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Ferienhaus für eine Leiche. Franziska Steinhauer
Читать онлайн.Название Ferienhaus für eine Leiche
Год выпуска 0
isbn 9783941895676
Автор произведения Franziska Steinhauer
Жанр Языкознание
Серия Mord und Nachschlag
Издательство Bookwire
»Wir haben die Organe entnommen. Manche sind schon zersetzt, andere relativ gut erhalten. Wir glauben, wie ich schon andeutete, sogar den Mageninhalt noch untersuchen zu können – mal abwarten.«
Lundquist versuchte so flach wie möglich zu atmen.
»Es handelt sich, wie gesagt, um eine Frau. Über sechzig, wahrscheinlich sogar über siebzig. Wir haben sie geröntgt. Keine stumpfe Gewalt gegen den Schädel, keine Brüche oder erkennbaren Verletzungen. Nur alte, zum Teil schlecht verheilte Frakturen. Die Halswirbel sind ebenfalls unverletzt, kein gebrochenes Genick. Im Moment kann ich nur Vermutungen anstellen, und das bringt dich nicht weiter. Es gibt Indizien für eine Erstickung, aber um das zu belegen, muss ich mir ihr Gesicht genauer ansehen.«
Ihr Gesicht.
Lundquist zuckte heftig zusammen. Das, was unterhalb des Haaransatzes zu erkennen war, hatte kaum Ähnlichkeit mit einem Gesicht. Die Augen waren trübe, tief in die Höhlen gesunken, ihre Lippen entblößten einen weitgehend zahnlosen Kiefer, an der Nasenspitze waren Haut und Knorpel verschwunden und der Knochen freigelegt. Pergamentartig spannte sich die Haut über die knöchernen Strukturen und ließ das Gesicht wie einen Totenschädel wirken. Es kostete Lundquist Mühe, seinen Blick über den Rest des Körpers gleiten zu lassen. Die Fingerknochen endeten in langen Krallen. Er registrierte, dass einige von ihnen abgebrochen waren.
Dr. Mohl bemerkte das Stutzen des Hauptkommissars.
»Ja, wir haben das natürlich auch bemerkt. Sieht aus, als habe sie sich vehement gewehrt. Bestimmt hat sie den Täter erheblich verletzt. Interessant ist auch eine Stelle am unteren Rücken. Wir untersuchen das näher, es könnte sich dabei um einen ausgeprägten Dekubitus handeln. Das würde darauf hindeuten, dass sie längere Zeit bettlägerig war.«
»Dekubitus?«, Knyst runzelte die Stirn. »Das sind doch offene Wunden, die Menschen bekommen, die schlecht gepflegt werden, oder? War sie eine Patientin in einem Pflegeheim?«
»Das können wir nicht ausschließen. Freiwillig ist sie jedenfalls nicht gestorben, und dann in die Truhe geklettert«, gab der Rechtsmediziner zurück. »Ihr werdet geduldig auf unsere Ergebnisse warten müssen. Die Organe … nun, und die Körpermitte …«
»Ja, ich sehe schon«, fiel Lundquist Dr. Mohl hastig ins Wort. Gerade mit der geöffneten Körpermitte und ihrem schon verflüssigten Inhalt wollte er sich lieber nicht eingehender befassen. Es im Bericht zu lesen, würde ausreichen.
»Wir schicken noch heute einen ersten Bericht. Sagen wir am Nachmittag. Bis dahin kann ich euch sicher schon mehr sagen. Es ist, wie gesagt, etwas komplizierter als sonst.«
Sven Lundquist sah während der Fahrt nach Stenungssund aus dem Fenster und hing seinen eigenen Gedanken nach. Es war sinnlos, über die Umstände des Todes der Unbekannten zu spekulieren. Er wusste, dass ohne weitere Information keine Theorie entstehen konnte, die tatsächlich als Arbeitshypothese Bestand haben würde. Nicht einmal die Todesursache war bisher bekannt. Aber wer sollte nur auf die Idee kommen, eine Leiche auf dem Dachboden eines Ferienhauses zurückzulassen – niemand konnte doch ernsthaft glauben, sie würde dort unentdeckt bleiben?, überlegte er. Die Autopsie war noch nicht abgeschlossen. Lundquist war der Anblick von Toten ohnehin schon unangenehm genug, aber wenn er bei einer Öffnung zusehen musste, kam er sich immer wie ein Frevler, wie ein Leichenschänder vor.
Das würde ihm diesmal erspart bleiben.
Dr. Mohl schickte die beiden Ermittler an ihre Arbeit zurück.
Er meinte, direkt bei der Obduktion ergäben sich in diesem Fall wahrscheinlich keine konkreten Ergebnisse, sie müssten die Analysen abwarten.
Wirklich bedauerlich, dachte Lundquist, dass es noch keine weniger invasive Möglichkeit gab, den Toten Informationen über Todesursache, Todeszeitpunkt und vieles mehr zu entlocken.
