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an die besten Studenten im ersten Jahr des Promotionsstudiums vergibt, die auch studentische Hilfskräfte sind. Die schlanke 23-Jährige, die auf den ersten Blick verlegen wirkte und sich hinter ihren vollen dunklen Haaren versteckte, hatte ihre Kommilitonen und Dozenten gleichermaßen rasch durch ihre kühne Autorität beeindruckt, die bei Studenten der Naturwissenschaften selten ist, und durch ihre Fähigkeit, komplexe Ideen so darzustellen, dass auch ein Student ohne Abschluss sie verstehen konnte. Seit seiner Einführung 25 Jahre zuvor hatte vor Sai erst eine einzige Frau diesen begehrten Preis gewonnen.

      Nach den Gesetzen der klassischen Physik bringt ein Magnetfeld die magnetische Ausrichtung der Atome in einer Substanz durcheinander. Den Grad, in dem das geschieht, bezeichnet man als „magnetische Suszeptibilität“. Bei einer ungeordneten Substanz tritt gewöhnlich folgendes Muster auf: Die Substanz richtet sich eine Zeitlang nach dem Magnetfeld aus, pendelt sich ein und lässt dann wieder nach, wenn die Temperatur sinkt oder eine magnetische Sättigung der Substanz erreicht ist. Dann können sich die Atome nicht mehr nach dem Magnetfeld ausrichten und bewegen sich deshalb langsamer.

      Bei Sais ersten Experimenten reagierten die Atome im Lithium-Holmium-Yttrium-Salz, wie vorhergesagt, ganz aufgeregt auf das Magnetfeld. Doch als sie das Feld verstärkte, geschah etwas Merkwürdiges. Je weiter sie die Frequenz erhöhte, desto schneller drehten sich die Atome. Und, was noch erstaunlicher war, alle Atome, die sich in einem ungeordneten Zustand befanden, begannen die gleiche Ausrichtung aufzuweisen und als kollektives Ganzes zu agieren. Dann richteten sich kleine Gruppen von ungefähr 260 Atomen aus, bildeten „Schwingkreise“, die gemeinsam in die eine oder andere Richtung schwangen. Ganz egal wie stark das Magnetfeld war, das Sai einsetzte, die Atome blieben stur miteinander ausgerichtet und zogen sozusagen „an einem Strang“. Diese Selbststeuerung hielt etwa zehn Sekunden lang an.

      Zuerst dachten Sai und Rosenbaum, diese Effekte hingen mit der seltsamen Wirkung der noch vorhandenen Holmiumatome zusammen; denn sie sind als eine der wenigen Substanzen auf der Welt bekannt für so lange anhaltende innere Kräfte, dass Holmium mancherorts als etwas beschrieben und mathematisch dargestellt wird, das in einer anderen Dimension existiert.2 Wenngleich sie das Phänomen, das sie beobachtet hatten, noch nicht verstanden, schrieben sie ihre Ergebnisse nieder und veröffentlichten sie 2002 in der Zeitschrift Science.3

      Rosenbaum beschloss, ein anderes Experiment durchzuführen, um das Wesensmerkmal des Kristalls zu isolieren, aufgrund dessen dieser so starken äußeren Einflüssen widerstehen konnte. Die Versuchsanordnung überließ er seiner gescheiten jungen Doktorandin; er schlug lediglich vor, dass sie das geplante Experiment dreidimensional mathematisch am Computer simuliere. Bei Versuchen mit so winziger Materie müssen sich Physiker auf Computersimulationen stützen, um die Reaktionen, die sie im Experiment beobachten, mathematisch zu bestätigen.

      Sai entwickelte monatelang das Computerprogramm und erstellte ihre Simulation. Man wollte etwas mehr über die Magnetfähigkeit des Salzes herausfinden, indem man den Kristallsplitter zwei Arten von Störungen aussetzte: höheren Temperaturen und einem stärkeren Magnetfeld.

      Sie bereitete die Probe vor, indem sie den Kristallsplitter auf einem kleinen, circa 3 mal 5 cm großen Kupferhalter befestigte und dann den winzigen Kristall mit zwei Spulen umwickelte: Die eine war ein Neigungsmesser, der die magnetische Suszeptibilität und die Spinrichtung der einzelnen Atome messen sollte, die andere sollte jeglichen zufälligen Einfluss auf die Atome im Inneren ausschließen.

      Mithilfe einer Verbindung zu ihrem PC konnte sie die Voltzahl ändern sowie das Magnetfeld oder die Temperatur und auch alle Änderungen aufzeichnen, wann immer sie eine Variable auch nur im Geringsten variierte.

      Sie begann die Temperatur zu reduzieren, jeweils um den Bruchteil eines Grades, und dann das Magnetfeld zu verstärken. Zu ihrem Erstaunen richteten sich die Atome zunehmend aneinander aus. Dann erhöhte sie die Temperatur und entdeckte, dass sie sich erneut ausrichteten. Egal was sie tat, bei jedem Vorgang ignorierten die Atome die Eingriffe von außen. Obwohl sie mit Tom Rosenbaum die meisten magnetischen Komponenten der Verbindung herausgelöst hatte, wurde diese von selbst zu einem immer größeren Magneten.

