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gewisse Gefahren berge: „Denn dies Bedenkliche, Phaidros, haftet doch an der Schrift, und darin gleicht sie in Wahrheit der Malerei. Auch deren Werke stehen doch da wie lebendige, wenn du sie aber fragst, so schweigen sie stolz. […] wenn du sie aber fragst, um das Gesagte zu begreifen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an. Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht paßt […]“ Sokrates’ Einwände verhinderten nicht, dass sich die Schrift durchsetzte – doch mündliches Erzählen blieb wichtig. Die Evangelien der Bibel wurden[20] lange Zeit mündlich weitergegeben, bevor sie niedergeschrieben wurden.

      Später verbreiteten Bänkelsänger Nachrichten; Geschichtenerzähler waren fester Bestandteil vieler Kulturen. Wir sind evolutionär darauf eingestellt, Geschichten zu glauben, ihrer Wegweisung zu folgen. Darum ist eine Geschichte, die uns zum Beispiel ein Produkt verkaufen will, ungleich stärker als jedes rationale Argument.

      Wir lernen auch unser Sozialverhalten aus Geschichten. Wir lassen uns von Geschichten sagen, was wir tun sollen – wir lauschen dem wahren Kern der Geschichte und richten unser Handeln danach aus. Dabei ist es egal, ob die Geschichte von der Nachbarin am Gartenzaun erzählt wird, von einem großen Hollywoodfilm, ob es eine Geschichte im beruflichen Rahmen ist oder ob diese Geschichte etwas verkaufen soll.

      Menschen brauchen Geschichten, um ihre eigenen Gedanken zu sortieren, um sich selbst in Zusammenhang mit ihrer Welt zu begreifen. Jeder Mensch, dem Du etwas erzählst, hat bereits seine eigene Geschichte. Wenn es Dir gelingt, eine Geschichte zu erzählen, die ihn packt, kannst Du die Art, wie er denkt, lenken. Damit beeinflusst Du aktiv sein Handeln.

      Mias Geschichte ist anrührender – und einprägsamer – als ihre faktische Biografie, weil wir Teile daran erkennen oder verstehen. Wir erkennen uns selbst darin wieder, und Mia verbindet sich dadurch mit unserer Geschichte, mit unserem Leben.

      Und wie muss eine gute Geschichte aufgebaut sein?

      Jede Geschichte ist im Grunde eine Heldenreise, denn wer möchte nicht ein Held sein? Und diese Idee von der Heldenreise ist, genau wie die Idee des Geschichtenerzählens, schon ziemlich alt. Darum nennt man die Heldenreise auch eine archetypische Grundstruktur. Das heißt: Eine gute Geschichte folgt immer einem ähnlichen Muster oder Ablauf. Der irische Schriftsteller James Joyce (1882–1941) nannte das „Monomythos“. Der amerikanische Mythenforscher Joseph[21] Campbell erforschte die Heldenreise als Grundmuster von Mythologien und schrieb darüber in seinem 1949 erschienen Buch „The hero with a thousand faces“ (Campbell 2008). Drehbuchautor und Publizist Christopher Vogler, Autor und Produzent Blake Snyder und andere beschrieben die Heldenreise immer wieder nach diesem auf Campbell basierenden Schema. Das Schema ist immer ungefähr so:

      Auch Deine Geschichte ist eine Heldengeschichte. Also frage Dich: Wo und wie beginnt die Geschichte? Und: Wer ist überhaupt der Held? Denn im Marketing-Storytelling ist der Held gemeinhin nicht die Marke oder die Unternehmerin – sondern der Kunde!

      [22]Mias Geschichte rührt Dich nicht nur an, weil sie emotional ist – sondern auch, weil sie eine solche Heldenreise ist. Die Heldin ist natürlich Mia. Sie befindet sich in der ihr bekannten Welt des Sports, als plötzlich etwas Schreckliches passiert: die Sportverletzung. Jetzt folgen eine tiefe Krise und Jahre des Zweifelns. (Das ist mit Tod und Auferstehung gemeint: Es muss natürlich nicht wirklich jemand sterben). Hier siehst Du schon, dass der Kreis, wie ich ihn oben gezeichnet habe, mehrere Schleifen haben kann: Mia hat eine Krise am Anfang, aber es sieht ja danach aus, als steuere sie auf eine weitere Krise zu. Wenn die Theorie der Heldenreise stimmt, dann müsste ihr bald ein weiser Mentor oder Begleiter begegnen …

      Nachdem Du jetzt also weißt, warum Mias Geschichte Dich mehr berührt als bloße Fakten, wollen wir schauen, wie es mit Mia weitergeht.

      Zehn Jahre im Büro. Zehn Jahre Buchhaltung, Reiseplanung, Akten sortieren, Texte schreiben. Ich durfte die Firmenwebsite mit Inhalt füllen und entwickelte die Social-Media-Kommunikation für den mittelständischen Betrieb, in dem ich arbeitete. Es war … okay. Zehn Jahre geregelte Arbeitszeiten, Sicherheit, garantierter Urlaub. Zehn Jahre, in denen ich mich fragte, wie es sein würde, dies nun bis an mein Lebensende zu machen. Nein, mein Job war wirklich okay. Und bei der Vorstellung, dass ich das bis zur Rente tun würde, empfand ich brennende, verzehrende Langeweile. Dann kam diese Party. Ja, lustigerweise war es wieder eine Party, nach der sich zum zweiten Mal alles änderte.

