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Das Schweigen der Familie. Ben Faridi
Читать онлайн.Название Das Schweigen der Familie
Год выпуска 0
isbn 9783941895737
Автор произведения Ben Faridi
Жанр Языкознание
Серия Mord und Nachschlag
Издательство Bookwire
Eine Wasserleiche stach mit einem Messer wild auf seinen Brustkorb ein. Schweißgebadet wachte er auf. Seine Lungen schmerzten. Die Dämmerung hatte begonnen. Es war kurz nach sechs. Entkräftet und übermüdet stand er auf und rasierte sich. Der Spiegel war beschlagen. Er schnitt sich am Hals und begann zu bluten. Wie ein abgeschlachtetes Schwein, ging es ihm durch den Kopf. Mit einem Handtuch versuchte er vergeblich die Blutung zu stillen. Er nahm sein Hemd vom Bügel und ging gegen sieben Uhr nach unten in den kleinen Frühstücksraum.
Mittwochmorgen, 12. Juni
Die Zimmerwirtin begrüßte ihn schlaftrunken. »Bom dia.« Danach sprach keiner von beiden. Ungefragt bekam er einen Galão und einen kleinen Bolo, ein Brot aus süßem Hefeteig. In Zeitlupe aß er, um zu verhindern, dass er einen Hustenanfall bekam. Das warme Getränk tat ihm gut, obwohl er vom Koffein sicher bald Kopfschmerzen bekommen würde. So konnte sein Leben nicht weitergehen. Sobald er wieder in Berlin war, würde er seinen Job hinschmeißen und wieder anfangen zu schreiben. Und gesund leben, wieder eine Frau kennen lernen. All das, wofür das Leben da ist.
Der Schlag einer Standuhr weckte ihn aus seiner depressiven Stimmung. Es war schon acht Uhr. Das Kommissariat hatte auf, ebenso die Leichenhalle. Baptista stand auf, stieg mühsam die enge Treppe nach oben und packte seinen Koffer. Das Bett roch von der Nacht säuerlich nach Schweiß. Die Gedanken an die Leiche klebten in der feuchten Luft. Er war richtig krank, stellte er fest. Wahrscheinlich würde er bald Fieber bekommen. Wie auch immer: Heute Nachmittag flog die Maschine nach Corvo. Er musste sich beeilen. Schnaufend trug er den Koffer nach unten und bezahlte. Die Zimmerwirtin sah ihn mitleidig an. »Wo müssen Sie denn hin?« »Nach Corvo.« »Soll sehr schön sein.« »Oh, ich bin beruflich hier.« »Beruflich gibt es nicht. Man ist immer als ganzer Mensch unter Gottes Aufsicht.« »Sie haben Recht.« »Gott sei mit Ihnen und gute Gesundheit.« Baptista war froh, als er auf der Straße stand. Es war einfach furchtbar, unter Dauerbeobachtung zu stehen und schlaue katholische Sprüche zu hören. Zum Kommissariat war es nicht weit. Er ging zu Fuß. Die Sonne ging langsam auf und verbreitete in der hohen Luftfeuchtigkeit eine brütende Hitze. Sofort begann Baptista zu schwitzen. Er drückte sich an den Häuserwänden im Schatten entlang, bis er das Kommissariat erreichte.
Es war in einem ehrwürdigen Bau untergebracht, der ganz im klassizistischen Stil der prächtigen Palàcios gestaltet war. Er öffnete die schwere Holztür und trat ein. Rechter Hand befand sich der Empfang. Dort wurde er auch schon misstrauisch beäugt. »Bom dia, Senhor. Zu wem möchten Sie denn?« »Ich habe einen Termin bei Senhor da Rosa.« Der Portier war sichtlich zufrieden, einen bekannten Namen aus Baptistas Mund zu hören. »Da müssen Sie in den ersten Stock, gleich linker Hand.« »Obrigado«, bedankte sich Baptista und stieg die Treppe nach oben. Er fand die Tür gleich und klopfte an. »Herein«, rief eine kräftige Stimme, die zum Namen da Rosa nicht richtig passte. Als er die Tür öffnete, sah er da Rosa bei seinem zweiten Frühstück. Nach dessen Körperumfang zu urteilen, könnte es auch bereits das dritte Mahl sein. »Chamo-me da Rosa«, stellte sich da Rosa vor. »Und Sie sind sicher Senhor Baptista.« »Sehr erfreut.« »Möchten Sie einen Kaffee?« Baptista wollte ablehnen, um seine leichten Kopfschmerzen nicht zu verstärken, entschied sich dann jedoch, dass das unhöflich sei. »Sim, se faz favor«, bedankte er sich. Da Rosa verschwand durch eine Seitentür und Baptista hatte die Gelegenheit sich das wunderschöne Gebäude anzusehen. Man sagt, es würde für Portugal und die EU billiger sein, alle Bewohner der Açores in einem Vier-Sterne-Hotel unterzubringen, als ständig Zuschüsse zu allem Möglichen zu gewähren. Dieses Gebäude war mit Sicherheit ein Beispiel für diese These.
