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Andre Zeiten, andre Drachen. Wolfgang Schwerdt
Читать онлайн.Название Andre Zeiten, andre Drachen
Год выпуска 0
isbn 9783940621504
Автор произведения Wolfgang Schwerdt
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Was zum Teufel ist ein Drache?
Auf den ersten Blick mag diese Frage ein wenig irritieren, denn die Antwort scheint klar: Ein Drache ist, so wissen wir aus Mythen, Legenden und Märchen, ein feuerspeiendes Ungeheuer, das eine besondere Vorliebe für Jungfrauen hat, Schätze bewacht und Landschaften verwüstet. Daraus folgt dann, dass Drachen von Rittern abgeschlachtet werden müssen, um die Menschheit von diesen Ungeheuern zu befreien.
Gewaltig groß sind Drachen. Und sie sehen aus wie Echsen – so glauben wir zu wissen – mit mächtigem Gebiss, fürchterlichen Klauen und giftigem Atem; und nicht zu vergessen, die riesigen Fledermausflügel, die die reptilartigen Wesen durch die Lüfte tragen.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Teufel: In der Offenbarung des Johannes 3 erscheint der vom Himmel gestürzte Satan als mächtiges Tier, das mit der verführerischen ›Alten Schlange‹ beziehungsweise dem ›Alten Drachen‹ des Paradieses gleichgesetzt wird. Und dieses Tier hat nur wenig Ähnlichkeit mit Erscheinung und Konzept der bekannten Märchen- und Sagendrachen. Da geht es um ganz andere Kaliber von machtvollen Mischwesen. In der Johannesoffenbarung 13, 1-2 heißt es: »Ein Tier stieg aus dem Meer, mit zehn Hörnern und sieben Köpfen. Auf seinen Hörnern trug es zehn Diademe und auf seinen Köpfen Namen, die eine Gotteslästerung waren. Das Tier, das ich sah, glich einem Panther; seine Füße waren wie die Tatzen eines Bären und sein Maul wie das Maul eines Löwen. Und der Drache hatte ihm seine Gewalt übergeben, seinen Thron und seine große Macht.«
Schauen wir uns die naturkundlichen Werke aus der Zeit der Aufklärung an, die Tierlexika des 17. und 18. Jahrhunderts beispielsweise, so finden sich dort ausführliche, scheinbar wissenschaftliche Beschreibungen von Drachen als biologische Wesen. Heute stellt unter anderem die Kryptozoologie einen direkten Zusammenhang zwischen den legendären Ungeheuern und den Komodowaranen oder den Sauriern her.
Die auf den ersten Blick so einfache Definition des Drachen, wirft nun bereits die ersten Fragen und auch Zweifel auf. Ist der Drache ein Märchen- und Sagenwesen oder ist er ein Produkt religiöser Vorstellungen? Gab es Drachen jemals wirklich und wie sahen sie tatsächlich aus?
Andre Zeiten, andre Drachen: Der Titel dieses Buches spricht bereits für eine große Wandlungsfähigkeit der Drachenwesen, die die Menschheit seit Jahrtausenden begleiten. Und je nach den Zeiten und Kulturen, aus denen wir etwas über Drachen erfahren, verkörpert der Drache andere Konzepte und andere Erscheinungsformen. Nur eines ist allen Drachenwesen gemeinsam: der direkte Bezug zur menschlichen Kultur.
Marduk der Muttermörder oder der Ursprung des Drachen
Die Frage nach dem Ursprung des Drachen dokumentiert auch das generelle Bedürfnis des Menschen, Dinge und Phänomene einordnen zu wollen. Bei historischen Themen, das kennt man aus dem Geschichtsunterricht, funktioniert diese Einordnung durch eine möglichst präzise Datierung. Jahreszahlen oder wenigstens die Festlegung eng umrissener und klar voneinander abgrenzbarer Zeiträume machen Geschichte scheinbar verständlich. Große Persönlichkeiten, Herrscher, Feldherren, Philosophen, das sind weitere Fixpunkte für das Geschichtsverständnis der Menschen, die ihre alltägliche Denkweise an ein Leben in arbeitsteiligen, hierarchisch strukturierten Gesellschaften angepasst haben. Und nicht zuletzt scheint es ebenfalls wichtig zu sein, Ursprungsorte auszumachen. Auch die Drachenforschung ist davon nicht frei. Bis heute beginnt nahezu jede Auseinandersetzung mit dem mythologischen Ungeheuer bei Marduk und Tiâmat. Die Keilschriftbelege über diese Urgottheiten, vor allem der sumerisch-babylonische Schöpfungsmythos Enûma elîsch, gelten als erste dokumentierte Erwähnung des Drachen. Das Enûma elîsch, ist eine Art ›amtlich beglaubigte Geburtsurkunde‹ des Drachen – etwas Besseres kann man sich auf den ersten Blick als wissenschaftlicher ›Ursprungsjäger‹ kaum vorstellen. 1849 entdeckte der britische Archäologe Austen Henry Layard den Haupttext des Enûma elîsch. Das Dokument besteht aus sieben mit Keilschrift beschriebenen Tontafeln der königlichen Bibliothek in Ninive, der assyrischen Hauptstadt des 1. vorchristlichen Jahrtausends. Die Wissenschaftler schätzen das Alter des babylonischen Schöpfungsmythos unterschiedlich ein. Fest steht: Er ist irgendwann zwischen 3.000 vor Chr. und 1.100 vor Chr. entstanden. Der zweite Blick zeigt also, dass der Wert dieser ›Geburtsurkunde‹ hinsichtlich des Ursprungs des Drachen zweifelhaft ist. Glücklicherweise haben Archäologie- und Geschichtsverständnis im Laufe der letzten 50 Jahre eine gewaltige Entwicklung vollzogen. Heute dienen Persönlichkeiten, Orte oder Datierungen eher als Matrix, als Koordinatensystem, als Beispiele für eine als vielschichtigen Prozess begriffene Kulturgeschichte. Orte spielen dabei vor allem als Bezugspunkte weiträumiger und langfristiger kulturgeschichtlicher Entwicklungen eine Rolle.
