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Ins Weiße zielen. Ricardo Piglia
Читать онлайн.Название Ins Weiße zielen
Год выпуска 0
isbn 9783803143297
Автор произведения Ricardo Piglia
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Man nennt es das Leben«, antwortete Renzi.
»Platsch!«,8 sagte sie. »Sei nicht so kitschig … Was ist los? Sie haben ihn ausgewählt, sie haben ihn getötet, genau an jenem Tag, genau zu jener Stunde, sie hatten nicht viele Gelegenheiten dazu, begreifst du? So viele Chancen, einen Mann wie ihn zu töten, bekommt man nicht.«
4
DURÁN WURDE TOT auf dem Fußboden seines Hotelzimmers aufgefunden, mit einer Stichwunde in der Brust. Eine Putzfrau hatte ihn entdeckt, als sie das Telefon hinter der Tür klingeln hörte und niemand abnahm. Sie dachte, das Zimmer sei unbewohnt. Es war zwei Uhr nachmittags.
Zur selben Zeit tranken Croce und Saldías einen Wermut in der Hotelbar, so dass sie sich kaum von der Stelle rühren mussten, um mit den Ermittlungen zu beginnen.
»Niemand verlässt das Hotel«, ordnete Croce an. »Wir werden Ihre Aussagen festhalten, dann dürfen Sie gehen.«
Die wenigen Gäste, Handelsreisenden und dauerhaften Bewohner des Hotels saßen in den Ledersesseln im Salon oder standen in Dreier- oder Vierergrüppchen an der Wand und unterhielten sich leise. Saldías hatte an einem Tisch im Büro des Geschäftsführers Platz genommen und rief die Leute nacheinander herein. Er fertigte eine Liste an, notierte sich die persönlichen Daten und Adressen und fragte jeden Einzelnen, wo genau er sich um zwei Uhr nachmittags im Hotel aufgehalten hatte. Dann wies er sie darauf hin, dass sie sich der Polizei weiterhin zur Verfügung halten müssten und dass man sie gegebenenfalls noch einmal als Zeugen vorladen werde. Zum Schluss bat er all jene, die sich in der Nähe des Tatorts aufgehalten hatten oder irgendwelche nützlichen Informationen besaßen, im Speisesaal zu warten. Die Übrigen durften gehen, bis man ihre Hilfe eventuell noch einmal in Anspruch nehmen würde.
»Vier von ihnen haben sich während der Tatzeit in der Nähe von Duráns Zimmer aufgehalten und behaupten, einen Verdächtigen gesehen zu haben. Die werden wir noch einmal genauer befragen müssen.«
»Lass uns gleich damit anfangen …«
Saldías begriff, dass Croce nicht nach oben gehen und die Leiche sehen wollte. Dem Kommissar war das Aussehen der Toten zuwider, dieser sonderbare Ausdruck von Überraschung und Schrecken auf ihren Gesichtern. Er hatte viele Tote in seinem Leben gesehen, zu viele, in allen möglichen Positionen, gestorben an den seltsamsten Todesarten, aber alle hatten sie diesen entsetzten Ausdruck. Er träumte davon, ein Verbrechen aufzuklären, ohne den dazugehörigen Leichnam begutachten zu müssen. Es gibt viel zu viele Leichen, alles ist voll mit ihnen, pflegte er zu sagen.
»Wir müssen hoch«, bemerkte Saldías und führte ein Argument an, das normalerweise Croce vorbrachte: »Bevor wir die Zeugen anhören, sollten wir uns alles angeschaut haben.«
»Natürlich«, entgegnete Croce.
Es war das beste Zimmer des Hotels, da es auf die Straßenecke hinausging und sich etwas abgesondert am Ende des Gangs befand. Durán lag inmitten einer Blutlache auf dem Boden. Er trug eine schwarze Hose und ein weißes Hemd und sah aus, als würde er jeden Moment zu lächeln anfangen, die Augen weit aufgerissen, mit einem starren, angsteinflößenden Blick.
Als Croce und Saldías vor der Leiche stehen blieben, hatten sie das seltsame Gefühl, Komplizen zu sein, so wie es oft geschieht, wenn zwei Männern gemeinsam einen Toten betrachten.
»Wir dürfen ihn nicht berühren«, sagte Croce. »Armer Kerl …«
Er drehte der Leiche den Rücken zu und sah sich aufmerksam den Boden und die Möbel an. An dem Zimmer war nichts Ungewöhnliches, auf den ersten Blick. Er trat ans Fenster, das zum Platz ging, um nachzusehen, was man von der Straße aus erkennen konnte und was man sah, wenn man nach draußen blickte. Wahrscheinlich hatte der Mörder zumindest einen Augenblick lang innegehalten und aus dem Fenster geschaut, um zu prüfen, ob man von draußen beobachten konnte, was in dem Zimmer vor sich ging. Oder dort unten hatte ein Komplize gestanden, der ihm Zeichen machte.
