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Menschen, die Geschichte schrieben. Группа авторов
Читать онлайн.Название Menschen, die Geschichte schrieben
Год выпуска 0
isbn 9783843803823
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия marixwissen
Издательство Bookwire
Es machte sich zunächst literarisch, sodann kultisch und nicht zuletzt politisch bemerkbar. Die Aachener „Beschreibung, wie Karl der Große Nagel und Dornenkrone von Konstantinopel nach Aachen brachte und wie Karl der Kahle sie nach Saint-Denis überführte“, entlieh ihr Wissen von dort, aus importierten, nicht aus einheimischen Quellen. In der Ile de France entstand ferner, etwa in der Mitte des 12. Jahrhunderts, der sogenannte Pseudo-Turpin, der den Rolandsstoff fortdichtete, und dem mit über 130 mittelalterlichen Handschriften ein ungewöhnlicher Erfolg beschieden war. Der Liber Sancti Iacobi, eine Sammelschrift zu Ehren des Apostels und seines Grabes in Compostella, vereinte den Rolandsstoff mit dem Jakobskult zur Propagation des Kreuzzuges nach Spanien, an dem tatsächlich zahlreiche Franzosen teilnahmen, und der Pilgerfahrt nach Compostella; als sein angeblicher Autor firmierte der Erzbischof Tilpin von Reims, ein wirklicher Zeitgenosse Karls des Großen. Abermals erschien der Frankenkönig, ohne es schon zu sein, gleich einem Heiligen.
In „Charlemagne“ entfaltete sich mit der Zeit der Typus des französischen Königs schlechthin. Herrschaftliche Implikationen fehlten nicht. Abt Suger von Saint-Denis etwa erinnerte um 1140 an einen Karl, der den Osten erobert habe, weshalb die Deutschen „von Rechts wegen“ (iure regio) zu Frankreich gehörten.11 Und schon die Chanson de Roland hatte Aachen zu Frankreich gezogen (Vers 726). Die hier gesäte Saat trug Jahrhunderte später reiche Frucht. Bald verbreitete sich die Theorie der „Rückkehr Frankreichs zum Geschlecht Karls des Großen“, wonach die Königsfamilie der Kapetinger über die Mutter König Philipps II. August, die henne-gauische Grafentochter Elisabeth, wieder an das gesegnete Geschlecht Karls des Großen angesippt war. Das genealogische Argument, das Andreas von Marchiennes im Jahr 1196 vortrug, heilte den Bruch von 987, restaurierte die immer wieder angezweifelte Legitimität der Kapetinger und überhöhte das Ansehen des Königshauses; es implizierte aber nicht zuletzt weitgreifende Herrschaftsansprüche und künftige politische Handlungsmotive.
Solche wurden in der Tat vom Königtum alsbald realisiert, was die ‚Rückkehr‘-Theorie gleichsam als die Summe der französischen Karlsverehrung des 12. Jahrhunderts zu erkennen gibt. Bereits Philipp selbst soll darüber nachgesonnen haben, „ob Gott mir oder einem der anderen Könige der Franzosen die Gnade gewähre, Frankreich in den früheren Stand zu versetzen und es zu derselben Größe und Ausdehnung zurückzuführen, die es zur Zeit Karls (des Großen) einst besaß“.12 Philipps noch jungem Sohn Ludwig VIII. wurde ein Tatenbericht des großen Königs in lateinischen Hexametern zur Lektüre und zum Vorbild empfohlen, der den Titel Karolinus trug und als eine Art Fürstenspiegel konzipiert worden war.13 Das Gedächtnis an den heldenhaften, glaubensstarken, bald heiligen Kaiser, an den großen König der Franken = Franzosen leistete Hilfe bei der Entstehung der französischen Nation. Der spätere Sonnenkönig wusste darum und verhielt sich entsprechend.
Der Osten reagierte frühzeitig und voll Zorn. „Nicht wir [Franzosen] gehören zum Imperium“, so ließ man zur Zeit Kaiser Friedrichs I. den König Frankreichs tönen, „vielmehr gehört dieses uns; denn die alten Gallier haben es besessen und uns, ihren Nachfahren, hinterlassen.“14 Es galt somit schleunigst zu handeln. Unseliger freilich konnte der Augenblick nicht sein. Doch fremde Erinnerung provoziert eigene und zeitigt eine situationsbedingte Gestalt, deren Wirken den Händen aller Beteiligten entgleitet. Noch Otto von Freising, der große Geschichtsschreiber um die Mitte des 12. Jahrhunderts, hatte in Karl lediglich den machtvollen König erkannt und keinen mythischen Heros, keinen spezifischen Legitimitätsquell für ein gegenwärtiges Herrschertum, sei es im Osten oder im Westen, keinen neu konzipierten Inbegriff des eigenen Reiches, schon gar keinen Heiligen. Mit Friedrich Barbarossa und Heinrich dem Löwen aber sollte sich das ändern.