Dennoch landet man bei der Auseinandersetzung mit dem Drachen aus der ›westlichen Perspektive‹ unweigerlich beim sehr gut dokumentierten und untersuchten sumerisch-babylonischen Schöpfungsmythos Enûma elîsch. Das Enûma elîsch steht hier beispielhaft für den in den frühgeschichtlichen vorderasiatischen Kulturen weit verbreiteten Mythos des Drachen- oder Chaoskampfes 4 und handelt vom Aufstieg des babylonischen Stadtgottes Marduk zum unbestrittenen Herrscher über die Götterwelt Mesopotamiens. Damit verbunden ist die Vernichtung des ersten Schöpferpaares: ›Tiâmat› die sie alle gebar‹ und des Apsu, des ›Uranfänglichen‹. Die Erschaffung der Welt durch einen neuen, beinahe allmächtigen Göttertyp und die Erschaffung der Menschen als Diener der Götter bilden schließlich die mythologischen Grundpfeiler einer aus dem Chaos geformten, hierarchischen Ordnung.
So beginnt das Enûma elîsch 5 : Als der Himmel oben noch nicht genannt war, als die Erde unten noch keinen Namen hatte, waren die Wasser von Apsu, dem Uranfang, dem Erzeuger und Tiâmat, der Urmutter, die sie alle gebar, noch miteinander vermischt. Noch konnte man weder Land noch Leben erkennen und es gab noch keine Götter, die man hätte nennen können. Schließlich entstand aus der Vereinigung von Tiâmat und Apsu Leben und der Uranfang (Apsu) und die Urmutter (Tiâmat) schufen sich die Götter zu Kindern.
Aus dem ersten, von den Urgottheiten Tiâmat und Apsu geschaffenen Götterpaar waren inzwischen zahlreiche Nachkommen entstanden. Und schließlich wurde auch der strahlende und ehrgeizige Ea gezeugt. Ea fühlte sich offensichtlich in der noch ungeordneten Göttergesellschaft unterfordert und stachelte seine göttlichen Brüder an, durch unermüdliche Bautätigkeit, Urmutter Tiâmat zu ärgern und ihre Autorität in Frage zu stellen. Schließlich entschieden sich die geplagten Urgottheiten, die Werke ihrer aufsässigen Nachkommen immer wieder zu zerstören, um ihnen die Macht zu nehmen.
Der Konflikt zwischen den Urgottheiten und den ehrgeizigen Göttern schaukelte sich hoch und schließlich hatte der strahlende Ea den uranfänglichen Apsu niedergemacht (möglicherweise auch erschlagen, kastriert oder vergewaltigt). Tiâmat rüstete sich daraufhin zur endgültigen Vernichtung ihrer eigenen Götterkinder.
So gebar die Chaosmutter eine Armee schrecklicher Kreaturen: Riesige Giftschlangen, wütende Drachen, Basilisken, Skorpion- und Fischmenschen und ganze Herden von Meerwiddern war sie in der Lage in die Schlacht zu werfen. Als sich Tiâmat anschickte, ihre aufsässige Brut zu vernichten, da verkroch sich selbst der mächtige Ea vor ihrem Zorn. Es war schließlich Eas Sohn Marduk, der den Kampf mit Tiâmat aufnahm, die inzwischen von einer ursprünglich gestaltlosen Gottheit zu einem Ungeheuer geworden war. Unter Einsatz von Naturgewalten wie Blitzen und Stürmen, aber auch der modernsten babylonischen Waffentechnik, in Form von Bogen und Streitwagen, bezwang Marduk die Urmutter. Nun übernahm Marduk die Schöpferrolle und machte sich auch gleich daran, den Kadaver der nun als Ungeheuer bezeichneten Tiâmat in Erde und Himmel zu teilen. Der gewaltige Gott erschuf Sonne, Mond und Sterne und platzierte sie ordentlich am Himmel. Und aus Blut und Knochen der vernichteten Chaoskreaturen bildete Marduk die Menschen, damit sie den Göttern die Arbeit abnähmen und bestimmte: »Die Pflege der Götter sei ihm (dem Menschen) zur Pflicht. Für immer soll er mit Opfern sie ehren.« 6
Stellt man das Enûma elîsch in Zusammenhang mit den kulturhistorischen Ereignissen dieser Region,