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Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Klaus Mertes hat den Satz von Søren Kierkegaard* mehrmals während unserer Begegnung zitiert. Ich hatte den Eindruck, er passt genau zu seinem Leben, das auch – und zuweilen schnell – vorwärts gelebt wird.

       Unter dem Vorzeichen einer einmal getroffenen Lebensentscheidung, Priester und Jesuit zu werden, war und ist sein Weg von vielen Wenden durchzogen. Stille Wenden waren es meist, unspektakuläre. Die aber dann urplötzlich in Entscheidungen von großer Tragweite sichtbar und wirksam wurden.

       Lebenswenden, wirkliche, tief innere, zeichnen sich dadurch aus, dass wir etwas tun müssen. Sie tragen den Charakter der Unabweisbarkeit und Unausweichlichkeit. Wir können uns verweigern. Die Freiheit haben wir. Wenn wir uns verweigern, uns für Stillstand und Ruhe entscheiden, hat sich auch etwas gewendet. Verweigerungen sind kleine Tode – vor der Zeit.

       Klaus Mertes hat mitten in einem reichen Land, mitten in einer wohlhabenden Kirche die Armen gesehen. Das hat ihn verändert. Unbedingt.

       Darin könnte er für uns wegweisend sein. Vorausgesetzt, wir öffnen die Augen, bleiben nicht sitzen und achten auf unser unruhiges Herz.

       Hören wir ihm zu. Er hat etwas zu sagen. Er zeigt etwas.

      Meine frühesten Erinnerungen an die Kindheit sind verbunden mit meiner Familie, mit meinen Eltern und den Geschwistern. Vielleicht auch mit dem Meer in Marseille. Denn ich habe die ersten anderthalb Lebensjahre in Marseille verbracht. Mich überkommt heute noch ein Gefühl von Vertrautheit, wenn ich das Mittelmeer sehe und sein Geruch zu mir dringt.

      Mein Vater, Alois Mertes*, war Diplomat, und deswegen habe ich die ersten sechseinhalb Jahre in Frankreich verbracht. Die ersten beiden eben in Marseille und weitere fünf Jahre in Paris. Anschließend kam Moskau.

      Das war eine bewegte Kindheit. Ich war viel unterwegs. Und ich bin nachträglich sehr dankbar dafür, dass wir viele Geschwister waren. In Frankreich waren wir vier Geschwister. Mein jüngster Bruder Johannes kam in Deutschland zur Welt.

      Ich erinnere mich daran, dass wir lange Autofahrten gemacht und dabei viele Lieder gesungen haben. Wir sind singend durch Europa gefahren. Später dann im Auto von Moskau nach Gerolstein in der Eifel. Hinten die Kinder, vorne meine Mutter und mein Vater. Tausende von Kilometern über die Rollbahn, die unendlich langen Strecken von Moskau über Smolensk und Minsk. Bis wir dann über die deutsch-polnische Grenze kamen und es mitteleuropäisch, ja westlich wurde. Spitze Kirchtürme statt Zwiebeltürmen.

      Das Singen ist eine Grunderfahrung meiner Kindheit. Die Eltern legten darauf wert, dass wir zu Hause Deutsch sprachen und auch die deutschen Kirchenlieder kennenlernten. Morgens vor dem Frühstück haben wir oft aus dem Trierer Kirchengesangbuch gesungen. Deswegen kann ich heute noch alle Lieder des alten Trierer Gesangbuches auswendig. Manchmal flehte meine Mutter meinen Vater an: „Alois, hör doch auf! Die Kinder müssen gleich in die Schule!“ Wir haben dann blitzschnell gefrühstückt, der Vater hat uns ins Auto gepackt – das war damals in Frankreich – und hat uns zur deutschen Schule in Saint Cloud, einem Vorort von Paris, gefahren. Während dieser Fahrt haben wir dann weiter gesungen. Und wenn es im Berufsverkehr vor der Ampel einen langen Stau gab, dann hat mein Vater die ganze Autoschlange singend überholt und sich wieder vorne eingeordnet, sodass wir gerade noch pünktlich in die Schule kamen.

      Also Singen! – Das hat sich bis heute durchgehalten. Für mich ist Singen ganz wichtig. Singen ist ein entscheidendes Moment des Gebetes für mich. Ich bin später Musiker geworden, war eine Zeit lang Orchestermusiker, spielte Geige und wahlweise auch Bratsche. Aber singen bedeutet mir noch mehr. Singen ist einfach eine Erfahrung von Einheit und Ganzheit. Sie ist für meine Frömmigkeit zentral. Singen ist eine große Gemeinschaftserfahrung.

      Singen war auch eine meiner Urerfahrungen, als ich zum ersten Mal als kleiner Junge, im Alter von neun Jahren, eine orthodoxe Kirche betrat. Da wird ja auch nur gesungen. Nach drei, vier Minuten habe ich schon mitsummen können und dabei Laute imitiert, die ich noch gar nicht verstand: ,gospodipomiluj-gospodipomiluj-gospodipomiiiiiiiluu uuujjj‘.

