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schluckte. »Damit willst du sagen, dass man sich nicht verändern kann? Auch wenn man das unbedingt will?«

      »Unsinn«, antwortete der Zweig. »Ich verändere mich jeden Herbst, und jeden Frühling wachsen mir neue, andere Blätter. Und doch bin ich im Sommer derselbe Zweig wie im Jahr davor, egal wie sehr ich mir manchmal wünsche, eine Steckrübe zu sein.«

      »Du wünschst dir manchmal, eine St…«

      »Scherz.«

      »Ah, okay.« Mara war einfach nicht in der Stimmung für Scherze.

      »Und du«, setzte der Zweig wieder an, »du kannst dein einzigartiges Talent so lange niederkämpfen, bis es sich anfühlt, als hättest du es nie besessen. Und vielleicht wirst du dir dann sogar vorkommen, als wärst du ein anderer Mensch. Aber wisse dies, Mara, und wähle dann weise: Wenn du jetzt nicht alles tust, um deine Gabe zum Wohl von uns allen einzusetzen, wirst du später keine Gelegenheit mehr haben, dich für oder gegen irgendetwas zu entscheiden. Denn dann wirst du zusammen mit uns allen aufhören zu sein.«

      Mara hatte bereits den Mund geöffnet, um etwas zu entgegnen, aber mit dem letzten Satz hatte sie nicht gerechnet. Sie sollte ihre Gabe einsetzen, um zu verhindern, dass alle aufhörten zu sein?

      Das klang so unscheinbar, so einfach und direkt. Aber gerade deswegen war Mara so erschrocken. Sie bemerkte, dass ihr linkes Bein begonnen hatte, hektisch auf- und abzuwippen, und befahl ihm, dies zu unterlassen. Zu ihrem Erstaunen schien das Bein nicht auf sie zu hören und hopste weiter nervös auf und ab, als würde sie einbeinig Fahrrad fahren.

      »Also kann ich dich nur bitten, dich nicht zu verschließen, Mara«, beendete der Zweig seine Ansprache in eindringlichem Tonfall.

      Mara schwieg. Was konnte man schon erwidern, wenn ein Zweig mit einem in kursiven Buchstaben sprach?

      Und dann tat sie das Einzige, was ihr in dem Moment sinnvoll erschien. Sie streckte die Hände aus, berührte noch einmal die Blätter des Zweigs und hieß die Bilder mit offenen Türen herzlich willkommen.

      Zu ihrem Erstaunen wartete diesmal kein schmerzhafter Bildersturm hinter der Berührung. Stattdessen flossen die Eindrücke sanft in ihr Bewusstsein und fügten sich dort sofort zu einem Ganzen zusammen, dessen Echtheit ihr schier den Atem raubte …

      Sie spürte steinernen Boden unter ihren Füßen … einen leichten Windhauch, der ihr über die Augen strich. Mara musste blinzeln. Sie sah sich um. Sie stand in einer Art Höhle oder eher Grotte, weiße Kalksteine hingen von der Decke und verloren sich nach oben in unergründliche Schatten. Tropfen kalkweißen Wassers rannen an ihnen herab und trafen viele Meter weiter unten auf ihre spitzen Zwillingsbrüder, die sich nach ihren steinernen Verwandten an der Decke zu strecken schienen. Ein einziger heller weißer Lichtstrahl fiel von oben in den ansonsten dunklen Raum. Er beleuchtete eine Stelle, an der man ein paar der dicken Kalksteine offenbar mit roher Gewalt schräg abgeschlagen hatte. Die schroffen Kanten wirkten so scharf, als könnten sie den Himmel von der Hölle trennen.

      Plötzlich tanzten Schatten über den Boden und in der nächsten Sekunde blickte Mara in das Gesicht eines blonden Mannes mit den wildesten und dunkelsten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Sie standen in starkem Kontrast zu seiner hellen Haut und dem lockigen strohblonden Haar, das so lang war, dass es bis auf den Boden hinunterreichte.

      Der Mann trug einen geflochtenen Kinnbart, dessen Spitze nach oben gebogen war und ihm einen seltsam frechen Ausdruck verlieh. Außerdem lächelte er schief, und das, obwohl er wahrlich keinen Grund dazu hatte: Denn er wurde von mehreren starken Händen auf die scharfkantigen Steine gedrückt, während an seinen Armen und Beinen etwas langsam emporkletterte. Schlangen? Oder Würmer? Die seltsam nass glänzenden Bänder wirkten, als wären sie lebendig, als sie sich fast sehnsüchtig um den Körper des Mannes legten. Und darum schien es Mara auch fast wie ein Verrat, als sich diese ganz plötzlich wie auf ein Kommando gleichzeitig festzogen, tief in das Fleisch des Mannes einschnitten, seine Glieder streckten, den Rücken beugten und ihn so mit einer fürchterlichen Gewalt auf die spitzen Felsen drückten. Lebendige Fesseln? Mara spürte, wie die Panik in ihr hochstieg, und musste sich zwingen, weiter zuzusehen.

