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100 Prozent Anders. Tanja Mai
Читать онлайн.Название 100 Prozent Anders
Год выпуска 0
isbn 9783708105185
Автор произведения Tanja Mai
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Издательство Bookwire
„Oh“, sagte Herr Hommen, „ich habe eine elfköpfige Band. Du suchst dir ein paar Titel aus, und ich lasse die Arrangements schreiben. Einen Tag vorher findet die Probe statt, und an Silvester singst du dann gegen 21 Uhr, damit du wieder früh ins Bett kannst.“
Elfköpfige Band, Silvester und großes Publikum fand ich klasse. Aber früh ins Bett, was war das denn? Dies war ein Meilenstein in meiner Karriere, und ich sollte dann ins Bett? Na ja, es gab Wichtigeres zu entscheiden, welche Songs und welche Tonlage etwa.
Mein Repertoire bestand an diesem Abend dann aus:
Wenn wir alle Sonntagskinder wär’n (Heintje)
Après toi (Vicky Leandros) (Ich sang tatsächlich auf Französisch.)
Ein Indiojunge aus Peru (Katja Ebstein)
Wir lassen uns das Singen nicht verbieten (Tina York).
Ich gebe zu, als ich kurz vor meinem Auftritt stand, war mir schon etwas mulmig. Mal 50, mal 200 Leute, ok, aber 1 000 in festliche Garderobe gewandete Zuhörer, das war eine andere Hausnummer.
Meine Mutter hatte mir speziell für diesen Abend einen Smoking gekauft, was gar nicht so einfach war. In meiner Größe, 140, gab es keinen Smoking. Zumindest nicht in Koblenz! Also wurde er eine Nummer größer gekauft und von meiner Mutter auf meine Maße verkleinert.
Eine „Kinderfliege“ gab es erst recht nicht. Höchstens die aus der Karnevalsabteilung. Aber bitte, das ging ja gar nicht. Es existieren heute noch Bilder meines damaligen Outfits. „Bernie“ mit Smoking und einer Fliege, die so breit war wie mein Kopf. Ich sah jedoch schnell ein: Wer im Musikgeschäft nach oben will, muss modische Opfer bringen.
Der Auftritt war ein Knaller. Das Publikum tobte und wollte mich gar nicht von der Bühne lassen. Herr Hommen strahlte, und meine Eltern waren stolz. Wer wäre das nicht gewesen!?
Nach der Show sprach Herr Hommen mit meinen Eltern über weitere Engagements in seinem Tanzpalast. Es fanden dort, über das Jahr verteilt, sehr viele Firmenfestlichkeiten statt. Herr Hommen suchte für sein Nachmittagsprogramm immer wieder Künstler, die bei ihm auftreten sollten. Vielleicht hätte ich ja Lust, nachmittags aufzutreten, schlug er vor.
Lust? Natürlich! Ich wollte unbedingt und am liebsten sofort!
In der ersten Januarwoche rief mein Vater Herrn Hommen an, um die Dinge mit ihm noch einmal in aller Ruhe zu besprechen. Natürlich kam auch das Thema Gage auf den Tisch. „Was wollen Sie denn für einen Auftritt Ihres Sohnes haben?“, fragte Herr Hommen meinen Vater. „Ich weiß es nicht, was zahlt man denn so?“, kam die Antwort. „Mmmmh, ich setze mal das Honorar bei 300 bis 400 Mark an, ich glaube, das ist angemessen“, schlug Herr Hommen vor. „Gut, dann probieren wir’s!“
Ich wollte natürlich wissen, wie viel von dem Geld mir zustehen würde. Mein Vater erklärte mir, dass mir selbstverständlich das ganze Geld gehöre. Er wollte es aber auf ein Konto einbezahlen und davon dann bei Bedarf eine neue Gesangsanlage und weiteres musikalisches Equipment kaufen. Ich war damit einverstanden, handelte aber von jeder Gage einen Anteil von zehn Prozent für mich aus. Das fand ich nur fair, denn schließlich arbeitete ich ja auch dafür. Mein Vater willigte ein. Er ging von drei bis vier Auftritten im Jahr aus und rechnete sich schnell aus, dass etwa 120 bis 140 Mark als Taschengeld an mich gehen würden. Damit konnte er leben. Doch es kam völlig anders!
In den kommenden Wochen nervte ich meine Mutter mit der ewig gleichen Frage. Kaum war ich aus der Schule zurück, wollte ich wissen: „Hat Herr Hommen schon angerufen?“ Ihre Antwort lautete stets: „Neeeiin.“
Es war Ende März, als eines Nachmittags bei uns zu Hause das Telefon klingelte. „Weidung“, sagte meine Mutter. Ich hörte dann nur, wie sie antwortete: „Ach, Herr Hommen, ja danke, uns geht es gut.“ – „Frau Weidung, ich wollte Ihnen ein paar Termine für Ihren Sohn durchgeben.“ – „Kein Problem, schießen Sie los.“ – „Nein, holen Sie sich besser einen Stift und ein Blatt Papier.“ – „Ach was, die paar Termine kann ich mir schon merken.“ – „Nein, Frau Weidung, es sind ein paar mehr. Genauer gesagt, fünfzehn Termine für die nächsten sechs Wochen.“ Damit hatten weder meine Eltern noch ich gerechnet. Fünfzehn Termine in sechs Wochen! Das hieß, ich durfte endlich zurück auf meine geliebte Bühne – und ich malte mir schon die Höhe meines fürstlichen Taschengeldes aus.
