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Gegendiagnose II. Группа авторов
Читать онлайн.Название Gegendiagnose II
Год выпуска 0
isbn 9783960428138
Автор произведения Группа авторов
Издательство Автор
Gemein ist beiden Positionen, dass als ›krank‹ erklärtes Verhalten auf irgendetwas in einer Person verortetes projiziert wird und diese daher professionelle Hilfe benötigen würden. Entweder es heißt, die Person trage keine Verantwortung für ihre ›Krankheit‹, da sie biologisch oder rein gesellschaftlich bedingt wäre, oder sie trüge die volle Verantwortung für ihr Handeln. Beides führt dazu, dass Menschen in Krisensituationen vor allem an sog. ›Professionelle‹ verwiesen werden.11
Und nun?
Die Fragen, die sich nun anbieten, wären: Was kann eine emanzipatorische Bewegung aus den vorhandenen Analysen lernen und wie könnte sich eine linke Bewegung einer fortschrittlicheren Unterstützung annähern? Dafür möchte ich einzelne Bezugspunkte für eine Selbstreflexion anbieten, welche sich aus den vorher beschriebenen Kritiken ergeben.
1. Die Differenzlinie psychisch ›gesund‹ // psychisch ›krank‹ ist gesellschaftlich konstruiert.
Es soll an dieser Stelle nicht behauptet werden, dass das Verhalten vom Menschen nichts mit biologischen Faktoren zu tun haben kann (vgl. Cooper 1972: S. 32; Szasz 1972: S. 27). Jedoch besitzt sowohl Verhalten als auch der Umgang mit Verhalten immer eine gesellschaftliche Dimension (vgl. Cooper 1972: S. 14; Laing 1994: S. 50; Rose 2000: S. 310). Sich als Verbündete_R für gesellschaftliche Dimensionen von Krisen zu sensibilisieren und nicht das daraus resultierende Verhalten von Menschen zu problematisieren, kann Entlastung für Betroffene schaffen. Gerade Strukturen wie der kapitalistische Verwertungsdruck, patriarchale und sexistische Verhältnisse, struktureller und direkter Rassismus, Unterdrückung und Ächtung von Lebensweisen etc. sind allgegenwärtig und schaffen beständige Drucksituationen, die zu Verhalten führen können, das zwar einen Sinn erfüllt, für nicht Betroffene jedoch nicht nachvollziehbar ist.
Reflexionsfragen: Bin ich mir bewusst, dass das individuelle und situative Verhalten von Menschen immer auch in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext zu betrachten ist? Was kann ich tun, um den ausgeübten Druck auf Personen zu verringern und sie dadurch zu entlasten? Was kann ich tun, um den Druck zu verringern, den ich auf Menschen ausübe? In welchen Situationen wird es mir selbst zu viel? Wie kann ich Räume schaffen, in denen Betroffene so sein können, wie es ihnen gut tut? Wie würde ein solcher Raum für mich aussehen?
2. Eine Klassifizierung menschlichen Verhaltens – von anderen als den Betroffenen selbst – ist abzulehnen.
Eine Diagnose stellt eine externe Beschreibung der Symptome einer komplexen Lebenssituation einer Person dar und verdeckt dabei die gesellschaftlichen und gruppenbezogenen Prozesse, die das Verhalten ausgelöst haben (vgl. Cooper 1972: S. 32; Szasz 1972: S. 26). Damit einhergehen kann ein Prozess der Depersonalisierung eines Menschen, da die Gefahr besteht, dass dieser fortan nur über die Diagnose definiert wird oder sich selbst nur darüber definiert (vgl. Laing 1994: S. 27). Gesellschaftliche Dimensionen werden spätestens ab dem Punkt der Klassifikation ausgeblendet und eine – meist naturalisierende – Erklärung für das Verhalten in die Person hineingelegt (vgl. Rose 2000: S. 306).
Reflexionsfragen: Was löst es bei mir aus, wenn mir eine Person von einer (psychischen) Diagnose erzählt? Wie sehr nutze ich Diagnosen von Menschen, um mir ihr Verhalten zu erklären? Projiziere ich in meinem Umfeld (verdeckte) gesamtgesellschaftliche Verhältnisse auf das Verhalten von Einzelpersonen und mache sie dafür (allein) verantwortlich? Erwarte ich aufgrund von Diagnosen bestimmtes Verhalten von Personen?
