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bestellte die entsprechenden Ausgaben der Times, die kurz darauf aus der Öffnung der Rohrpost glitten. Die Mitteilungen, die er erhalten hatte, bezogen sich auf Artikel oder Meldungen, bei denen es aus diesem oder jenem Grund für nötig befunden wurde, den Wortlaut zu ändern oder, wie die offizielle Wendung lautete, richtigzustellen. So ging zum Beispiel aus der Times vom 17. März hervor, der Große Bruder habe in seiner Rede vom Vortag vorausgesagt, an der Südindien-Front werde es ruhig bleiben, in Nordafrika werde hingegen bald eine eurasische Offensive eingeleitet. Wie sich dann herausstellte, hatte die eurasische Höhere Kommandoebene ihre Offensive in Südindien eingeleitet und Nordafrika in Ruhe gelassen. Daher war es notwendig, einen Absatz aus der Rede des Großen Bruders so umzuschreiben, dass er das Ereignis voraussagte, das tatsächlich eingetreten war. Die Times vom 19. Dezember wiederum hatte die offiziellen Prognosen für die Produktion von unterschiedlichen Konsumgütern im vierten Quartal von 1983 veröffentlicht, das gleichzeitig das sechste Quartal des Neunten Dreijahresplans ausmachte. Die heutige Ausgabe enthielt eine Angabe zur tatsächlichen Produktion, der zu entnehmen war, dass die Prognosen in allen Belangen in erheblichem Maße falsch waren. Winstons Aufgabe bestand darin, die ursprünglichen Zahlen richtigzustellen, damit sie mit den späteren übereinstimmten. Was die dritte Mitteilung anbelangte, so bezog sie sich auf einen kleineren Fehler, der sich in ein paar Minuten beheben ließ. Kurz zuvor, im Februar, hatte das Ministerium für Fülle ein Versprechen verlautbaren lassen (eine »kategorische Zusicherung«, so der offizielle Wortlaut), es werde im Laufe des Jahres 1984 zu keiner Kürzung der Schokoladenration kommen. Tatsächlich sollte aber die Schokoladenration, wie Winston wusste, gegen Ende der laufenden Woche von dreißig auf zwanzig Gramm herabgesetzt werden. Man brauchte aber lediglich das ursprüngliche Versprechen durch den Warnhinweis zu ersetzen, es werde womöglich nötig sein, die Ration irgendwann im April herabzusetzen.

      Sowie Winston jede der Mitteilungen bearbeitet hatte, heftete er seine sprechgeschriebenen Korrekturen an die jeweilige Ausgabe der Times und steckte sie in die Rohrpost. Dann, mit einer Bewegung, die nahezu unbewusst ablief, knüllte er die ursprüngliche Mitteilung und alle Notizen, die er selbst gemacht hatte, zusammen und warf sie in das Gedächtnisloch, damit sie von den Flammen verzehrt wurden.

      Was in dem unsichtbaren Labyrinth geschah, in das die mit Druckluft betriebenen Röhren führten, wusste er nicht im Detail, aber in groben Zügen. Sobald alle in einer bestimmten Nummer der Times als notwendig erachteten Korrekturen zusammengetragen und kritisch verglichen worden waren, würde diese Nummer neu gedruckt, die ursprüngliche Ausgabe vernichtet und an ihrer Stelle die korrigierte Ausgabe ins Archiv übernommen werden. Dieser Prozess fortlaufender Änderungen wurde nicht nur auf Zeitungen angewendet, sondern auch auf Bücher, Zeitschriften, Prospekte, Plakate, Flugblätter, Filme, Tondokumente, Cartoons, Fotografien – auf jede Art von Literatur oder Dokumentation, die in jeder nur denkbaren Weise von politischer oder ideologischer Bedeutung sein konnte. Tag für Tag und fast von einer Minute zur anderen wurde die Vergangenheit auf den aktuellen Stand gebracht. Auf diese Weise konnte man bei jeder von der Partei gemachten Voraussage anhand des dokumentierten Nachweises belegen, dass sie korrekt gewesen war; ebenso durfte keine Nachricht oder Meinungsäußerung je aktenkundig bleiben, die zu den Anforderungen des Augenblicks in Widerspruch standen. Die Geschichte an sich war ein Palimpsest, das genauso oft, wie es nötig war, saubergeschabt und neu beschrieben wurde. Sobald die Tat vollbracht war, wäre es in keinem einzelnen Fall möglich gewesen, nachzuweisen, dass eine Fälschung stattgefunden hatte. Der größte Bereich der Dokumentationsabteilung, weitaus größer als der Bereich, in dem Winston arbeitete, setzte sich aus Leuten zusammen, deren Aufgabe darin bestand, sämtliche Ausgaben von Büchern, Zeitungen und anderen Dokumenten aufzuspüren und zu sammeln, die für ungültig erklärt worden waren und vernichtet werden mussten. Selbst wenn eine Nummer der Times aufgrund von Veränderungen der politischen Ausrichtung oder aufgrund der vom Großen Bruder irrtümlich gemachten Voraussagen womöglich bereits ein Dutzend Mal neu geschrieben worden war, wurde sie immer noch unter dem ursprünglichen Datum im Archiv aufbewahrt, und es gab kein Exemplar, das dieser hätte widersprechen können. Auch Bücher wurden zurückgerufen, immer wieder umgeschrieben und ausnahmslos neu aufgelegt, ohne ein Eingeständnis, dass Veränderungen vorgenommen worden waren. Selbst die geschriebenen Anweisungen, die Winston erhielt und immer entsorgte, sobald er sie bearbeitet hatte, besagten nie oder deuteten nie auch nur an, dass ein Akt der Verfälschung vorgenommen werden sollte: Verwiesen wurde immer nur auf Versehen, Irrtümer, Druckfehler oder falsche Zitate, die im Interesse der Genauigkeit unbedingt richtiggestellt werden mussten.