      Das ist komisch, dachte sie. Und: Vielleicht sollte ich mehr Daten sammeln, um sicherzustellen, dass wir nicht auf etwas Fremdes im System gestoßen sind?

      Sie wiederholte ihr Experiment über sechs Monate lang bis zum Frühling 2002, dann war ihre Computersimulation vollständig. Eines Abends stellte sie die Ergebnisse der Simulation in einem Diagramm dar und legte die Ergebnisse des tatsächlichen Experiments darüber. Es war, als hätte sie nur eine einzige Linie gezeichnet. Auf dem Computerbildschirm war ein komplettes Duplikat zu sehen: Die Linie der Computersimulation lag genau über der, die die Ergebnisse des realen Experiments darstellte. Sie hatte in dem kleinen Kristall kein Artefakt, sondern etwas Reales beobachtet, das sie jetzt in ihrer Computersimulation reproduziert hatte. Sie hatte sogar eingezeichnet, wo sich die Atome im Diagramm befinden sollten, wenn sie den üblichen physikalischen Gesetzen gehorcht hätten. Doch dort waren sie nun auf einer Linie – ein Gesetz für sich.

      Spät an diesem Abend schrieb sie Rosenbaum eine vorsichtige EMail: „Ich muss Ihnen morgen Früh etwas Interessantes zeigen.“ Am nächsten Tag untersuchten sie ihre Darstellung. Es gab keine andere Möglichkeit, wie sie beide erkannten: Die Atome hatten sie völlig ignoriert und orientierten sich an der Aktivität der Nachbaratome. Ganz egal, ob sie den Kristall einem starken Magnetfeld aussetzte oder die Temperatur erhöhte, die Atome setzten sich über den Eingriff von außen hinweg.

      Das ließ sich nur so erklären, dass die Atome in dem Musterkristall sich im Inneren wie ein einziges riesiges Atom organisierten und verhielten. Alle Atome, so stellten sie etwas beunruhigt fest, mussten miteinander „verstrickt“ oder „verschränkt“ sein.

      * * *

       Das Phänomen der Nicht-Lokalität

      Einer der seltsamsten Aspekte der Quantenphysik ist ein Merkmal, das Nicht-Lokalität oder poetisch auch „Quantenverschränkung“ genannt wird. Der dänische Physiker Niels Bohr entdeckte, dass subatomare Teilchen wie Elektronen oder Photonen, sobald sie einmal in Kontakt miteinander waren, sich gegenseitig weiterhin „erkennen“ und sich immer zeitgleich über jegliche Entfernung hinweg gegenseitig beeinflussen, obwohl gewöhnliche Parameter fehlen, die nach Ansicht der Physiker Einfluss ausüben könnten, wie ein Austausch von Energie oder ein Einwirken von Kräften. Wenn Teilchen verschränkt sind, wird die Reaktion eines Teilchens – beispielsweise die magnetische Orientierung – das andere immer in die gleiche oder in die entgegengesetzte Richtung beeinflussen, unabhängig davon, wie weit sie voneinander entfernt sind. Erwin Schrödinger, einer der ursprünglichen Mitbegründer der Quantentheorie, glaubte, dass die Entdeckung der Nicht-Lokalität nicht weniger als das Definitionsmerkmal der Quantentheorie darstelle – ihre zentrale Voraussetzung und Aussage.

      Verschränkte Teilchen verhalten sich wie ein Zwillingspaar, das bei seiner Geburt getrennt wird, aber immer die gleichen Interessen und eine telepathische Verbindung aufrechterhält. Beispiel: Ein Zwilling lebt in Colorado, der andere in London. Obwohl sie sich nie mehr begegnen, mögen beide die Farbe Blau. Beide werden Ingenieure. Beide fahren gern Ski; ja, wenn einer hinfällt und sich in Vail (Skiort in Colorado) das rechte Bein bricht, bricht sich auch der andere Zwilling im selben Moment das Bein, obwohl er über 5000 Kilometer entfernt ist und gerade bei Starbucks Latte macchiato schlürft ...4

      Albert Einstein weigerte sich, die Nicht-Lokalität zu akzeptieren, und tat sie als „spukhafte Fernwirkung“ ab. Diese Art instantaner, also völlig zeitgleicher Verbindung setzt voraus, dass sich Informationen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, so argumentierte er in einem berühmten Gedankenexperiment, das seiner eigenen Speziellen Relativitätstheorie widersprechen würde.5 Seit Einstein diese Theorie aufgestellt hatte, wurde mit der Lichtgeschwindigkeit (299 792 ,458 Kilometer pro Sekunde) als Obergrenze berechnet, wie schnell ein Ding ein anderes beeinflussen kann: Dinge sollten andere nicht schneller beeinflussen können als die Zeit, die der erste Gegenstand brauchen würde, um sich mit Lichtgeschwindigkeit auf den zweiten zuzubewegen.

      Doch haben moderne Physiker wie Alain Aspect und seine Kollegen in Paris eindeutig nachgewiesen, dass die Lichtgeschwindigkeit in

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