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      5

      Es war feucht und kalt an diesem Morgen. Der Himmel - obwohl wolkenlos - war noch grau. Die Nacht konnte sich noch nicht entschließen, zu gehen, und der Tag war noch zu schwach, um sie zu vertreiben.

      Still und verlassen lagen die riesigen Frachtkähne an den Piers von Brooklyn. Irgendwo kläffte ein Köter. Der Wind blies alte Zeitungsfetzen an den Fronten der Lagerhäuser vorbei. Wie Ungetüme aus der Vorzeit ragten die mächtigen Kräne empor. Bald würde hier das Leben erwachen, wenn die ersten Hafenarbeiter eintrafen. Doch noch war alles ruhig.

      Auf einem der Kähne bewegte sich eine Plane. Sie wurde ein Stück zurückgeschoben. Ein Kopf tauchte auf. Vorsichtig. Der Mann peilte die Lage. Er hatte ein großes rundes Gesicht und dunkle Knopfaugen. Ein leidender Ausdruck stand in seinem Antlitz. Das Leben schien nicht gerade sanft mit ihm umgegangen zu sein. Wie ein Mensch, der ständig auf der Flucht ist, sah er aus.

      Die Luft war rein. Er tauchte wieder unter die Plane.

      „Wie sieht's aus?“, fragte ihn eine zaghafte Mädchenstimme aus der Dunkelheit. Sie gehörte Maria Wassinski, seiner Schwester. Er hieß Jossip Wassinski und war um fünf Jahre älter als sie.

      Sie stammten aus Polen, einem Land, in dem sie nicht mehr leben wollten. Sie hatten einfach nicht mehr die Kraft dazu. Sie waren wegen ihrer politischen Aktivitäten verfolgt worden. Man hatte ihnen das Leben so schwer wie möglich gemacht, und sie hatten befürchtet, in ihrer Heimat vor die Hunde zu gehen. Deshalb hatten sie sich entschlossen, auszuwandern. Illegal natürlich, denn eine Ausreisegenehmigung hätte man ihnen nicht erteilt.

      Sie hatten ihre gesamten Ersparnisse zusammengerafft, hatten sich nach Danzig begeben, hatten einen Matrosen bestochen und waren als blinde Passagiere auf diesen Frachter gelangt. Nach einer Fahrt, die kein Ende nehmen wollte, waren sie in New York eingetroffen. In der Freiheit. In Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

      „Du wirst sehen“, sagte Jossip Wassinski immer zu seiner Schwester. „In Amerika werden wir unser Glück finden.“

      Noch zweifelte Maria daran. Sie wusste nicht, ob es richtig war, daheim alles stehen und liegen zu lassen und davonzulaufen. Sie hatte Angst vor der Zukunft, denn Amerika würde sie nicht mit offenen Armen aufnehmen. Schließlich waren sie illegale Einwanderer, und gegen die hat jeder Staat dieser Welt etwas.

      Sie hatten eine Adresse. Ein Landsmann würde ihnen weiterhelfen, wenn sie ihn aufsuchten. Jossip war voller Zuversicht, dass sich für sie alles zum Guten wenden würde. Er war kräftig. Er würde jede Arbeit annehmen, die man ihm anbot, und er würde fleißig arbeiten.

      „Wir werden unseren Weg machen!“ Auch das war einer seiner Sprüche, die immer wiederkehrten. „Lass uns nur erst einmal amerikanischen Boden unter den Füßen haben, Maria.“

      Seine Schwester brauchte vorerst nichts zu tun. Sie sollte Zeit haben, den richtigen Job zu finden. Jossip wollte nicht, dass sie unversehens auf die schiefe Bahn geriet. Man hatte ihn gewarnt. New York war nicht nur ein heißes Pflaster, sondern auch ein schlüpfriges, wenn man sich nicht vorsah.

      „Es ist alles ruhig“, sagte Jossip. Er schlang seine Arme um Maria und drückte sie innig an sich. „Mein kleines Täubchen, du brauchst keine Angst zu haben. Es wird alles gut werden. Wir tun in wenigen Augenblicken den ersten Schritt in ein neues Leben. In diesem Land darf man sagen, was man sich denkt. Solange du das Gesetz nicht übertrittst, darfst du tun und lassen, was dir Spaß macht.“

      Maria schüttelte den Kopf.

