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Medizin vom Menschen geben, die nicht psychosomatisch ist.

      Immer stärker schieben sich heute Erkrankungen in das soziale Leben, die als „psychisch“ bezeichnet werden, weil äußerlich erkennbare krankhafte Veränderungen an den Organen nicht feststellbar sind. Und doch sind auch sie „organisch“, weil das gesunde Wechselverhalten, die Interaktion von Seele und Leib gestört, nicht gesund ist. Dazu zählen auch sogenannte Verdauungsstörungen („Funktionelle Dyspepsie“), Unverträglichkeiten gegenüber Nahrungsmitteln, Reizmagen und Reizdarm, kurz alle Erkrankungen, die wir heute funktionell nennen, und die immer noch nicht wirklich ernstgenommen werden. Das Gestörtsein des Leibes entzieht sich hier weitgehend einer sinnlich-manifesten Objektivierung. Und so werden sie gerne als „nicht-organisch“ oder als Befindlichkeitsstörungen abgetan. Nimmt man jedoch ernst, dass auch in diesen leiblichen Störungen das Ich in seiner Tätig keit behindert wird, dass sein Erkennen der Welt, der Mitmenschen und auch seiner selbst dadurch verzerrt oder verfälscht werden kann, bekommen auch diese scheinbar nur funktionellen Erkrankungen für den Arzt die Aufgabe, sie zu heilen, um den gesunden Organismus als Voraussetzung für ein frei wirkendes Ich wiederherzustellen und zu befestigen.

      Der Leib ist schon dem Verständnis der naturwissenschaftlichen Medizin nach ungeheuer komplex. Wie ist doch jedes Gewebe von besonderer Art („Parenchym“), wie staunenswert sind die Architekturen z.B. eines Leberläppchens, eines Nierenglomerulums oder auch die Knochenstrukturen. Welche Welt voller Wunder betreten wir mit der Betrachtung des Leibes, makroskopisch wie mikroskopisch. Welche Schönheit begegnet uns durch ihn, welche Weisheit der Schöpfung. Wie kann ich es als selbstverständlich nehmen, in welcher Weise der gesunde Organismus in allen Vorgängen geregelt ist, wie er sich auch begrenzt, wie Vergehen und Entstehen im Gleichmaß geschehen. Ich kann das nur staunend erfassen, und mich ergreift tiefe Ehrfurcht vor dieser Vollkommenheit. Diese beiden Eigenschaften, Staunen und Ehrfurcht, als notwendige Voraussetzungen der Begegnung des Arztes mit dem Leib des Patienten müssen neu entdeckt und auch geschult werden, will der Arzt seiner Berufung als Diener in der Mitarbeit an der Schöpfung Leib gerecht werden.10 Denn diese ist nicht abgeschlossen, ihre Wirklichkeit ist das Werden, nicht das Gewordene. Nur scheinbar ist ein Schienbein immer das gleiche. In Wirklichkeit befindet es sich in dauerndem Abbau und Wiederaufbau, es ändert sich in seiner Stofflichkeit, in seiner Struktur und letztlich auch in seiner Form oder Gestalt. In der Kindheit und Jugend kann man dem geradezu zusehen, später sind die Vorgänge äußerlich so verlangsamt, dass sie als unverändert erscheinen. Doch im Feinstofflichen, mikroskopisch erfassbar, dauert die Veränderung an, setzen sich Abbau und Aufbau fort. Und im Alter werden die Vorgänge wieder anschaulicher in den vielfachen Deformationen, dem Schrumpfen oder der stark verlangsamten Regeneration.

      Wir stoßen auf die allem zugrundeliegenden Funktionen, die wir schon Abbau und Aufbau oder auch Regeneration nannten, die als Stoffwechsel bezeichnet werden, als Bildung von „Säften“, Zellen oder Hormonen. Auch hier erleben wir eine staunenswerte Fülle von Tätigkeiten, die wir dem Leben zuordnen, weil es sie im Leichnam so nicht mehr gibt. Sie äußern sich quantitativ, wenn wir lernen, dass unsere Nieren weit mehr als 100 Liter Primärharn bilden, von dem durch Rückresorption der größte Teil wieder in den Organismus aufgenommen wird und von dem wir nur etwa ein bis zwei Prozent wirklich ausscheiden; oder dass die Speicheldrüsen etwa 1,5 Liter Speichel täglich bilden; wir mehr als 25 000 Atemzüge der Ein- und Ausatmung in 24 Stunden tun, und das Herz noch viermal mehr Pulsschläge als Ausdruck seiner Arbeit im Zusammenziehen (Systole) und Wiederausdehnen (Diastole) leistet, also rund hunderttausend Schläge in 24 Stunden. Sie äußern sich auch qualitativ, z.B. in der Elastizität unserer arteriellen Gefäße, des Knorpels, ja auch der Knochen; in der Kontraktilität der Muskulatur, die in der sogenannten glatten Muskulatur eine dauerhaft an- und abschwellende Form z.B. als Peristaltik des Magens und der Därme annimmt; oder als weiteres Beispiel der Viskosität des Blutes, das in einem ständig labilen Gleichgewicht von Gerinnung und Verflüssigung gehalten wird.