3. Den Menschen als selbstverantwortliches Subjekt betrachten.
Durch eine naturalistische Betrachtung von psychosozialen Krisen entsteht häufig ein Herrschaftsgefälle zwischen ›gesunden‹ und ›krank‹ klassifizierten Personen. Dies drückt sich im institutionellen Bereich nicht zuletzt durch den Zwang zur sog. ›Krankheitseinsicht‹ (vgl. Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie 2000: S. 155 f.) aus. Eine Ursache hierfür lässt sich darin sehen, dass die Definitionsmacht über den Gesundheitsstatus, bei Dritten liegt (vgl. Szasz 1972: S. 57). Diese versuchen meist, an Hand von historisch gewachsenen ›wissenschaftlichen‹ Kriterien (sprich weiße, männliche, heterosexuelle, westliche Sicht) (vgl. Haraway 1988: S. 585), die ›dysfunktionalen‹ Strukturen innerhalb einer Person zu verorten. Mit dem dadurch entstehenden hierarchischen Verhältnis, geht meistens auch eine Absprache der Selbstverantwortung für die eigenen Handlungen einher (vgl. Rose 2000: S. 315).12
Reflexionsfragen: Wann halte ich selbstverletzendes Verhalten für selbstbestimmt (z. B. Rauchen), wann spreche ich Personen ihre Selbstbestimmtheit ab (z.B. ›Ritzen‹)? Wie bewerte ich grenzüberschreitendes Verhalten von Personen mit und ohne Diagnose? Gibt es Momente in meinem Leben, an denen ich die Verantwortung über mich abgeben möchte? Was bedeutet es für mich, wenn ich die Verantwortung abgebe? Was bedeutet es für mich, wenn jemand mir die Verantwortung überlässt? Verweigere ich Menschen durch meine ›Hilfe‹ ihre Selbstbestimmung und welche Alternativen gibt es?
4. Emanzipatorische Diskurspositionen öffentlich vertreten.
Die gesellschaftlichen Verhältnisse erlauben es nicht allen Menschen gleichberechtigt an der Gestaltung von Diskursen teilzunehmen. Einer der Ausschlussmechanismen besteht darin, den ›Wahnsinn‹ per Definition aus dem Diskurs auszuschließen (vgl. Foucault 2014: S. 16). Dies verdeutlicht noch einmal die Notwendigkeit von Allies sich öffentlich zu positionieren. Die Rolle von Unterstützer_Innen darf sich nicht durch ein hierarchisches Verhältnis definieren, stattdessen muss die Definitionsmacht über die Situation in der Hand der Betroffenen liegen (vgl. Laing 1994: S. 27). Die eigene privilegierte Stellung zu hinterfragen und sowohl zu teilen, als auch zu nutzen um eine politische Bewegung zu stärken, ist in vielen emanzipatorischen Diskursen angekommen. Diese Notwendigkeit besteht auch in Bezug auf die Differenzlinie psychisch ›gesund‹ // ›krank‹.
Reflexionsfragen (viele davon sind in dem Aufruf Bonnie Burstows Starting the New Year with a Bang zu finden) (vgl. Burstow 2016: o.S.): Wie ist meine Positionierung im Diskurs? Welche Meinung vertrete ich nach außen in Bezug auf biologisch-medizinische Erklärungsansätze? Wodurch legitimiert sich meine Rolle als Unterstützer_In? Muss ich mein theoretisches Wissen über psychiatriekritik noch verfeinern? Sehe ich die aktivistische Notwendigkeit einer psychiatriekritischen Bewegung? Sehe ich Überschneidungspunkte zwischen anderen emanzipatorischen Strömungen und einer psychiatriekritischen Bewegung? Nehme ich Erfahrungsberichte von Betroffenen ernst, oder relativiere ich sie auf Grund ihrer Diagnose?
Ziel dieser Einführung sollte es sein, eine Perspektive und einen kleinen Überblick zum Thema Psychiatriekritik zu geben. Hierbei lag der Schwerpunkt vorrangig auf einer akademischen, westlichen und weißen Analyse. Viele wichtige Positionen kommen in diesem Artikel somit zu kurz oder bleiben außen vor (vgl. u.a. Mader 2015: 76 ff.).13 Gerade in den letzten Jahren wurden die kritischen Analysen des psychiatrischen Diskurses deutlich erweitert. Dies beinhaltete auch die Erkenntnisse der Mad Studies (vgl. u.a. Burstow, LeFrancois & Diamond 2014; Russo & Sweeney 2016), welche Psychiatriekritik aus betroffener Perspektive äußert, und der disability Studies mit dem Neurodiversitätsansatz (vgl. u.a. Graby 2015), welche für eine Akzeptanz von neurologischen Unterschieden des menschlichen Organismus kämpft.
Wir als linke Bewegung müssen dahinkommen, dass das Verhalten einzelner auch Symptom einer kaputten Gesellschaft darstellt. Wir müssen einen anderen Umgang mit Krisensituationen, von außen nicht nachvollziehbarem Verhalten und persönlicher Überforderung finden, als die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft es vorsieht. Statt mit der Absprache von Selbstbestimmung, naturalistischen Ideologien oder mechanischen Tipps wie Therapie oder Medikamentation zu reagieren, sollten wir uns in einer solidarischen Form von direkter und diskursiver Unterstützung üben. Das ist natürlich anstrengender und komplexer, als auf existierende psychiatrische Strukturen und Denkmuster zurückzugreifen, ermöglicht aber langfristig den Weg für eine tatsächlich solidarische Unterstützung.
Literatur- und Quellenverzeichnis
Arbeitsgemeinschaft für