichte mir wortlos die welke Hand, setzte sich auf einen Stuhl und nahm ihren abgebeteten Rosenkranz heraus. Ich ging mit der Schwägerin hinaus, holte meinen flachen CD-Player und die CD mit den „Moments Musicaux“, die es inzwischen von János Kahn eingespielt gab.

      Eine paradoxe Konkurrenzsituation am Sterbebett: Thresl würde sich durch nichts hindern lassen, die Nacht durchzubeten, ich aber musste Schubert spielen. Deswegen war ich gekommen.

      Es ging ganz einfach. Thresl hatte ein Versehkreuz aufgestellt, die zwei Kerzen angezündet und murmelte in ihrem eigentümlichen Singsang ihre „Gegrüßet seist du, Maria“. Grad so, wie ich das aus meiner Kindheit kannte. Damals hieß es noch „… in der Stunde unseres Absterbens“ statt „unseres Todes“. Die vertrauten Worte halfen mir über die aufkommende Panik hinweg.

      Fremd, so fremd war mir dieses bleiche Gesicht auf dem Polster. Die Wangen eingefallen, die Nase so spitz, die Augen so tief in den Höhlen. Weißlich-graue Haarsträhnen lagen erschreckend dünn über einer papierenen Kopfhaut. Ich hatte die Tante Pepi nie ohne Kopftuch gesehen, außer bei dem einen Mal, beim Konzert.

      Bang drückte ich auf die Play-Taste. Thresl war fast taub, die Musik würde sie nicht stören. Aber Tante Pepi? Nimmt sie noch etwas wahr?

      Mit dem Eingangsmotiv klopfte das erste „Moment Musical“ insistierend an das sterbensmüde Gehirn unter dem kopftuchlosen Schädel. Konnte sie das hören? Da hob Pepi mit großer Mühe die halb geschlossenen Lider, sah mich an und flüsterte tonlos: „Dankschön.“ – Oder nur „schön“ – oder „Schubert“?

      Tok-tohk,

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