Nach einer übermäßig langen Zeit kam da Rosa mit dem Kaffee zurück. »Ich habe nicht so viel Zeit, weil mein Flugzeug nach Corvo heute Nachmittag geht.« »Keine Eile. In Corvo werden Sie die Zivilisation verlassen. Keine Ärzte, keine Priester.« »Warum kann der Fall nicht von einem ortskundigen Kollegen bearbeitet werden«, fragte Baptista. »Zu viel zu tun.« Das glaubt doch keiner, dachte sich Baptista. »Wie auch immer. In dem Dossier standen recht wenige Informationen zur Familie des Ermordeten. Können Sie mir noch etwas für meinen Aufenthalt auf Corvo mitgeben?« Der Beamte musterte ihn etwas zu lange. Baptista hatte den Eindruck, dass er überlegte, was er von seinem Wissen preisgeben sollte. »Wir sind hier auf São Miguel. Das ist mehrere hundert Kilometer von Corvo entfernt und dazwischen liegt der wilde Atlantik. Wir wissen auf den Inseln nicht viel voneinander. Von daher kann ich Ihnen nicht viel sagen. Corvo ist eine durchaus wohlhabende Insel. Man darf sich nicht täuschen lassen, weil viele Gebäude zerfallen wirken. Seit den schlechten Zeiten, die bis in die 70er Jahre dauerten, geht es denen recht gut. Sie erhalten aus EU-Töpfen eine Menge Geld. Eigentlich erstaunlich, dass dort bisher noch nicht viel mehr passiert ist. Man munkelt auch von Erzvorkommen, die es auf Corvo geben soll. Am besten telefonieren Sie mit dem Polizisten von Flores. Sie wissen doch, die Nachbarinsel. Hier ist seine Nummer.« Baptista verstand, dass er nun gehen sollte. Er stand auf und verabschiedete sich.
Draußen war das Wetter wieder angenehmer. Wolken verdeckten die Sonne und der stetige Wind erzeugte ein angenehmes Klima. Sollte er noch schnell zum Arzt? Dann würde er den Flug nicht mehr schaffen. In Corvo fände sich sicher mehr Zeit. Schnellen Schrittes ging er zur Gerichtsmedizin. Ein älterer Herr nahm ihn in Empfang.
»Ich habe den Obduktionsbericht gemacht, wie alle anderen auch, die hier auf den Azoren zu machen sind. Matteo ist mein Name.« »Danke für Ihre Zeit, Senhor Matteo. Können Sie mir die Leiche bitte zeigen?« Sie gingen in den Keller. Dort sollte die Kühlung auch in Notfällen auf natürliche Weise sichergestellt sein. »Auf São Miguel sind Kellerräume immer noch ungewöhnlich«, bemerkte Matteo. »Überall lauern vulkanische Quellen.« Er nahm eine Kladde aus einem Aktenschrank und öffnete dann den Kühlraum. Baptista begann sofort zu zittern und unterdrückte seinen trockenen Husten. Matteo schaute ihn überrascht an. »Nur eine Erkältung«, erklärte er. »Hier wird sich jedenfalls keiner mehr anstecken«, meinte Matteo mit einem trockenen Humor. Francisco Amaral lag auf einer Roll-Liege. Das war für Baptista der schrecklichste Moment bei jedem Mordfall. Der Leichensack wurde geöffnet. Gab es auf der Welt eigentlich überall die gleichen Leichensäcke?
Das Gesicht von Amaral war im Vergleich zu dem Foto kaum verändert. Matteo wendete den Körper. Die dunklen Flecken auf dem Rücken waren gut zu erkennen. »In Ihrem Bericht haben Sie diese Flecken hier nicht erklärt. Was glauben Sie, ist das?« Matteo schaltete das weißgrelle Untersuchungslicht ein. »Ich hatte es für Veränderungen der Haut durch das Wasser gehalten.« Baptista beobachtete Matteo genau. Aber er konnte an seiner Mimik nicht erkennen, ob das wirklich die Meinung des Arztes war. »Könnten es Verbrennungen sein?« »Das ist schwer zu sagen. Durch das Meerwasser wird die Hautoberfläche stark angegriffen. Wäre er an Land gestorben, könnte man das leicht herausfinden. Möglich ist es aber. Haben Sie einen Anhaltspunkt?« »Die Bilder haben mich an einen früheren Fall erinnert.« »Ich schicke eine Probe in das Labor. Vielleicht lassen sich noch ausreichend Erkenntnisse gewinnen.« »Danke.« Baptista verabschiedete sich und eilte zum Flughafen. Die Beamten musterten ihn unangenehm, weil er durch die Lungenentzündung wieder stark zu schwitzen begonnen hatte. Auf Corvo wollte er gleich einen Arzt aufsuchen. In der kleinen Maschine war es nicht voll. Er setzte sich auf seinen Platz und schlief sofort vor Erschöpfung ein.
Das Flugzeug landete auf einer winzigen Piste. Fast hatte man Angst, dass die Landebahn nicht ausreichte. Schon von oben sah man, dass Corvo – der Name bedeutet ›Rabe‹ – eine winzige Insel war. Baptista dachte an die vielen Vorurteile von Menschen gegenüber Raben. In der Renaissance wurden sie gerne neben Apollo oder