»Er wurde getötet, als er die Tür öffnete.«
»Man hat ihn gestoßen«, sagte Croce, »und dann ging alles ganz schnell. Er hat gesehen, wer ins Zimmer kam, und war überrascht.« Der Kommissar trat näher an den Leichnam heran. »Der Stich war ziemlich tief, sehr präzise, als würde jemand ein Kalb schlachten. Kreolischer Messerstich. Von unten nach oben, die Klinge tief zwischen die Rippen. Er war sofort tot«, sagte er, als erzählte er einen Film nach, den er erst vor kurzem gesehen hatte. »Ohne ein Geräusch. Nur ein leises Stöhnen. Ich bin sicher, dass der Mörder ihn gehalten hat, damit er nicht auf dem Boden aufschlägt. Wenig Blut. Du hältst ihn fest wie einen Sack Knochen, und wenn du ihn auf den Boden gleiten lässt, ist er bereits tot. Der Mörder muss kräftig gewesen sein«, folgerte Croce.
Der Wunde nach zu schließen musste die Tatwaffe ein Gauchomesser gewesen sein, eins von diesen langen, die die Bauern beim Grillen verwenden. Ein Jagdmesser, wie es Tausende in der Provinz gibt.
»Wahrscheinlich hat der Täter die Waffe in die Lagune geworfen«, fuhr der Kommissar abwesend fort. »Der Grund ist voll mit Messern. Als Kind bin ich oft dort getaucht und habe jedes Mal welche gefunden …«
»Messer?«
»Messer und Tote. Ein Friedhof. Selbstmörder, Betrunkene, Indianer, Frauen. Leichen über Leichen. Einmal habe ich einen Alten gesehen, mit langem, schlohweißem Haar, das weiter gewachsen war und im klaren Wasser wie Seide schimmerte.« Croce schwieg einen Moment. »Im Wasser verwest der Körper nicht, nur die Kleidung löst sich auf, deshalb treiben die Toten nackt zwischen den Algen. Ich habe fahle Leichen gesehen, die auf dem Grund standen, mit offenen Augen, wie große weiße Fische in einem Aquarium.«
Hatte er das wirklich gesehen oder nur geträumt? Wie aus dem Nichts überfielen Croce diese Halluzinationen, und Saldías begriff, dass der Kommissar mit seinen Gedanken ganz woanders war, einen Moment lang mit jemandem sprach, der gar nicht da war, und Stimmen hörte, während er wütend auf dem Stummel seiner Toscano herumkaute.
»In nicht allzu weiter Ferne, im Alptraum der Zukunft, werden sie aus dem Wasser steigen«, sagte er geheimnisvoll und lächelte, als käme er langsam wieder zu sich.
Sie sahen sich an. Saldías schätzte den Kommissar und wusste, dass er sich ganz plötzlich in seinen Gedanken verlor. Es dauerte einen Moment, aber er kehrte jedes Mal aus seiner Welt zurück, so als litte er unter Narkolepsie. Duráns Leiche, die immer fahler und starrer wurde, sah aus wie eine Gipsfigur.
»Decken Sie den Verstorbenen zu«, befahl Croce.
Saldías breitete ein Laken über ihm aus.
»Man hätte ihn einfach auf irgendein Feld werfen können, damit ihn die Geierfalken fressen, aber jemand wollte, dass ich ihn sehe. Man hat ihn absichtlich hier liegen lassen. Aber warum?« Croce schaute sich noch einmal im Zimmer um, als sähe er es zum ersten Mal.
Bis auf eine halboffene Schublade, aus der eine Krawatte hervorschaute, gab es keinerlei Spuren einer Auseinandersetzung. Vielleicht hatte man sie eilig geschlossen, und als sich der Mörder umdrehte, hatte er die Krawatte übersehen. Der Kommissar machte die Schublade zu. Er setzte sich auf das Bett, ließ seine Gedanken umherschweifen und betrachtete zerstreut das Oberlicht, hinter dem sich ein Stück Himmel abzeichnete.
Saldías nahm eine Bestandsaufnahme aller gefundenen Gegenstände vor. Fünftausend Dollar in einer Aktentasche, ein Haufen mit mehreren Tausend argentinischen Pesos auf der Kommode, daneben eine Uhr und ein Schlüsselanhänger, eine Zigarettenschachtel Marke Kent, ein Ronson-Feuerzeug, ein Päckchen Velo-Rosado-Kondome, ein US-amerikanischer Pass auf den Namen Anthony Durán, geboren am 5. Februar 1940 in San Juan. Dazu ein Ausschnitt aus einer New Yorker Zeitung mit den Resultaten der wichtigsten Ligen, der Brief einer Frau 9, ein Foto, auf dem der nationalistische Führer Pedro Albizu Campos eine Rede hält – hinter ihm die puertoricanische Flagge –, und das Foto eines Soldaten mit runder Brille in der Uniform der