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S. 48). Demgegenüber stand die Interpretation von ›Wahnsinn‹ als Symbol für gesellschaftliches Chaos und Weltschmerz (vgl. ebd.: S. 40 ff.). Die Deutungshoheit der Kirche wirkte dahingehend auf diesen Diskurs ein, dass ein eher abstraktes Verständnis von ›Wahnsinn‹ als gesellschaftlicher Zustand oder gesellschaftliche Bedrohung abgelöst wurde. Stattdessen setzte sich das kirchliche Erklärungsmodell durch, in welchem das ›wahnsinnige Verhalten‹ auf einzelne Menschen projiziert wurde, welche vom Satan gelenkt oder von Gott bestraft worden wären (vgl. ebd.: S. 48).

      Die Sichtweise, dass sich die Ursachen von Verhaltensweisen in dem Menschen selbst verorten lassen würden, wurde durch das Aufkommen der Industrialisierung und der Psychopathologie als medizinisch-biologische Disziplin im 18. und 19. Jahrhundert deutlich verstärkt. Ein nicht zu unterschätzender Einflussfaktor dafür, lässt sich in dem neu entstandenen Arbeitsethos während der Industrialisierung sehen. Bestandteil von diesem war eine Verbindung von Arbeit mit ethischen Werten, wodurch Armut nicht mehr als ein Mangel an Waren oder bezahlter Arbeit gesehen wurde. Stattdessen wurde er durch ein Nachlassen von Disziplin erklärt (vgl. ebd.: S. 92). Dabei entstand eine Trennung in die sogenannten ›würdigen Armen‹, die aufgrund einer Beeinträchtigung nicht arbeiten konnten, und die sogenannten ›unwürdigen Armen‹, von denen angenommen wurde, dass sie nicht arbeiten wollten (vgl. Dörner 2001: S. 20). Galten die Gründe für die nicht geleistete Arbeit als nicht nachvollziehbar, wurden die Menschen zu den unwürdigen Armen gezählt und hatten mit einer Verbannung in die Arbeitshäuser zwecks Umerziehung durch Zwangsarbeit zu rechnen.

      Die Industrialisierung zeigte jedoch noch weitere Effekte: Wurde in der vormodernen Gesellschaft die Pflege- und Fürsorgearbeit ebenso wie die (Re-) Produktionsarbeit meistens innerhalb der Haus- und Hofgemeinschaften erledigt, entstand durch die Einrichtung von Produktionshäusern wie Fabriken, Werkstätten und Büros eine räumliche Trennung von Arbeitsbereichen (vgl. ebd.: S. 22). Durch diese Aufspaltung kam es sowohl zu einer Verstärkung der Geschlechterungleichheit, da meistens Frauen in den häuslichen, unbezahlten Bereich der Reproduktion verbannt wurden, als auch dazu, dass zum ersten Mal eine breite Diskussion in Europa entstand, was mit denen geschehen soll, die für den Markt als zu ›leistungsschwach‹ oder zu ›störend‹ galten (vgl. ebd.: S. 23). Diese Diskussion beeinflusste die Entstehung von ›Sozialen Institutionen‹, in denen sich nun ›Professionelle‹ als Lohnarbeiter_Innen um die »Erziehung, Therapie, Verpflegung, Versorgung [und] Verwaltung« (ebd.: S. 24.) von Betroffenen kümmern sollten. So entwickelte sich mehr und mehr die Überzeugung, dass nur ›Professionelle‹ in der Lage wären, Menschen zu unterstützen und ihnen zu helfen (vgl. ebd.: S. 27)6.

      Beeinflusst durch die Aufklärung und den immensen technischen Fortschritt dieser Zeit, erreichte die Naturwissenschaft und mit ihr die Psychopathologie als ›objektive‹ und ›rationale‹ Wissenschaft einen gottähnlichen Status (vgl. Harms 2011: S. 89).

      Dabei beinhalteten psychopathologische Denkmodelle das Bild eines durch seine Biologie und die Genetik festgelegten Menschen (vgl.: ebd.). Es wurde somit davon ausgegangen, dass die Psychopathologie in einer direkten Beziehung zu einem natürlichen Menschen stehen würde und an diesen den Maßstab für ›Normalität‹ anlegen könnte (vgl. Foucault: S. 126). Diese Form der Pathologisierung von Verhalten führte dazu, dass als wahnsinnig klassifizierte Personen zu den sog. ›würdigen Armen‹ gezählt wurden (vgl. ebd.: S. 128), was zum einen dazu führte, dass sie gesellschaftlich als ›hilfebedürftig‹ eingestuft wurden, zum anderen jedoch den Effekt hatte, dass ihnen ihre Selbstbestimmung und -verantwortung verweigert wurde. Da schon zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich weiße7, gesunde, heterosexuelle, akademische Männer den Wissenschaftsbetrieb bestimmten und dadurch festlegten, was ›Natürlichkeit‹ bedeutete, wurde der Maßstab der ›psychischen Normalität‹ auf deren Sichtweise und Lesarten festgelegt. Dieses Erbe zieht sich bis heute durch (vgl. Haraway 1988: S. 581 ff.). Sollte nun eine Person sich also für Verhaltensweisen entscheiden, die zu weit von dem ›normalen‹ Raster eines weißen, gesunden, heterosexuellen, akademischen Mannes abweichen, müsse dies somit an dessen ›kranker‹ Natur liegen.