      Und der Leib bildet in sich Empfindsamkeit. Bekannter Ausdruck hiervon ist der Schmerz, aber auch die große Welt unserer Emotionen, von Leidenschaft, Antrieb, Instinkten oder Begehren. Für alles Empfinden findet sich kaum noch sinnlich Beobachtbares in organischen Veränderungen, durch die Empfindung bildet sich Subjektivität, die sich dem Mess-, Zähl- und Wägbaren und deren Objektivität entzieht. Und doch liegen auch dem Empfinden organische Vorgänge zugrunde, die wir noch angedeutet in Redensarten erleben, wenn uns das Wasser im Munde zusammenläuft, etwas an die Nieren geht, einem die Galle überläuft. Der Empfindungsleib ist der leibliche Ort, an dem sich Leib und Seele begegnen, sich kurz verschmelzen, sich wieder trennen, was als Ein- und Ausatmen anschaulich wird. Nur müssen wir die Atmung viel umfassender denken als nur reduziert auf Lungenatmung. Denn jedes Organ atmet, ist differenzierender Träger der Empfindung, Ort des Erlebens der Seele in der Begegnung mit dem Leib. Die Organe sind Tore der Seele zur Welt, aber auch Spiegel für ihr Selbsterleben.

      Dreifach also ist der Leib gegliedert: stofflich, lebendig und empfindend. Und mittels der Wärme durchdringt ihn das Ich, jeden Ort bis zur einzelnen Zelle prägend und ihn sich „entsprechend“ zu machen, wie es durch die Immunologie auch längst entdeckt und beschrieben wurde. So ist der gesunde Leib ich-geprägt, nichts in ihm ist fremd oder darf sich verfremden, alles in ihm ist auf Integrität veranlagt, bildet über das Ich Individualität. Der schwedische Immunologe Prof. Hans Wigzell formulierte es einmal auf einem Kongress in Järna/Schweden so deutlich: „Alle Fakten zeigen, dass das Immunsystem jedes Menschen einzigartig ist. Und es gibt keine Kopie von ihm“. Die Individualität schafft sich ein äußeres Erscheinungsbild in der Biografie. Auch in ihr wird die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit jedes Menschen deutlich. So müsste sie wesentlicher Bestandteil der Medizin werden, im individuellen Verständnis von Kranksein, dem ganz speziellen Weg einer Heilung, der individuellen Art einer Gesundheit. Jeder Versuch einer kollektiven Erkenntnis führt vom Menschen weg, schafft Illusionen.

      Christliche Medizin heißt also immer auch individualisierende Medizin. Was durchaus erlaubt, Artmäßiges oder Typisches vom Menschsein in den forschenden Blick zu nehmen, doch immer im Bewusstsein, dass hiermit Grundsätzliches festgestellt wird, seine Anwendbarkeit auf den konkreten Menschen jedoch stets überprüft werden muss und ihm nicht einfach übergestülpt werden darf. Hier liegt die Einschränkung einer Evidenz-basierten Medizin, die sich als sogenannter Goldstandard der erkennenden Medizin weit von der Wirklichkeit Mensch entfernt hat, sich jedoch als dogmatisch geprägte Haltung wie in einer geschlossenen Burg gegen jede Öffnung verteidigt. Der englische Arzt David Sackett, der diesen Begriff bildete, wusste das und stellte der äußeren Evidenz eine innere gegenüber. Sie zusammen bildeten für ihn erst eine Wirklichkeit ab.11

      Der zukünftige Arzt muss sich also in zweierlei Richtung neu ausrichten, um den Leib und seinen Anteil an der Ganzheit Mensch wirklich anschauend zu erfassen. Er muss eine Physiologie als Ausdruck des gesunden Menschen erarbeiten und so in sich zur Anschauung bringen, dass er die Veränderung zur Krankheit als Abweichung oder Vereinseitigung erfasst und im Durchschauen dieser krankhaften Vorgänge sogleich entdeckt, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um wieder geordnete bzw. gesunde Verhältnisse herzustellen. Und er muss sich zugleich in seiner ethisch-moralischen Tätigkeit schulen, um Diener seiner Berufung sein zu können.

      Beides soll nur kurz erläutert werden. Wieder wird dabei das Verständnis einer hier gemeinten christlichen Medizin zugrundegelegt und die eigene Erfahrung dieses Weges miteinbezogen.

      Um seinen diagnostischen und therapeutischen Blick für den Menschen zu schulen, muss der Arzt sein Erkennen methodisch erweitern. Er kann nicht bei dem stehenbleiben, was ihn die universitäre Medizin lehrt. Deren Methode ist eine analytisch-beweisende, die misst, zählt und wägt, die Objektivierbarkeit anstrebt und alles Subjektive ausschließen will. Dabei bemerkt sie nicht, wie sehr sie den Menschen zu einem Objekt macht. Und sie nimmt ihn immer weniger direkt mit den menschlich zur Verfügung stehenden Sinnesorganen wahr, sondern delegiert das Wahrnehmen an Apparate, deren Mitteilungen sie als Ergebnisse registriert und vor allem interpretiert. Womit die scheinbar reine Objektivität oft schon verlassen wird und sich die Subjektivität des Interpretierenden einmischt. Es gibt viele Untersuchungen, wonach ein objektiver Befund von verschiedenen Ärzten

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