Beide beriefen sich – wenn auch in unterschiedlicher Weise und aus unterschiedlichen Gründen – auf Karl den Großen. Der Sachsenherzog aus Schwaben betrachtete sich als einen Erben des Franken und streckte die Hand nach einer Königskrone. Der Schwabe auf dem römischen Königsthron aber betrieb die Heiligsprechung seines Vorgängers aus Franken. Ansätze zu einer übergentilen Integrationsfigur sind weder hier noch dort zu übersehen. Doch waren sie eingebunden in das tagespolitische Geschehen.
Der Löwe erhob königliche Ansprüche; und der Rotbart betrieb für den Augenblick, worauf gleich zurückzukommen ist, eine Kampfansage an Frankreich. Dem englischen König Heinrich II. ließ er, als er ihn für seine Politik zu gewinnen hoffte, mitteilen – jedenfalls kolportierte man es so am englischen Hof –: Er, Friedrich, betrachte den französischen König nicht als einen Erben Karls des Großen, sondern nur des Kapetingers Hugo von Franzien, der die wahren Erben, die letzten Karolinger nämlich, vom Thron gestoßen habe; er aber, der Kaiser, sei jetzt Karls Erbe und als solcher werde er Heinrichs Sohn den französischen Thron übergeben.15 Das griff die innerfranzösischen Zweifel an der Legitimität der Königsfamilie auf16 und schürte den englisch-französischen Konflikt oder sollte es tun. Wie dem aber sei, die konfliktsteigernde Gedächtnisfigur ‚Karl der Große‘ sah sich in der Folge jeder Chance beraubt, über die ersten, sehr bescheidenen Ansätze zu einer reichsintegrativen Wirkung in Deutschland hinauszugelangen. Der erinnerte Karl einte die Deutschen nicht.
Erinnerung ist, so halten wir fest, eine Form der Wirklichkeit, der Wirklichkeit nämlich des kulturellen Gedächtnisses, des sozialen Wissens, des gelehrten Diskurses, der argumentativen, politischen und sozialen Interaktion. Sie lenkt soziale und politische Realitäten, die ihrerseits von vielfach modulierten Erinnerungen durchsetzt und geformt sind. Sie stoßen sich an einer Wirklichkeit, die aus den Folgen realer Taten hervorging. Die legendär überformten Erinnerungsstufen aber können sich den Augenblick nicht aussuchen, in dem sie zu wirken beginnen und eine neue Wirklichkeit schaffen, und müssen sich dennoch an diesen Augenblick anpassen. So war es auch jetzt: Im Westen forderte das Gedächtnis an Karl die Bildung der Nation, im Osten indessen schürte sie den Konflikt mit Frankreich.
So zeichnete sich nur in Frankreich eine konsequente Entwicklung ab. Sie mündete – leicht fasslich, nachlesbar und zukunftsweisend – in die Grandes Chroniques de France, die, von Ludwig dem Heiligen in Auftrag gegeben und von einem aufwendigen Bildprogramm begleitet, zum Geschichtsbild des spätmittelalterlichen Frankreich schlechthin wurden. Sie wiesen den direkten Weg von den Franken zu den Franzosen, von den Karolingern zu den Kapetingern und später zu den Häusern Valois und Bourbon, von Karl dem Großen zu Ludwig dem Heiligen. Dieser Karl führte mit Selbstverständlichkeit das ruhmreiche Königsbanner, das in ihm und durch ihn geheiligt war und eben gerade, in der Schlacht von Bouvines, über Johann ohne Land und den Kaiser Otto IV. triumphiert hatte: die drei goldenen Lilien auf blauem Grund, das Wappen der französischen Könige.
In Deutschland indessen war nichts dergleichen eingetreten. Hier etablierte sich allein – zaghaft genug und rudimentär – der religiöse Karlskult. Dazu trat der Reichtum an Karlssagen, der sich keinem einigenden Programm unterwarf. Weder dieser noch jener artikulierte ein übergreifendes Ziel, das sich an Karls Namen heftete und der deutschen Geschichte Richtung und Sinn gewiesen hätte. Die Wirkungen der Realität und der Erinnerungen an dieselbe traten in Ost und West eklatant auseinander.
„Karl der Große“ also oder „Charlemagne“? Die Frage wurde in dieser zugespitzten Form 1935 in Deutschland aufgeworfen;17 sie war keineswegs, wie in letzter Zeit gerne behauptet wird, falsch gestellt. Sie entsprang vielmehr der historischen Erfahrung in den unterschiedlichen und in sich noch weiter differenzierenden mittelalterlichen Erinnerungsgemeinschaften des Ostens und des Westens, sowie den davon ausgehenden realen politischen und sozialen Wirkungen, die bis tief in die Neuzeit reichen. Sie kann auf jenen erwähnten Wirkungsfächer aus Realitäten und realitätsstiftenden Erinnerungen verweisen, von dem oben die Rede ist.
Die Antwort muss gemäß diesem Wirkungsfächer differenzieren: Hier