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gemacht wird. Eine weitere Aussage Steiners, wonach „Christus unabhängig von konfessionellen Religionen für alle Menschen gekommen ist“ wurde mir Leitbild: ER hat helfend in die Evolution der Menschheit eingewirkt, sie neu belebend und mit dem Freiheitsimpuls verbindend. Es ging ihm nicht um die Stiftung einer neuen Religion – das haben Menschen aus seinem Wirken gemacht – es ging ihm um das Heil der Menschen in ihrer Begegnung mit dem Göttlichen und den Gegenkräften, auch das Böse genannt (Steiner sprach auch von Widersachern). Christus begründete ein Menschenbild, indem er sich selber zum Bild des Menschen machte. Pontius Pilatus hat das in seinem „Ecce homo“ wahrgenommen, kaum vollbewusst, eher ahnend-intuitiv. Christliche Medizin beginnt daher aus meiner Sicht mit dem Schaffen eines Menschenbildes, das die Gliederung in Leib, Seele und Geist neu entdeckt, differenziert beschreibt und zugleich die göttliche Schöpfung in ihm erlebt.

      Der erste Schritt ist somit ein Erkenntnisakt. Steiner nannte das in Vorträgen über „Die Geheimnisse der menschlichen Organisation“ „Menschenverständnis“. Christliche Medizin begründet jedoch auch eine ethisch-moralische Handlungswelt. Diese nannte Steiner an gleicher Stelle „Menschenliebe“. „Es gilt als die eigentliche Quelle des Moralisch-Geistigen in der Menschheit nur dasjenige, was man Menschenverständnis nennen kann, gegenseitiges Menschenverständnis, und die auf dieses Verständnis der Menschen gebaute Menschenliebe.“4

      Achtmal habe ich zusammen mit meinem Freund Johannes Lenz, Pfarrer der Christengemeinschaft, ein dreitägiges Seminar „Wege zu einer Christlichen Medizin“ kontinuierlich Jahr für Jahr in der Carl Gustav Carus Akademie Hamburg durchgeführt. Die dort vorgetragenen Inhalte und das in Gesprächen aller Teilnehmer erlebte Verbindende bilden die Grundlage dieses Buchs. Es ist ein sehr bewusst persönlich gehaltenes Buch, es birgt die Essenzen meines eigenen Weges als Arzt, wo ich immer im Austausch mit Pfarrern oder Priestern stand, also ganz im Sinne von Steiners Pastoralmedizin. Es möchte den Leser Fragen erleben lassen, die vielleicht auch in ihm existieren, bewusst oder noch unbewusst. Es möchte Denkanstöße statt fertiger Antworten vermitteln und es möchte Wege aufzeigen, auf welchen die Medizin den Menschen in seiner Ganzheit wiederfindet, den sie methodisch durch ihr zergliederndes Denken aus dem Blick verloren hat. Und es möchte vor allem auch wieder eine Perspektive des Heilens eröffnen, das der modernen Medizin ebenso wie die Ganzheit Mensch verlorenging. Der Kardiologe Bernard Lown, der die Klassifikation der Herzrhythmusstörungen schuf und die Elektrostimulation des Herzens (Kardioversion) entwickelte, hat diesen Aspekt in seinem Buch „Die verlorene Kunst des Heilens“5 ausführlich und auch sehr persönlich beschrieben. Denn Heilen ist mehr und auch etwas anderes als Gesundmachen. Eine Orientierung sollen dafür die Heilungsgeschichten der Evangelien geben, verbunden mit dem Blick auf die Entwicklungsgeschichte, in welcher die Menschen das Heilsein verloren haben.

      Christliche Medizin ist also eine begriffliche Benennung eines Wegs, der die Medizin und vor allem alle in ihr beruflich Tätigen aus der Sackgasse führen möchte, in die sie durch die einseitige Festlegung auf eine rein naturwissenschaftliche, „objektivierende“ Wissenschaft geraten sind. Das wird natürlich auch große Konsequenzen für alle Menschen haben, die sich der Medizin anvertrauen oder oft auch ausliefern müssen, für jene Menschen, die wir im Allgemeinen „unsere Patienten“ nennen. Deshalb hoffe ich, dass dieses Buch auch von letzteren gelesen wird. Denn meine Hoffnung auf eine veränderte, „menschengerechtere“ Medizin ruht darauf, dass sie aus den Forderungen der Patienten entsteht. Es ist in der gegenwärtigen Zeit schwer vorstellbar, dass sich das festgefahrene System der Medizin aus sich heraus metamorphosiert. Zu stark scheinen mir die selbstangelegten Fesseln, als dass nicht Hilfe von außen kommen müsste, um sie zu lösen. Zu schwach sind auch Einsicht und Wille der Ärzte, im Blick auf die Bedürfnisse ihrer Patienten etwas zu ändern. Wenn die Ärzte rebellierten, was selten genug geschah, dann eigentlich immer nur, wenn es um die Neufassung ihrer Gebührenordnung und eine befürchtete Schmälerung ihrer Einkommen ging. Ich habe nicht erlebt, dass Ärzte einmal für ihre Patienten auf die Straße gingen, zum Beispiel dann, als weitgehend alle Arzneimittel der Komplementärmedizin von der Erstattung gesetzlicher Krankenkassen ausgeschlossen wurden. Wie anders das einmal gedacht wurde, zeigt die 1982 bei der Generalversammlung des Weltärztebundes in Lissabon verabschiedete Deklaration:

