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KonBef! KonBef! KonBef! murmelte, bekniete ihn die Frau aus der Kleiderabteilung, ja nicht den Gebetskreis zu vergessen, und tatsächlich erwischte Barrett sich dabei, dass er laut aus der Bibel vorlas, als er an der Reihe war. Er drängte die Tränen zurück, die, wie er sich einreden wollte, von einem Stäubchen im Auge herrührten. Später machte er sich bittere Vorwürfe für diesen Anfall von Weinerlichkeit: »Reiß dich zusammen, Barrett, reiß dich zusammen!«

      Schließlich konnte er sich keinesfalls leisten, sich das freie Fürsorgeessen durch die Lappen gehen zu lassen. Er verschlang rauhe Mengen davon und schwindelte sich sogar noch ein paar Scheiben von dem guten, selbstgemachten Fürsorgebrot zusammen, die er hastig in seiner Tasche verschwinden ließ. Später würde er sich eine Dose Ölsardinen und ein paar Kleinigkeiten kaufen und sich am Abend ein Festmahl an den heilsamen Quellen vom Washington-Square-Brunnen genehmigen. Übrigens war er mit Abstand die gesundeste Erscheinung im ganzen Raum, in dem sich rotgesichtige, stoppelbärtige Männer und halb verhungerte Weiber drängelten, die vor lauter Alter und Alkohol nur noch vor sich hin zittern konnten. »Ham! Ham!« machte Barrett und versuchte eine dritte Ladung Erbsensuppe abzustauben, indem er mit der Verteilerin flirtete. Aber glaubt ja nicht, dass er deshalb später auf die Idee gekommen wäre, dem katholischen Fürsorgeheim auch nur einen Cent zu spenden, als er für die Abteilung Dichtung zuständig war und dafür fünfzig Riesen im Jahr kassierte.

      Nach dem Essen bahnte sich Barrett einen Weg in die Kleiderkammer, die von den verrücktesten Winterklamotten aus allen Nähten platzte. Er fand ein irres braunes Reitjackett mit einem aufgesteppten Umhang aus rostrotem Stoff und reichlich großen Taschen, ideal also, um darin pfundweise Notizbücher und die ganzen Siebensachen seines Schnorrerdaseins zu verstauen.

      Für seine Füße fand er ein Paar uralte Bowlingschuhe von leicht unterschiedlicher Größe. Es mussten ausrangierte Leihexemplare sein, die wohl von einer Bowlingbahn stammten; das linke Exemplar war rot und grün gestreift und hatte eine Neun auf den Absatz gepinselt, während das rechte einfach braun war und die Nummer Vierzehn trug. Sie waren unheimlich bequem, stanken nicht die Spur und schienen durchaus einen apollinairischen Bummel entlang der Bücherstände unten am Fluss wert zu sein. Als er in sein neues Outfit stieg, fühlte Barrett die Schwingen eines seltenen Genius.

       V

      Er war vollgefressen und glücklich — und die Angst vor einem leeren Magen war wie weggeblasen. In den Klauen des Food Hawk ist sogar ein geborener Keats nicht mehr er selbst und all seine Bösartigkeit zum Teufel. Barrett war jetzt genau in der richtigen Stimmung für eine ausgiebige Gaffersession in Rienzi’s Kaffeehaus, wo er seine müden Augen mit ein paar schönen, verrückten Ausblicken erfrischen konnte. Sandalen über straffen gebräunten Beinen, Muskeln, die unter leuchtend bunten Kleidern spielten und sich wölbten, und existenziell-glasige Blicke durchs Fenster, als er an der San Remo Bar vorbeikam. Er flanierte die Bowery entlang bis zur Bleecker Street, dann die Bleecker hoch bis zur McDougal und war überzeugt davon, dass seine ganze Umgebung von seinen neuen Bowlingschuhen und dem apollinisch-apollinairischen Jackett geblendet war, als er schließlich rechts in die McDouglas einbog und beim Rienzi’s ankam.

      Er setzte sich an einen weißen Marmortisch mit eingelegtem Schachbrett direkt am Fenster. Denn was war schon eine Rienzi-Sitzung ohne den vollen Blick auf die McDougal-Street-Parade? Während all der Jahre im Village hatte Barrett Methoden des Gaffens entwickelt, die ihm fünfzehn Jahre später bestimmt enorm nützlich gewesen wären, wenn er sich dafür entschieden hätte, eine psychedelische Sekte mit sehtrainierten Jüngern aufzubauen, statt Professor / Barde für englische Literatur zu werden.

      Er zündete sich eine kleine Henri Winterman an, bestellte Café Creme und hockte einfach da, trank erst Espresso, der von der Zitronenschale leicht verfärbt war, danach einen Cappuccino, dann noch einen starken Espresso und schraubte damit seine Energie bis auf den Grad von, sagen wir mal, einem Washington-Park-Haschwolken-Paranoia-Blick, mit dem er die vorbeistromernden Freaks durchbohrte. Seine mangelnde Selbstsicherheit war unter einem arroganten Gesichtsausdruck verborgen. Ab und zu beugte er sich über sein Notizbuch und versuchte, die vorbeiflitzenden Geistesblitze festzuhalten.

