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sind fast gleich schwer und katapultieren uns gegenseitig höher und höher.

      »Kathi, Gus Backus!«

      »Wo?«

      »Was, wo, du Löli.«

      Tommy verdreht die Augen. Immer denkt er, ich sei doof.

      Er holt Luft, grölt los: »Da sprach der alte Häuptling der Indianer …«

      Aber ich bin nicht doof: »… wild ist der Westen, schwer ist der Beruf. Uh!«

      Ich umklammere den Griff so fest ich kann, damit es mich nicht wegschleudert.

       Schön war sie, die Prärie,

       alles war wunderbar,

       da kam an weißer Mann,

       wollte bau’n Eisenbahn.

      »Ruhe!«, ruft Papa herüber. »Nicht so laut. Ihr seid doch nicht die Einzigen hier!« Wir tun so, als hörten wir ihn nicht.

       Böse geht er nach Haus,

       und er gräbt Kriegsbeil aus.

       Seine Frau nimmt ihm keck

       Kriegsbeil und Lasso weg.

      Wieder ruft Papa etwas, winkt, wir sollen herkommen.

      »Wollen wir, Tommy?«

      Tommy grinst nur.

       Eisenbahn spuckte Dampf.

       Häuptling kam, wollte Kampf.

       Weißer Mann sprach, hierher,

       Du bist gleich Kondukteur.

       Uh, uh, uh.

      »Wenn ihr beide eine Ovo und einen Nussgipfel wollt …«, höre ich Papa nun doch durch unser Indianergeheul.

      »Komm, Tommy. Nussgipfel gibt’s sonst nie.«

      Einmal wollte Papa mit uns bis zum Bützi und von dort noch weiter hinauf zum Bös Fulen.

      »Wir folgen einfach den weiß-rot-weißen Markierungen an den Felsen«, hatte er gesagt, als wir so hoch oben waren, dass nirgends mehr ein Weg zu sehen war. An einigen Stellen lag sogar schon Schnee.

      »Vorwärts, nun mach schon«, trieb er mich an, als ich einen Augenblick stehen blieb, weil ich eine Blase an der Ferse gespürt hatte.

      »Das gehört halt dazu. Wandern im Gebirge ist eben kein Sonntagsspaziergang.«

      Die Schneefelder wurden immer ausgedehnter. Ganz weg von allem konnten wir trotzdem nicht sein, denn es gab noch vereinzelte Kothäufchen von Schafen, die hier oben geweidet haben mussten. Ich hatte Angst, dass wir uns verlaufen und ich Mama nie mehr sehen würde. Nach einer weiteren steilen Kraxelei fiel mir auf, dass Papa langsamer ging und sein Gesicht rot angelaufen war. Er musste sich hinsetzen.

      »Wenn er jetzt stirbt …«, flüsterte Tommy mir ins Ohr.

      Ich: »… schubsen wir ihn über die Felswand …«

      »… und es sieht wie ein Unfall aus, psst.«

      Papa wischte sich den Schweiß von der Stirn, langte nach dem Rucksack, den er neben sich auf einen Felsbrocken gelegt hatte, hustete nochmals, dann sagte er mit heiserer Stimme: »Ich bringe es kaum über mich – wir müssen umkehren.«

      Abwärts ging’s. Eine steil abfallende Geröllhalde jagte mir solche Angst ein, dass ich über eine Wurzel stolperte und mir das Knie blutig schlug.

      »Beiß die Zähne zusammen«, zischte Tommy, »sonst meckert der Alte wieder.«

      An dem Tag, als wir so hoch hinaufgestiegen waren, wollte Tantelotte zu Hause bleiben. Glück gehabt. Meistens jedoch kommt sie gerne mit. Weil es ja die Berge waren, die sie angelockt hatten, damals, nach dem Krieg, als sie unbedingt in die Schweiz wollte. Wenn sie das erzählt, macht sie immer eine kurze Pause, dann sagt sie: Die Butterberge, genau genommen. Daraufhin lachen die Leute jedes Mal. Als sie noch in Deutschland einmal für längere Zeit in den Bergen war, war sie ein Mädchen und mit vielen anderen Mädchen zusammen. Alle gleich, alle die gleiche Uniform, ein wunderbares Gemeinschaftsgefühl. Sie hatte jedoch nicht von Mädchen erzählt, sondern von Mädeln und etwas wie Be-de-em.