In den kommenden drei Jahren hatte ich im Tanzpalast dann etwa 150 Auftritte. Dort lernte ich auch Kurt Adolf Thelen alias „Der singende Kellermeister“ kennen. Er trat dort regelmäßig auf und sang diese typischen Schunkellieder, „Schütt’ die Sorgen in ein Gläschen Wein“ oder „Oh Mosella“ und solche Sachen. Ende der Siebzigerjahre waren das richtige Stimmungslieder. Der Kurt fand mich so klasse, dass er unbedingt ein Album mit mir aufnehmen wollte. Ich war neun Jahre alt und fand das natürlich wahnsinnig spannend. Ich sang mal wieder eine Auswahl von Heintje-Titeln, aber auch neu komponierte Lieder. Produziert wurde das Album von Hellmuth Rüssmann, dem musikalischen Ziehvater von Schlagerstar Wolfgang Petry. Das Ergebnis war richtig gut. Doch leider lehnten alle Plattenfirmen eine Veröffentlichung ab, weil sie in der Nach-Ära von Heintje erst einmal die Schnauze voll hatten von niedlichen Kinderstars. Das Projekt war damit gestorben, und ich habe nie wieder etwas von meiner ersten Schallplatte gehört.
***
1976 gab es beim Südwestfunk-Radio einen Wettbewerb, bei dem man als nichtprofessioneller Musiker eine Kassette mit selbst gesungenen Titeln einreichen konnte. Jeden Samstag wurde dann ein Wochensieger gekürt, dann der Monatssieger, der Halbjahressieger und der Jahressieger. Ich hatte in allen Kategorien gewonnen, dennoch verlief eine mögliche Karriere im Sande, da ich noch zu jung war. Der zuständige Herr beim Radio teilte mir mit, dass sich meine Stimme erst noch festigen müsse. Ich sei einfach noch zu jung. Einen dreizehnjährigen Sänger konnte man damals nicht erfolgreich vermarkten. Da laufen die Uhren heute ganz anders, je jünger, desto besser. Doch ich gab nicht auf und konzentrierte mich weiterhin auf mein Hauptziel, meine Musik. Im Deutschunterricht wurden wir einmal von unserem Lehrer gefragt, was wir später beruflich machen wollten. Voller Überzeugung erklärte ich ihm, dass ich Sänger werden würde. Ein Klassenkamerad, den ich ohnehin nicht besonders gut leiden konnte, kam nach der Stunde zu mir und meinte: „Du redest so einen Müll, und bist so was von bescheuert! Sänger ist doch kein Beruf, den man einfach so wählen kann. Dafür muss man richtig gut sein.“
Ich ließ den Idioten einfach stehen, was wusste der schon. Ein paar Wochen später hörte mich derselbe Junge bei einer Chorveranstaltung in der Schule. Ich hatte einen Solopart, der beim Publikum großartig ankam. Als die Vorstellung vorbei war, kam der Junge zu mir und entschuldigte sich bei mir, weil er mich ausgelacht hatte, und meinte: „Aus dir wird tausendprozentig mal ein richtiger Star.“
Damals machte mich die Musik des amerikanischen Sängers Barry Manilow tierisch an. 1974 landete er mit „Mandy“ einen Welthit. So etwas hatte ich vorher noch nicht gehört. Anfang der Siebzigerjahre spielte man in Deutschland „Schöne Maid“ von Tony Marshall und „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ von Jürgen Marcus. Plötzlich schwappten diese leicht angejazzten Akkorde aus Amerika zu uns herüber. Auch die Karriere von ABBA begann damals. Aber der Sound von Manilow war etwas ganz Besonderes für mich. Für mein musikbegeistertes deutsches Ohr verkörperten seine Songs eine unglaubliche Internationalität, obwohl er in seiner Heimat eher als Schnulzenheini galt. Auch der Hit „Chirpy Chirpy Cheep Cheep“ von Middle of the Road gefiel mir. Diese Sounds läuteten langsam, aber sicher die Disko-Ära in Deutschland ein, und auch ich sang nicht mehr Heintje oder Mary Roos nach, sondern die englischen Songs.
***
Durch meine vielen gut bezahlten Auftritte im Tanzpalast hatte ich schon als Schüler immer genügend Geld in der Tasche. Es kam immer wieder vor, wenn mal die letzte Stunde des Unterrichts ausfiel, dass ich nicht auf den Bus wartete, sondern mir ein Taxi bestellte, das mich die zwei Kilometer nach Hause brachte. Das kostete damals vier Mark. Um zehn nach zwölf stand ich bei meiner Mutter vor der Haustür. Sie bekam regelmäßig einen halben Herzinfarkt und schimpfte: „Bernd, das