      „Mia!“ Ich hörte seine Stimme kaum über der lauten Musik. Eigentlich wollte ich auch nicht angesprochen werden. Ich stand am Rand der Tanzfläche, wippte mit den Fußspitzen und wartete, dass ein Song kam, der mich auf die[23] Tanzfläche zog. Der Typ, der meinen Namen gerufen hatte, tippte mich von der Seite an. Ein kurzer Blick. Woher wusste der, wie ich heiße? „Silvio. Silvio Grau“, stellte er sich vor. „Abi 1995? Weißt Du nicht mehr?“ Ich wusste tatsächlich nicht mehr. Na ja, wenn ich genau drüber nachdachte, erinnerte ich mich dunkel. Silvio. Einer von den Nerds. Ganz süß, Bücherwurm. Unscheinbar. „Hi, Silvio“, sagte ich mit mäßiger Begeisterung. „Wie geht’s Dir denn so?“ – „Wollte ich Dich gerade fragen. Du standest da und sahst traurig aus.“ Ich schnaubte und brachte ein Lächeln zustande. „Ich stand hier und überlegte, ob ich tanzen will“, entgegnete ich. Silvio kaufte mir das nicht ab, das sah ich seinem Blick an. Und plötzlich kaufte ich es mir selbst nicht mehr ab. „Gehen wir nach nebenan? Da ist es ruhiger.“ Er nickte. Und dann erzählte ich ihm von meinem sicheren, langweiligen Leben. Von meiner Sportverletzung und den Plänen, die damals mit meinem Bein zusammen kaputtgegangen waren. Er hörte zu und stellte ab und zu ein paar Fragen. Die entscheidende Frage kam zuletzt: „Und was unternimmst Du dagegen? Wenn Dich das alles so unglücklich macht? Was müsstest Du tun, um wirklich glücklich zu sein?“

      Ja, was unternahm ich dagegen?

      Am nächsten Morgen wachte ich wieder mit einem verendeten Nagetier im Mund auf. Diesmal allein. Das Gespräch mit meinem Spiegel verlief nicht besser als sonst. Mein Spiegelbild verhöhnte mich. Diesmal klang die Frage mit: „Was unternimmst Du dagegen? Was müsstest Du tun, um wirklich glücklich zu sein?“ Ein paar Tage lief ich damit herum. Immer wieder diese Frage im Hinterkopf. Dann rief ich Silvio an.

      Einige Tage später standen wir auf meinem Balkon. Es regnete, die Menschen unter uns hasteten mit hochgeschlagenen Kragen vorbei. „Ich kann das nicht tun“, schluchzte ich. „Ich kann doch nicht einfach alles aufgeben, was ich mir aufgebaut habe.“ Silvio nickte langsam. „Das verstehe ich. Aber das, was Du Dir aufgebaut hast, macht Dich ja nicht froh, oder? Du wolltest doch Sportlerin sein.“ – „Ja, aber[24] das geht nun mal nicht!“, jammerte ich. Silvio zuckte mit den Schultern. „Ach, weißt Du. Als ich noch beim Fernsehen war, habe ich Geschichten über Menschen gedreht, die scheinbar Unmögliches geschafft haben. Eine fast Siebzigjährige, die einen Marathon gelaufen ist. Und einmal eine Reportage über Kinder, die im Sterben liegen. Ich sage Dir: Es geht immer viel mehr, als wir glauben. Der Unterschied ist nur, es einfach zu wagen.“

      Vielleicht hatte er recht. Und Silvio konnte ich noch nicht einmal mit dem Argument kommen, er wisse ja nicht, wie das sei: Silvio hatte seinen gut bezahlten Job beim Fernsehen einfach geschmissen, weil ihm die Medienwelt auf die Nerven ging. Jetzt führte er ein Szenecafé in der Südstadt. Er wusste genau, was es heißt, alles hinzuschmeißen und ganz von vorne anzufangen. Also holte ich tief Luft, wischte mir – wieder einmal – die Tränen ab und sagte: „Okay. Lass uns mal hinsetzen und überlegen, was ich tun könnte. Hilfst Du mir?“

      Zwei Wochen später hatte ich mich angemeldet, eine Ausbildung zur Fitnesstrainerin zu machen. Erst einmal neben der Arbeit. Ein halbes Jahr später schmiss ich den Bürojob. Ich trainierte nicht mehr nur vorsichtig, nach und nach. Seit einigen Jahren schwamm und lief ich wieder, und meine Achillessehne spielte mit. Jetzt erstellte ich mir selbst wieder Trainingspläne. Ich wollte keine Leistungssportlerin sein, sondern ich wollte fit genug sein, um andere trainieren zu können. Fit genug, um ein Beispiel sein zu können. Ich wollte beweisen, dass eine Verletzung kein Schiedsspruch ist, den man hinnehmen muss. Und dass Ärzte nicht immer

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