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       1. An der Schwelle zu einem neuen Zeitalter

      Das Zeitalter der Digitalisierung hat begonnen – so lautet das Mantra der Industrie, der Wirtschaft und Politik, das uns täglich entgegentönt. «Digitalisierung» ist zum Leitbegriff unserer Epoche geworden. Viele wissen zwar gar nicht, was er genau beinhaltet, doch meint man sicher zu wissen, dass in ihm der Schlüssel für die Zukunft der Menschheit liege. Nicht anders als die Industrielle Revolution, die vor mehr als 200 Jahren die moderne Industriegesellschaft heraufführte, werde jetzt die Digitale Revolution eine umwälzende Veränderung des gesamten Lebens auf der Erde bewirken, so die allgemeine Erwartung.

      In der Tat: Atemberaubend schnell sind in den letzten Jahrzehnten auf der Grundlage der Digitaltechnik elektronische Geräte und Systeme erfunden worden, die für unsere Großeltern noch jenseits des Vorstellbaren gewesen wären. Die Entwicklung schreitet derartig rasant voran, dass mit Recht von einem tiefgreifenden Wandel gesprochen wird, dessen Dimensionen gewaltig sein werden. Jedoch ist dieser Wandel – wie jeder große Umbruch in der Menschheitsgeschichte – nicht nur von Hoffnungen getragen, sondern auch von Ängsten begleitet. Begeisterung und Euphorie paaren sich zunehmend mit Furcht und Sorge. Paradoxerweise aber wirken im Falle der Digitaltechnik Angst und Sorge bisher nicht hemmend auf den Fortschritt, sondern sind selbst zu Triebfedern der Entwicklung geworden. Dieser überraschende Befund ergibt sich bereits bei einem Blick auf die Anfänge.

      Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA die Computertechnik zu etablieren begann, waren Forscher und Wissenschaftler fasziniert von den Möglichkeiten, die sich durch den Einsatz elektronisch gesteuerter Rechner eröffneten. Gefördert von der ARPA, einer Forschungsagentur des US-Verteidigungsministeriums, verbanden sie ab 1969 die Großcomputer mehrerer US-Universitäten zu einem Netz, das unter dem Akronym ARPANET bekannt wurde. Dahinter stand zunächst nur der Wunsch der Wissenschaftler, die Ressourcen dieser Rechner durch einen landesweiten Datenaustausch besser zu nutzen. Die US Air Force indes verfolgte damit noch ein ganz anderes Interesse, das sich nicht aus der Begeisterung für die neue Technik speiste, sondern aus der Angst vor einer drohenden militärischen Gefahr, die sich abzuzeichnen begann:

      Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten befanden sich zu jener Zeit im Kalten Krieg mit der Sowjetunion und ihren Vasallen und bangten nach dem Sputnik-Schock von 1957 sowohl um ihre globale technische und wirtschaftliche Überlegenheit wie auch um ihre nationale Sicherheit. Dass die Sowjets als Erste über eine Rakete verfügten, mit der man Satelliten in den Weltraum befördern konnte, bedeutete, dass sie künftig auch in der Lage sein würden, atomar bestückte Raketen auf das Gebiet der USA zu richten. Hätte man dort das militärische Computernetz zentral strukturiert, hätte ein Raketentreffer es möglicherweise auf einen Schlag vernichten können, mit verheerenden Folgen für die gesamte Kriegsführung der USA. Deshalb setzte die US Air Force auf die dezentrale Struktur, die ihr Forscher Paul Baran bereits zu Beginn der 1960er-Jahre zum Schutz gegen einen vernichtenden Atomschlag vorgeschlagen hatte, und eben dadurch wurde das ARPANET unbeabsichtigt zum Vorläufer des heutigen Internets.

      Schon bald aber entdeckte der US-Geheimdienst NSA (National Security Agency), dass die viel größere Gefahr in den Computern selbst lauerte, weil sie statt von außen auch von innen attackiert und zerstört werden konnten: Daniel J. Edwards, ein NSA-Mitarbeiter, stellte 1972 eine Studie vor, der zufolge es trotz oder gerade wegen der Dezentralisierung möglich sei, in den bestehenden elektronischen Datenverkehr ein feindliches Computerprogramm einzuschleusen, das sich hinter einem unverfänglich erscheinenden Dokument verbirgt, beim Herunterladen nicht bemerkt wird und sich sofort in die befallene Festplatte einnistet, um von dort aus je nach Absicht des Absenders wirksam zu werden.