      Das mehrstimmige Singen ist für mich auch ein wunderbares Bild für die Einheit in der Verschiedenheit. Wenn man mehrstimmig singt, ist das eine Einheitserfahrung – trotz der unterschiedlichen Stimmen. Im Singen kann ich mich hingeben, im Singen kann ich eins werden mit den anderen. Und zugleich unterschieden bleiben. Ich empfinde eine große Dankbarkeit gegenüber meinen Eltern, dass sie mir das Singen ermöglicht haben.

      Unterwegssein ist mein Wesen geworden

      Das viele Unterwegssein in der Kindheit hatte etwas Nomadisches an sich. Es hat sich wieder erneuert, als ich in den Jesuitenorden eingetreten bin. Als ich zuletzt wieder vom Canisius-Kolleg hierher nach St. Blasien im Schwarzwald versetzt worden bin, fiel mir der Satz zu: „Wir Jesuiten leben in Zelten, nicht in Klöstern.“ Das ist auch so. Überall, wo ich lebe, lebe ich in dem Bewusstsein, dass dort nicht mein endgültiger Ort sein wird. Zwischendurch habe ich mich immer wieder sehr nach Heimat gesehnt.

      Eine tiefe Heimaterfahrung ist für mich verbunden mit der Eifel, mit Gerolstein. Mein Vater stammt von dort. Die Ferienfahrten in der Kindheit hatten immer Gerolstein zum Ziel, die Heimatstadt meines Vaters.

      Die Gerolsteiner Welt erlebte ich als eine „heile Welt“ – das meine ich gar nicht abschätzig –, und ich glaube, dass sie das in gewisser Weise auch für meinen Vater war und blieb, obwohl er sich von dieser Welt löste und sicherlich auch manche ihrer Schattenseiten sah. Es war eine Welt von Bauern, Handwerkern und Kommunalbeamten, die in vergleichsweise einfachen Verhältnissen lebten, aber ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl hatten. Es war auch eine kultivierte Welt, wobei neben der Schule die Kirche eine wesentliche Rolle als Kulturträgerin und -vermittlerin spielte. Eifeler sind Grenzlandbewohner. Man blickt nach Westen, nach Luxemburg, nach Belgien, nach Frankreich. Hier gibt es übrigens eine wichtige Gemeinsamkeit zur Herkunft meiner Mutter. Sie stammt aus dem Saarland, also ebenfalls aus einer Grenzregion. Ihre Familie gehörte einem anderen, einem urbanen und kaufmännischen Milieu an. Ihr Vater war Internist und Chefarzt. Er hatte als Katholik in einer Zeit studiert, als in den Fakultäten die Ansicht verbreitet war, dass katholischer Glaube und modernes Weltbild miteinander unvereinbar seien. Mit diesen Fragen hatte er sich intensiv beschäftigt. Meine Mutter ist davon geprägt worden, und ich erinnere mich, dass mein Vater mir ein paarmal gesagt hat, dass sie ihm dadurch neue Horizonte eröffnet habe.

      Als ich 1966 als Elfjähriger wieder zurück nach Deutschland kam und wir uns in Bonn ansiedelten, war dann Bonn wieder eine Heimat für mich. So kann ich heute sagen: Ich bin ein Rheinländer.

      Noch einmal zurück zum Nomadischen. Es besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Zelten und Wohnen. Zwischen Nomadentum und Sesshaftigkeit. Unsere Religion hat nomadische Ursprünge. Sie kommt aus der Wüste, wo Hirtenstämme von Weidegrund zu Weidegrund und von Wasserstelle zu Wasserstelle ziehen, wo kein Raum ist für große Hierarchien, dafür aber die tägliche Erfahrung des Angewiesenseins auf den eigenen Clan in einer oft lebensfeindlichen Umgebung gemacht wird.

      Mich hat auch an der Person Jesu immer fasziniert, dass er auf der Straße gelebt hat. Den Satz von ihm: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Lukas 9) habe ich nicht einfach als einen Klagesatz verstanden, sondern als eine Selbstbeschreibung seines Lebensstils. Er ist eben gewandert. Und die ersten Jesuiten haben ihr Ideal auch über das Wanderapostolat verwirklicht. Das Weitergehen, das Leben in Zelten ist mir wichtig geworden. Ich bin selbst viel gewandert. Durch Frankreich bis nach Santiago de Compostela. Diese Wanderung habe ich im Zeitraum von vier Jahren mit Freunden zusammen unternommen.

      Zelten, Unterwegssein, das ist jesuitischer Lebensstil. Ich habe mich daran gewöhnt. Es ist mein Wesen geworden. Deswegen was es auch 2011 okay für mich, Berlin zu verlassen und nach St. Blasien zu gehen.

      Über die Prägungen, die ich im Elternhaus erfahren habe, gäbe es viel zu sagen. Es ist schwer zu sagen, wie viel Anteil daran mein Vater hatte, wie viel Anteil meine Mutter. Beide waren sehr unterschiedlich,

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