      „Ein Arzt sollte immer, auch angesichts faktischer, ethischer und rechtlicher Schwierigkeiten, seinem Gewissen folgen und nur dem Wohle des Patienten dienen. Die folgende Deklaration enthält einige der wesentlichen Grundrechte, welche die Ärzte für die Patienten sicherstellen wollen. Wenn die Gesetze oder die Regierung eines Landes dem Patienten diese Rechte durch Maßnahmen vorenthalten, sind die Ärzte gehalten, geeignete Mittel und Wege zu suchen, diese Mittel dennoch zu gewähren.

      – Der Patient hat das Recht auf freie Arztwahl.

      – Der Patient hat das Recht, von einem Arzt behandelt zu werden, der seine klinischen und ethischen Entscheidungen frei und ohne Einfluss von außen treffen kann.

      – Der Patient hat das Recht, einer Behandlung nach angemessener Aufklärung zuzustimmen oder sie abzulehnen.

      – Der Patient hat das Recht, zu erwarten, dass der Arzt über seine medizinischen und persönlichen Daten Schweigen bewahrt.

      – Der Patient hat das Recht, in Würde zu sterben.

      – Der Patient hat das Recht auf geistige und moralische Unterstützung, die er auch ablehnen kann; das schließt das Recht auf den Beistand eines Geistlichen seiner Religion ein“.

      2.

      Der Arzt als Leibsorger

      So sehr man versucht sein kann, das Körperliche, den Leib des Menschen als vergänglich und damit weniger bedeutsam für sein ewiges Leben als die unsterbliche Seele und den über alle Zeiten andauernden Geist anzusehen, so sehr ist in Wirklichkeit der Leib der vollkommenste Aspekt der Schöpfung Mensch. An ihm haben die schöpferischen oder eben göttlichen Kräfte von Beginn an gearbeitet, er wurde immer im Bild eines Tempels gesehen. Und ihn neiden die Widersacher den Göttern, weil sie Vergleichbares nicht schaffen können. Alle Versuche im Ausdruck von Technik und Kunst sind stümperhaft im Vergleich mit dem Menschenleib, und das ist den widerstrebenden Mächten bewusst. Deshalb versuchen sie auch, sich dieses Leibs zu bemächtigen. Die moderne Medizin ist einer ihrer großen Helfer dieses Ansinnens.

      „Der Körper ist nicht des Menschen, der Körper ist Gottes“, sagt Steiner in Vorträgen zu jungen Ärzten und Medizinstudenten.6 Er beschreibt schon früh in Vorträgen zu einer geisteswissenschaftlich („okkult“) erforschten Darstellung des gesunden Menschen („Physiologie“)7 und dann ganz am Ende seiner Vortragstätigkeit 1924 im Pastoralmedizinischen Kurs8 den Beruf des Arztes als einen Gottesdienst. Was überhaupt nicht heißt, als Priester oder Pfarrer zu wirken, sondern im Dienste der Schöpfung am Gesundsein und Gesunderhalten (Salutogenese) des menschlichen Leibes verantwortlich mitzuarbeiten. So wie der Priester oder Pfarrer Seelsorger sein soll, ist der Arzt berufen zur Leibsorge. Und das ist eine tief bedeutsame und hoch verantwortungsvolle Berufung. Denn: „Der Leib hat einen dem Denken entsprechenden Bau“.9 Dieser Satz aus Steiners „Theosophie“ macht die Bedeutung unseres Leibes klar. Alles Erkennen, das in unser Denken mündet, braucht einen ihm entsprechenden, das heißt „gesunden“ Bau. In unserem Denken ist unser Ich tätig, mit ihm reflektiert es seine Begegnungen mit der Welt und mit sich selbst (Selbsterkenntnis). Der Leib bildet dem Ich die Werkzeuge („organon“, griechisch Werkzeug), die es zu seinem differenzierten Denken braucht. Alle Organe und die Organsysteme wie Blut, Muskulatur, Zentralnervensystem, Knochen- und Bindegewebe sind vielgestaltige Werkzeuge für das Ich, damit es erkennend tätig sein kann. Und jedes Organ hat für das Denken einen ganz eigenen Aspekt. Wir brauchen für das Denken nicht nur das Gehirn, wir denken mit dem ganzen Körper. Dieser, als Organismus bezeichnet, kann – um im Bilde zu bleiben – als die Werkstatt des Ich angeschaut werden, in welcher jedes Organ ein bestimmtes Werkzeug bildet, mit dem das Ich seine Erkenntnis der Welt, seine „Weltanschauung“ schöpferisch bildet, so wie der Tischler seine Möbel oder der Schuhmacher die Schuhe. Dieses schaffende Ich, das im Erkennen die Welt mitschafft und auch verändert, braucht gleichermaßen den ihm entsprechenden Bau seines Leibes, ebenso wie das empfindende und fühlende Ich, das als

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