Am Fenster zog der dunkle Tannenwald vorüber, der an manchen Stellen so dicht war, dass man zwischen den Stämmen nicht in die Tiefe blicken konnte. Hier wirkte er wie eine dunkle, undurchdringliche Wand. In solchen finsteren Waldarealen sangen keine Vögel, jagten sich keine Eichhörnchen und auch andere Waldtiere fühlten sich dort nicht wohl.
»Unheimlich!«, hatte Lisa gesagt. Sie glaubte fest daran, dass im Dunklen Trolle hausten, die neue ärgerliche Streiche ausheckten. Lundquist lächelte, als er an seine kleine Tochter dachte. Nicht nur Kinder glaubten an die Existenz dieser Waldgeister, die immer zu Abenteuern aufgelegt waren. Unzählige Geschichten beschäftigten sich mit diesen Wesen, mal mit lustigen, mal mit ernsten, unheimlichen Episoden. Zahlreiche Puppenmacher gestalteten Trolle und Kinder wie Erwachsene waren von ihnen so fasziniert, dass einige sie sogar mit ins Bett nahmen. Wahrscheinlich war es das Unberechenbare in ihrem Wesen, das die Menschen so für diese Waldgeister einnahm. Der Überlieferung nach konnte man versuchen sich mit ihnen gut zu stellen, indem man sie in das eigene Leben mit einbezog, sich mit ihnen unterhielt, sie streichelte und liebkoste. Aber auch intensivstes Bemühen war keine Garantie. Trolle waren in dieser Beziehung unbestechlich. Wenn sie entsprechender Laune waren, spielten sie auch dem nettesten Lebenspartner gemeine und hinterhältige Streiche.
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und drückte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand fest auf die Augenlider, strich dann in Richtung Nasenwurzel. Vielleicht bin ich doch müder, als ich dachte, gestand er sich ein. Als er die Augen öffnete, tanzten kleine glänzende Pünktchen in der Luft.
Es war angenehm, sich von Lars fahren zu lassen. Er fuhr sicher und gleichmäßig. Die mehrspurige Europastraße führte in der Regel an den Ortschaften vorbei. Sie lag schnurgerade vor ihnen und war fast kilometerweit einsehbar.
Sven Lundquist warf einen prüfenden Blick auf den Tacho – und konnte ihn nicht sehen!
Schnell schloss er die Augen und öffnete sie wieder.
Es änderte sich nichts!
Er konnte nicht mehr richtig sehen!
Als würden sich einige Bereiche einfach ausblenden.
Blind, schoss es ihm durch den Kopf, jetzt werde ich blind!
Der Schweiß brach ihm aus und er spürte seinen rasenden, hämmernden Puls.
Es ist bestimmt nur ein Konzentrationsproblem, versuchte er sich zu beruhigen, ich bin sicher nur etwas übermüdet!
Es wird vergehen!
Sein Atem ging stoßweise und die Finger hatten sich schmerzhaft in die Oberschenkel verkrallt. Lundquist bemühte sich um eine ruhigere und bewusstere Atmung. Zählte langsam bis zehn. Ein lautes Rauschen breitete sich in seinem Kopf aus, überflutete sein Denken. Die Augen hatte er fest geschlossen und sich so weit in seinem Sitz zurückgelehnt, wie es ihm möglich war.
Knysts Stimme, die ihn dem Tonfall nach wohl etwas fragte, schien von weit her zu kommen, war seltsam körperlos.
Allmählich gelang es ihm seine Reaktionen wieder zu kontrollieren. Als er seine Angst niedergerungen hatte und die Augen aufschlug, war der große blinde Fleck einer Art waberndem Nebel gewichen. Schon besser. Lundquist atmete erleichtert tief durch, spürte, wie das Zittern, das seinen Körper erfasst hatte, nachließ. Wie bei den vielen früheren Attacken war zwar nicht mit einem Augenaufschlag alles vorbei, aber es besserte sich. Hysteriker, beschimpfte er sich leise, verfluchter Hysteriker! Wenn er sich konzentrierte, konnte er durch die Nebelbänke hindurchsehen – oder doch relativ gut hindurchahnen.
Er bemerkte, dass sein Freund den Wagen in einer Parkbucht zum Stehen gebracht hatte und ihn voller Sorge ansah.
»Nur ein bisschen übel«, versuchte er eine lahme Erklärung. »Ich hatte damit in letzter Zeit häufiger zu tun. Es ist gleich wieder weg.«
»Komm, wir gehen ein paar Schritte. Dann wird dir vielleicht besser!«, forderte Lars ihn auf.
Sven Lundquist löste mit steifen Fingern seinen Gurt. Er fühlte sich ungewohnt schwach und brauchte alle Kraft, um die Tür aufzustoßen. Mühsam hievte er sich aus dem Wagen, drehte sich um und stützte sich mit beiden Händen schwer atmend auf dem Wagendach ab, weil er sich nicht