      Fast glaubte sie nun zu hören, wie sich die schroffen Kanten in den Körper bohrten. Und sie sah, dass sich die Fesseln veränderten … Hatten sie eben noch nass und irgendwie weich gewirkt, schien es nun, als seien sie aus glänzendem Eisen geschmiedet. Und als sich der Mann gegen die Fesseln sträubte, bewegten sie sich keinen Millimeter.

      Mara wollte sich abwenden und wagte es doch nicht, die Bilder zu vertreiben. Sie sah, wie sich die Schatten der anderen Männer zurückzogen und eins wurden mit der Dunkelheit in der Höhle …

      Und da entwand sich der Kehle des blonden Mannes ein seltsames Geräusch. Es passte so wenig zu der Situation, in der er sich befand, dass Mara erst gar nicht erkannte, was es war. Doch schließlich verstand sie, was der Mann tat. Er lachte. Er lachte sowohl höhnisch als auch wütend, schmerzerfüllt und hysterisch. Gleichzeitig aber klang dieses Lachen so verzweifelt, dass Mara scharfe Tränen in die Augen schossen.

      Die Stimme des Mannes wurde immer lauter, immer schriller, und Mara fühlte sich erst an den Schrei eines Raubvogels erinnert. Im nächsten Atemzug aber war ihr, als wäre es ein tief grollender Bär, nein, ein heiser jaulender Wolf … und doch eine menschliche Stimme.

      Die Höhle erzitterte, die Tropfsteine an der hohen Decke knackten bedrohlich. Mara duckte sich unwillkürlich, als neben ihr einer der Kalksteine aufschlug und explosionsartig in Scherben und Staub zerbrach. Doch urplötzlich war es wieder so still, dass Mara Angst hatte, der Mann würde sie atmen hören … Da! Sah er nicht gerade zu ihr hinüber? Mara hielt den Atem an, obwohl ihre Lungen sich anfühlten, als würden sie gleich platzen … Nein. Sie musste sich getäuscht haben. Der Kopf des Mannes sank erschöpft auf das steinerne Bett und er blickte ins Nichts.

      Sie wagte es wieder, flach zu atmen, und sah sich um.

      Die Höhle war erfüllt von dem steinernen Staub des zerborstenen Kalksteins und drehte sich langsam in dem gleißenden Lichtkegel wie eine Windhose in Zeitlupe.

      Da erkannte Mara im Halbdunkel neben dem Gefangenen eine weitere Gestalt, die sich zögerlich aus den Schatten löste. Als sie schließlich ins Licht trat, blickte Mara in das traurigste Gesicht, das sie jemals gesehen hatte. Es war das Gesicht einer Frau. In der Hand hielt sie eine Holzschale. Doch ihr Blick war nicht auf den Gefesselten gerichtet, sondern auf irgendetwas, das sich oberhalb seines Kopfes aus der Dunkelheit schälte. Ein bösartiges Zischen, das Mara eine Gänsehaut über den Rücken jagte, drang dazu zwischen den Tropfsteinen hervor und erfüllte die Höhle mit einem mehrstimmigen Echo. Der Gefesselte schien etwas zu schimpfen oder zu fluchen, doch die Frau an seiner Seite blieb still. Stattdessen hob sie langsam die Holzschale empor und …

      Die Bilder verschwanden wie in einer Nebelwand. Mara sog die Luft ein, als wäre sie nach einem Tauchgang durch die Wasseroberfläche gestoßen, riss die Augen auf und … starrte verwirrt auf die Unterseite ihres Schreibtischs.

      Sie lag zum zweiten Mal auf dem Rücken in ihrem Zimmer, ihre Augen waren rot und ihr Gesicht nass von Tränen.

      »Wer ist dieser Mann? Was hat er getan, dass man ihn so quält?«

      Mara fiel es schwer, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. Auf eine seltsame Weise fühlte sie sich mitschuldig an dem Schicksal des Mannes, obwohl sie nichts getan hatte, außer zuzusehen. Oder etwa, weil sie nichts getan hatte? Aber was hätte sie denn tun sollen? Doch da spürte Mara noch etwas anderes: Ja, irgendetwas hatte sie daran gehindert, ihm zu helfen. Sie hatte außer Mitleid noch etwas gefühlt. Ja, natürlich hatte sie Angst gehabt – aber nicht nur vor dem geheimnisvollen Mann oder seinen Feinden! Nein, Mara hatte vielmehr Angst vor sich selbst gehabt. Davor, eine große Dummheit zu begehen, eben weil sie so viel Mitleid mit dem Gefesselten hatte. Was für ein seltsames Gefühl …

      Und schon wieder eine ungelöste Frage mehr! Mara zwang sich dazu, mit dem Grübeln aufzuhören, und warf die Frage zu den anderen auf den riesigen Haufen. Dann

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