      Tatsächlich, dachte er, als er die Zahlen des Ministeriums für Fülle anglich, war es ja auch gar keine Fälschung. Ein Unsinn wurde bloß durch einen anderen ersetzt. Der Großteil des Materials, mit dem man zu tun hatte, stand in keinem Zusammenhang zur realen Welt, nicht einmal in der Art von Zusammenhang, den eine offenkundige Lüge aufweist. Statistiken waren in ihrer ursprünglichen Version ebenso eine Ausgeburt der Fantasie wie die richtiggestellten Versionen. Sehr häufig wurde erwartet, dass man sie sich einfach ausdachte. So hatte zum Beispiel das Ministerium für Fülle in seinen Voraussagen die Produktion von Stiefeln für das Quartal auf 145 Millionen Paar geschätzt. Die tatsächliche Produktion wurde mit 62 Millionen angegeben. Doch Winston, als er die Voraussage umschrieb, setzte die Zahl auf 57 Millionen herab, um auf diese Weise die übliche Behauptung zu ermöglichen, die Quote sei übererfüllt worden. 62 Millionen kamen der Wahrheit jedenfalls nicht näher als 57 oder 145 Millionen. Sehr wahrscheinlich waren überhaupt keine Stiefel hergestellt worden. Noch wahrscheinlicher war, dass niemand wusste, wie viele hergestellt worden waren, und dass es kaum einen interessierte. Man wusste lediglich, dass in jedem Quartal auf dem Papier astronomische Zahlen von Stiefeln hergestellt wurden, während vielleicht die Hälfte der Bevölkerung von Ozeanien barfuß ging. Und so verhielt es sich mit jeder Kategorie aufgezeichneter Tatsachen, seien sie bedeutend oder unbedeutend. Alles verblasste in einer Schattenwelt, in der letzten Endes sogar die Jahreszahl ungewiss geworden war.

      Winston warf einen Blick durch den Saal. In der gleich gestalteten Nische auf der anderen Seite arbeitete Tillotson, ein kleiner, akribisch wirkender Mann mit bärtigem Kinn, emsig vor sich hin, eine gefaltete Zeitung auf den Knien, den Mund ganz dicht an der Muschel des Sprechschreibers. Es sah so aus, als sollte das, was er sagte, ein Geheimnis zwischen ihm und dem Telemonitor bleiben. Er schaute auf, und seine Brillengläser warfen ein feindseliges Aufblitzen in Winstons Richtung.

      Winston kannte Tillotson kaum und wusste nicht, für welche Arbeit er eingeteilt war. Die Leute in der Dokumentationsabteilung sprachen nicht gern über ihre Aufgaben. In dem langen, fensterlosen Saal mit der Doppelreihe der Nischen, dem endlosen Rascheln von Papier und dem Gemurmel der Stimmen, die in den Sprechschreiber sprachen, gab es ein gutes Dutzend Leute, die Winston nicht einmal dem Namen nach kannte, auch wenn er sie täglich durch die Gänge hasten oder während des Zwei-Minuten-Hasses gestikulieren sah. Er wusste, dass sich die kleine Frau mit dem hellblonden Haar in der Nische unmittelbar neben seiner tagein, tagaus damit abmühte, aus der Presse die Namen der Leute herauszusuchen und zu löschen, die vaporisiert worden waren und fortan so betrachtet wurden, als hätte es sie nie gegeben. In gewisser Weise passte das, da ihr eigener Mann ein paar Jahre zuvor vaporisiert worden war. Und ein paar Nischen weiter war ein freundlicher, ungeschickter, verträumter Mensch namens Ampleforth, der sehr haarige Ohren hatte und die erstaunliche Gabe besaß, mit Reimen und Versmaßen zu jonglieren, damit beschäftigt, verstümmelte Versionen von Gedichten herzustellen – »endgültige Texte«, wie sie genannt wurden –, die ideologisch anstößig geworden waren, aber aus diesem oder jenem Grund in den Anthologien bleiben sollten. Und dieser Saal mit seinen etwa fünfzig Angestellten war nur eine Unterabteilung, eine einzelne Zelle sozusagen, in der riesigen Struktur der Dokumentationsabteilung. Neben, über und unter ihnen waren andere Scharen von Arbeitern mit einer unvorstellbaren Vielfalt von Aufgaben beschäftigt. Es gab die riesigen Druckereien mit ihren Redakteuren, ihren Experten für Typografie und ihren üppig ausgestatteten Studios für das Fälschen von Fotografien. Da gab es die Teleprogrammabteilung mit ihren Technikern, ihren Produzenten und ihren Teams von Schauspielern, die aufgrund ihrer Fähigkeit, Stimmen zu imitieren, ausgewählt worden waren. Da gab es die Heerscharen von Referenzschreibern, deren Aufgabe einfach nur darin bestand, Listen von Büchern und Zeitschriften zu erstellen, die zurückgerufen werden sollten. Da gab es die weitläufigen Magazine, in denen die korrigierten Dokumente gelagert wurden, und die verborgenen

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