      Er selbst hätte es nicht unbedingt Langeweile genannt, aber nach ein paar Minuten verursachte das angestrengte Starren eine innere Verwirrung, vielleicht sogar Verzweiflung, so ähnlich wie bei einem Sektenmitglied, das während einer Meditationssitzung angestrengt versucht, nicht gerade vor den Augen seines Gurus einzuschlafen. Deshalb begrüßte er jetzt freudig die Gelegenheit, sich auf das Mienenspiel von Rienzis Gästen konzentrieren zu können. Er hatte nämlich in der englischsprachigen Dichtung einen erschreckenden Mangel festgestellt, wenn es um die detaillierte Beschreibung der menschlichen Ausdrucksfähigkeit im Gesicht ging, ganz besonders in Momenten von Liebe, Leid oder geballter action. Was zum Beispiel war mit dem Mienenspiel in der Verführungsszene von Keats’ The Eve of St. Agnes los? Und forderte Ezra Pound nicht in einem Buch nach dem anderen dazu auf, »es anders zu machen!« Auf Grundlage solcher Überlegungen würde auch Barrett noch eines Tages mit einem großen Knall in die Literaturgeschichte eingehen, statt mit dem Winseln eines Hundes (widerliche Alternative!). So ließ er jetzt im Kaffeehaus seine Augen von Gesicht zu Gesicht schweifen und notierte sich jede Bewegung der Gesichtsmuskeln, die ihm auffiel. Bei einem Jungen und einem Mädchen, die am Nebentisch saßen, stoppte er und beschloss, ihr Mienenspiel in seinem Notizbuch sozusagen in Zeitlupe wiederzugeben. Vielleicht konnte er daraus mal eine Vignette für eine Kurzgeschichte machen, denn er gehörte keineswegs zu denen, die sich in die Karriere eines Dichters stürzen, ohne vorher gelernt zu haben, im Notfall auch mal schnell eine Story für irgendein Literaturmagazin zustandezubringen.

      Nie konnte er eine Nummer des New Directions Annual im Buchladen an der Achten Straße aufschlagen, ohne unter den schlimmsten Gewissensqualen zu leiden, weil von ihm schon wieder keine Story dabei war. Eine Story, kein Gedicht, denn im Grunde hielt er seine Gedichte für viel zu unverständlich, abstrakt, für so total schmierig-brillant, dass nieman riskieren könnte, sie abzudrucken. Trotzdem war er von der sturen Überzeugung besessen, dass selbst die Kritiker eines Tages seine Karriere noch mal ausbeuten würden.

      Das Mädchen hatte ein enges blaues Kostüm an und eine weiße Spitzenbluse, die unter dem westenartigen Oberteil des Kostüms hervorlugte. Barretts Notizbücher lassen sich leider nicht über ihre Haarfarbe aus, aber es fiel ihr glatt bis auf die Schultern und war in der Mitte gescheitelt. Die Ponyfransen reichten bis zu den Augenbrauen. Unter ihnen blickten zwei große, braune, ergebene, sinnliche Augen hervor — oder war das etwa nur die Erschöpfung vor den sommerlichen Prüfungen? Neben ihr saß Levine, ein Dichter, dem Barrett einmal auf einer Ginsberg-O’Hara-Dichterlesung im Living Theatre begegnet war.

      Das Mädchen griff gerade in seine Handtasche und zog mit zitternden Händen ein Bündel sauber getippter Gedichte hervor — circa fünfzehn Seiten alles in allem. Levine nahm sie, las mindestens zehn Minuten aufmerksam eins nach dem andern und mahlte dabei zwischen seinen Kiefern eine imaginäre Prise Old-Mule-Kautabak. Einmal blätterte er zurück, und las dann mehrere Gedichte noch einmal, nickte dabei vor sich hin und summte offensichtlich zustimmend durch die Nase. Aber dann ging die Fetzerei los.

      Langsam schraubte Levine seinen Füllhalter auf und beugte sich tiefer über die Blätter, während seine Augen schräg nach oben blinzelten und sich mit einem Unheil verkündenden Iwan-der-Schreckliche-Blick in die ihren versenkten. Barrett beobachtete das alles nichtsahnend. Die Kleine hatte den Kerl doch bestimmt nicht gebeten, ihre Texte zu überarbeiten oder zu verbessern.

      »Du hast hoffentlich nichts dagegen ...«, war alles, was Levine noch rausbrachte, bevor er loslegte und in Windeseile Verschiedenes kappte, Phrasen und Sätze strich und sogar — Horror aller Dichterhorrors — ganze Zeilen umschrieb, kurz, ein fürchterliches Chaos veranstaltete.

      Sie beobachtete ihn ruhig und mit bleichem Gesicht. »Siehst du diese Zeile?« fragte er und drehte das Blatt ein wenig, damit sie es besser lesen konnte. »Ich habe nichts kapiert«, zitierte er. »Also, statt nichts schreibe ich gewöhnlich ›null‹ oder ›zero‹, verstehst du? Weil ›nichts‹ ist so, äh, so unauffällig, aber ›null‹ ist ... klingt mehr wie, na ja, eben so,

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