      Schon von Weitem sehe ich Mama mit einer anderen Frau auf der Hotelterrasse unter einem gelben Elmer-Citro-Sonnenschirm sitzen. Beide vor sich ein Kännchen Kaffee und ein riesiges Stück Schwarzwäldertorte.

      »Kommt, setzt euch zu uns. Darf ich vorstellen: Frau Lindner – meine Familie – und Frau Hülsmann, eine gute Freundin der Familie.«

      Gute Freundin der Familie? Doch da steht der Kellner schon vor uns, mit Block und Stift in den Händen, um die Bestellung aufzunehmen.

      »Schnipo, wenn ich darf.«

      Mama nickt.

      »Du, Tommy?«

      »Auch Schnipo, bitte.«

      Eigentlich müsste es Stehbahn und nicht Standseilbahn heißen, überlege ich auf dem Weg zurück zur Bergstation. Obwohl man darin sitzen könnte, bleiben die Erwachsenen immer direkt am Fenster stehen, sodass ich während der ganzen Fahrt nur deren Rucksäcke sehen kann.

      WENN MAMA STIRBT, will ich auch tot sein. Als Tantelotte mit mir das Grab von Frau Zisch besuchte, sah ich auf dem Grabstein nebenan gleich zwei Namen eingemeißelt. Manchmal kommt es eben vor, dass ein Kind kurz nach seiner Mutter stirbt, hatte mir Tantelotte erklärt.

      Seit der Geröllhalde wüsste ich, wo es gefährlich ist. Es gäbe auch hohe Brücken. Oder Schneestürme. Im Winter, wenn alles zugeschneit ist und der Nebel tief hängt. Würden mich meine Fußspuren im Schnee zu früh verraten? Nach wie vielen Tagen ist man eigentlich tot, wenn man nichts mehr isst und trinkt? Wen könnte ich das fragen?

      Tantelottes Eltern sind schon ziemlich alt, über sechzig. Trotzdem immer noch putzmunter.

      »Putzmunter?«

      »Na – hart wie Kruppstahl eben.« Dazu hatte sie gelacht.

      ALLE, WIRKLICH ALLE glaubten, dass Gelsenkirchen niemals getroffen würde, hat Tantelottes Papa ihr immer wieder erzählt. Und nun erzählt sie es mir ständig. Auch jetzt. Sie seufzt und schüttelt den Kopf, weil sie sich daran erinnert, als wäre es gerade gestern gewesen. »Und das ausgerechnet an meinem Geburtstag«, sagt sie wie jedes Mal. »Britische Bomber – mitten in der Nacht, obwohl strikte Verdunkelung herrschte und sich alle daran hielten. Unser lieber Papi war zu der Zeit schon nicht mehr Direktor. Er wollte Verantwortung übernehmen und hatte sich freiwillig gemeldet. Viele Männer haben sich damals freiwillig gemeldet. Mutti und ich waren mächtig stolz auf ihn, als er sich von uns verabschiedete. Schneidig hat er ausgesehen in seiner Uniform, schwarz und schick von Kopf bis Fuß.«

      Tantelotte schweigt eine Weile, schaut an mir vorbei aus dem Fenster. Gleich wird sie sich mit einem Ruck aufrecht hinsetzen, und ich weiß schon, was kommt: »In der Nähe unseres Hauses gab es Hunderte von Frauen und Mädchen. Aus Ungarn, munkelte man.«

      »Was heißt munkelteman?«, hatte ich sie beim ersten Mal gefragt.

      »Man munkelte es eben nur, du weißt nicht, was das heißt? Wo gibt’s denn so was!«

      »Nein, sonst hätte ich ja nicht gefragt.«

      »Werd nicht frech.«

      »Ich habe doch nur gefragt.«

      »In diesem Ton?«

      »Tantelotte, bitte, was heißt munkelteman?«

      »So gehört es sich. Man munkelte, also, wie soll ich das erklären? Munkeln, munkeln …«

      Sie kratzte sich

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