      „Nein, Jossip. Das trifft auf uns beide nicht zu. Wir sind in diesem Land unerwünscht. Sobald du sagst, was du dir denkst, fällst du auf, und sobald man auf dich aufmerksam geworden ist, schiebt man dich ab. Dann geht es zurück nach Polen.“

      „Polen“, sagte Jossip und strich zärtlich über das dunkelbraune Haar seiner schönen Schwester. „Polen gehört der Vergangenheit an, Maria. Unsere neue Heimat heißt Amerika.“ Er griff nach ihrer Hand, und dann krochen sie gemeinsam unter der Plane hervor. Sie schlichen geduckt über das Deck des Frachters. Zwei Schemen waren sie, die durch das Morgengrauen huschten.

      Sie erreichten die Gangway. Jossip Wassinski blieb kurz stehen, um sich wieder gründlich umzusehen. Nachdem er festgestellt hatte, dass die Luft auch auf dem Kai rein war, lief er mit Maria die Gangway hinunter. Unten angelangt, pumpte er seine Lungen voll und sagte überwältigt: „Endlich, Maria! Endlich stehen wir auf amerikanischem Boden. Wir sind zu Hause.“

      „Das kommt mir nicht so vor“, flüsterte Maria Wassinski. Sie blickte zur mächtigen Skyline von Manhattan hinüber. Oft schon hatte sie diese Ansicht auf Bildern gesehen. Aber sie hatte nicht gewusst, dass hier alles so groß und mächtig war. „Ich habe den Eindruck, ich bin in dieser Stadt ein winziges Sandkorn.“

      Jossip nickte.

      „Das bist du auch. Und das ist gut so. In irgendeiner Falte dieses Riesen werden sich zwei Sandkörner verlieren, und niemand wird sich darum kümmern. Deshalb ist es ja so leicht, in New York unterzutauchen. Knapp acht Millionen Einwohner leben hier. Kommt es da auf uns beide an?“

      Sie schritten den Kai entlang. Container standen umher. Was in den Lagerhäusern keinen Platz mehr fand, wurde davor abgestellt. Jossip wusste ungefähr, in welche Richtung er gehen musste. Er hatte sich zu Hause einen alten Stadtplan angesehen. Maria hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Sie vertraute einfach - wie in allem - ihrem älteren Bruder, der für sie schon die richtigen Entscheidungen treffen würde.

      Sie erreichten ein Lagerhaus, aus dem Stimmen drangen. Marias Hand drückte fester zu. Jossip bemerkte es. Er blickte das glutäugige Mädchen sanft lächelnd an.

      „Du brauchst dich nicht zu fürchten. Es kann dir nichts passieren. Ich bin bei dir. Solange ich dich beschütze, wird dir niemand ein Leid zufügen.“

      Er huschte mit ihr hinter die Containergruppe. Vor dem Lagerhaus standen zwei Fahrzeuge. Das Rolltor war halb offen. Wer sich im Lagerhaus befand, konnte Jossip nicht sehen.

      „Warte hier!“, sagte er zu seiner Schwester.

      Sie blickte ihn erschrocken an.

      „Was hast du vor?“

      „Ich bin gleich wieder zurück.“

      „Geh nicht weg, Jossip! Ich habe Angst. Lass mich nicht allein.“

      „Du wirst dich hier verstecken und nicht von der Stelle rühren. In fünf Minuten bin ich wieder bei dir.“

      Ehe ihm Maria widersprechen konnte, eilte er davon. Er schlich auf das Rolltor des Lagerhauses zu und sah einen Augenblick später vier Männer. Einer wurde von zwei großen Kerlen gehalten. Vor ihm stand ein bulliger Typ mit Glotzaugen.

      Es war Cyril Murray, die rechte Hand Brian Cusacks, der an diesem Morgen schon früh aus den Federn gekrochen war, um Brad Rafferty, einem Schlitzohr, das den König von New York hereingelegt hatte, ins Gewissen zu reden.

      „Hör zu, Brad“, knurrte Murray. „Ich denke, ich habe eine Eselsgeduld mit dir gehabt, aber einmal ist Schluss damit.“

      „Verdammt noch mal, ich weiß nicht, wer die Container, die für Cusack bestimmt waren, geklaut hat“, beteuerte Rafferty zum x-ten Male.

      Murrays Glotzaugen wurden schmal.

      „Könntest du sie dir nicht unter den Nagel gerissen haben?“

      „Wie kommst du denn darauf?“

      „Du hast heute Nacht mit ’ner Menge Geld um dich

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