      Vernichtung im Namen der ›Volksreinheit‹ – Der deutsche Sonderweg

      Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts spitze sich die Diskussion um die sogenannte ›soziale Frage‹ zu. Die Vorstellung eines biologisch determinierten Menschen in Kombination mit einem moralisch aufgeladenen Arbeitsethos und dem Konkurrenz- und Verwertungsgedanken des Kapitalismus führten dazu, dass über alle politischen Spektren und Länder hinweg die Frage diskutiert wurde, ob ›nicht wirtschaftlich Verwertbare‹ eher zwangssterilisiert oder vernichtet gehörten (vgl. Klee 2009: S. 25 ff.). Dabei ist es erwähnenswert, dass, trotz des weltweit stattfindenden Diskurses, die Deutschen als einzige sich dazu entschieden, im Namen der Wirtschaftlichkeit und Reinheit des ›Volkskörpers‹ die systematische Vernichtung all jener durchzuführen, die ihrem Traum eines ›arischen‹ und effizienten Volkes entgegen standen: Im Sommer 1939 verfasste Adolf Hitler ein formloses Ermächtigungsschreiben und die Deutschen setzten, geleitet von der herrschenden Ideologie, die Euthanasie in ihrer Vernichtungsmaschinerie um (vgl. Dießelhorst 1989: S. 120 f.). Zwar endete mit dem Sieg der Alliierten auch der sozialdarwinistische Vernichtungsfeldzug der Deutschen, jedoch kamen die für die ›Euthanasie‹ verantwortlichen Ärzt_Innen, Psycholog_Innen und Richter_Innen größtenteils straflos davon und konnten – teils nach kurzen ›Arbeitspausen‹ – wieder ihrer Arbeit nachgehen (vgl. Drecktrah 2008: S. 282; Hechler 2015: 143 ff.). Dies zeigte sich unter anderem auch in der Kontinuität der naturalisierenden Ideologie, welche es erlaubte, die ›Behandlung‹ von ›psychischen Krankheiten‹ weiterhin in dem Aufgabenbereich der Medizin und Psychiatrie zu verorten (vgl. Szasz 1972: S. 57).

      Die ›alte‹ Psychiatriekritik in den 1960er & -70er Jahren

      Während in den USA und Großbritannien schon in den Anfängen der 1950er Jahre die menschenverachtenden Verhältnisse in den Psychiatrien aufgedeckt wurden (vgl. u.a. Goffman: 1972), dauerte es in der BRD erheblich länger, bis sich mit den Verhältnissen in den Anstalten auseinandergesetzt wurde (vgl. Häfner 2003: S. 122). Dies war nicht zuletzt ein Resultat aus der »Verdrängung oder Verleugnung der Massentötung« (ebd.: S. 123) Psychiatrisierter während der NS-Zeit. Wie beschrieben, verblieb die Mehrzahl der an den sogenannten ›Krankenmorden‹ beteiligten Deutschen in ihren Ämtern (vgl. ebd.: S. 123). Daher verwundert es kaum, dass auch in den Jahren nach dem Krieg Einweisungen noch offen als eine »probate Lösung, [um] die Störung des Verwaltungsgeschäfts zu beheben« (Coché 2017: S. 81) genutzt wurde. Internationale Kritik an den Zuständen in Psychiatrien fand erst im Zuge der ›alten‹ psychiatriekritischen Bewegung Gehör in der Öffentlichkeit. Dabei schaffte es jedoch vor allem der menschenverachtende Zustand und Umgang mit den ›Patient_Innen‹ in das öffentliche Bewusstsein. Besonders die Kritik, dass Psychiatrien – genau wie andere totale Institutionen – hauptsächlich den Zweck verfolgten, »den Charakter von Menschen zu verändern« (vgl. Goffman 1972: S. 23) und sie damit auf einer Stufe mit Gefängnissen, Konzentrationslagern und Klöstern zu sehen seien, erlangte Aufmerksamkeit. Im Zuge einer Reihe von Studien, die erstmals die Sichtweise der Betroffenen und nicht der Psychiater_Innen in den Fokus rückten (vgl. ebd.: S. 8), wurde deutlich, was das geltende psychiatrische Paradigma mit den Betroffenen machte. Menschen, welche in allen Lebensbereichen systematisch durch dieselbe Instanz verwaltet, beobachtet, versorgt, erzogen und behandelt werden, laufen Gefahr eine »Diskulturation« (ebd.: S. 24) zu erleben. Dies bedeutet, dass ein »Verlern-Prozeß« (ebd.) von Verhaltensmustern

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