      Das war anfangs eine rein theoretische Überlegung, doch mit ihr war eine Idee geboren, die bald darauf weltweit zu einer realen Bedrohung wurde. Sie bereitet bis heute allen Benutzern digitaler Geräte Sorge, denn wer sein Gerät mit dem Netz verbindet, muss damit rechnen, dass er sich ungewollt ein Schadprogramm einfängt, das schrittweise oder auch schlagartig die Herrschaft über seinen Computer übernimmt, indem es heimlich Daten abfängt, Passwörter ausspioniert, Programme manipuliert oder den Zugang zu allen Dateien blockiert und sie im schlimmsten Falle sogar zerstört. Diese Gefahr wiederum führte einerseits zur Entwicklung ständig aktualisierter Antivirenprogramme, die den Computer schützen sollen, und andererseits bei Kriminellen zur Entwicklung immer neuer Schadprogramme zur Überwindung ebenjener Abwehr. Ein nicht endender Wettlauf entstand, wie der zwischen Igel und Hase im Märchen.

      Doch zurück zu Edwards: Auf der Suche nach einem einprägsamen Titel für seine Studie besann er sich auf den griechischen Mythos von der Stadt Troja, die nicht auf reguläre Weise durch eine militärische Niederlage unterging, sondern durch das sorglose Hereinholen eines hölzernen Pferdes in die Stadt, in dem feindliche Soldaten versteckt waren. Nach diesem Vorbild taufte er das unbemerkt in den Computer gelangte Schadprogramm auf den Namen «Trojanisches Pferd» (meist abgekürzt «Trojaner» genannt).

       Vorzeichen eines welthistorischen Umschwungs in der Antike

      Das mythische Bild, das Edwards da in die Computerwelt einführte, hat in unserer Zeit eine unvorhergesehene Aktualität gewonnen, die weit über das Problem der Schadprogramme hinausgeht. Das Trojanische Pferd kann heute als Allegorie gelten für eine umfassende Gefährdung und Herausforderung der Menschheit, die Thema dieses Buches sein wird, zu Edwards’ Zeit aber noch nicht gegeben war. Für ihn handelte es sich lediglich um eine Metapher, die er als vermutlich humanistisch gebildeter Mensch aus Homers Epos Ilias entnahm. Blickt man jedoch auf unsere gegenwärtige Situation, dann lohnt es sich, die fragliche Passage der Ilias genauer anzuschauen, denn in ihr steckt zugleich eine Botschaft, die uns auf die Spur zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln des Computerzeitalters führen kann.

      Homer erzählt, wie die vereinten Heere der Griechen zehn Jahre lang vergeblich versuchten, die an der kleinasiatischen Küste gelegene Stadt Troja zu erobern. Nach zahllosen verlustreichen Kämpfen griffen sie schließlich auf den Rat des Odysseus zu einer List: Sie zogen eines Abends im Schutz der Dunkelheit geräuschlos ab und hinterließen auf dem geräumten Strand ein riesiges, aus Holz gefertigtes Pferd, in dem Krieger versteckt waren. Die Trojaner sahen am nächsten Morgen mit Erstaunen die leere Ebene vor ihrer Stadt und betrachteten das Pferd als ein Geschenk der Götter. Ungeachtet der dringenden Warnung der Seherin Kassandra zogen sie es triumphierend in die Stadt und feierten dort ihren «Sieg». Spät in der Nacht kletterten die versteckten Griechen heraus, öffneten die Stadttore und ließen die Heere herein, die inzwischen zurückgekehrt waren und nun mühelos alles niedermachten.

      Eigentlich durften sich die Trojaner zu Recht als Sieger empfinden, denn der Angriff der Griechen war objektiv gescheitert. Doch wiegten sie sich in Sicherheit und waren von der Gunst ihrer Götter so fest überzeugt, dass sie das vermeintliche Siegeszeichen, in dem die tödliche Gefahr lauerte, gar nicht untersuchten. Selbst die Warnung einer Wahrsagerin von untadeligem Ruf vermochte nicht ihr Vertrauen zu erschüttern. Arglos wie Kinder rechneten sie nicht mit einer so hinterhältigen Kriegstaktik. Wir Heutigen haben kein Recht, darüber zu spotten, denn das sorglose Nichtbeachten einer lebensbedrohenden Gefahr ist auch der modernen Menschheit nicht fremd, wie später zu besprechen sein wird.

      Ob und inwieweit Homers Epen Ilias und Odyssee auf Wirklichkeit oder auf Fiktion beruhten, war unter den Fachgelehrten schon im Altertum heiß umstritten und ist es bis heute. Hinsichtlich der Erzählung vom Trojanischen Pferd jedoch ist der Gelehrtenstreit müßig; er geht am Kern der Sache vorbei. Denn ob Mythos oder nicht – Homers Darstellung greift statt in die Vergangenheit in die Zukunft: Wie ein Wetterleuchten am Horizont kündigt sich in der Gestalt des «listenreichen Odysseus», der das raffinierte Täuschungsmanöver mit dem Pferd ersann, das Heraufkommen eines künftigen Zeitalters an, zu dessen hervorstechenden Merkmalen das allgemeine Erwachen der Verstandeskräfte gehörte – ein Ereignis von ungeheurer Tragweite bis in die Gegenwart.

      In Homers Epen steht der Held Odysseus unter dem Schutz der Göttin Athena, von der es hieß, sie sei direkt aus dem Haupt des Zeus geboren worden

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