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Jacquiz Helmut auch argumentieren mochte). Es war nötig, sich das ein wenig zurechtzuschummeln, und Daniel war sicher, dass Helmut diese leichte Abweichung von seinen Anweisungen am Ende pragmatisch sehen und gutheißen würde.

      Anders als bei dem unguten Gefühl, das ihn bei anonymen Deutschen in der Menge weiterhin nicht losließ, waren Daniels persönliche Begegnungen völlig unbeschwert. Seine Wirtin, eine schicksalsergebene Frau von wuchtiger Statur, die sich mit watschelndem Gang fortbewegte und schon bessere Tage gesehen hatte, erledigte ihre Aufgaben pünktlich und unaufdringlich, und der einzige andere Deutsche, auf den er in gewisser Hinsicht angewiesen war, hatte ihn mit einer Mischung aus kollegialer Höflichkeit und persönlicher Gleichmut behandelt, was er ganz und gar beruhigend fand. Es handelte sich um Doktor Aeneas von Bremke, dem er von Dirange empfohlen worden war und dem er nach seiner Ankunft Anfang April gleich als Erstes einen Besuch abgestattet hatte.

      »Der Herr Doktor Dirange hat mir selbstverständlich geschrieben«, sagte von Bremke feierlich. »Es ist mir eine Freude und eine Ehre, Ihnen helfen zu dürfen. Würden Sie bitte mit mir kommen?«

      Er war im obersten Stockwerk des Gebäudes durch einen langen, schmucklosen Korridor mit hohen Wänden vorangegangen, bis sie an einer Tür anlangten, an der eine gedruckte Karte angebracht war:

      HERR DOMINUS DANIEL MOND.

      »Dominus«, sagte von Bremke mit einem Gesicht, dessen gestrenger Ernst für einen Augenblick einer schlaffen Befriedigung wich: »Das ist die korrekte Anrede für einen englischen Bachelor of Arts, nicht wahr?«

      »Ich glaube, ja … Ich meine, ja, in der Tat«, sagte Daniel und bemühte sich, beeindruckt zu wirken.

      »Sehr gut. Hier haben wir diesen Raum für Sie zum Arbeiten abgezweigt. Sie müssen wissen, dass die meisten Dokumente aus dem Dortmund-Nachlass dieses Gebäude nicht verlassen dürfen. Aber der Herr Kurator wird sie gerne in diesem Raum zu Ihrer Verfügung bereitstellen.«

      »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

      »Bitte …«

      Von Bremke prüfte, ob die Schreibtischlampe funktionierte, und inspizierte eine Archimedes-Büste, die auf dem Fenstersims stand.

      »Wir fühlen uns«, sagte er, als würde er zu Archimedes sprechen, »selbstverständlich geehrt, dass ein gelehrter und fä­­higer junger Gentleman von einer so alten und herausragenden Universität, ausgestattet mit der geschätzten Empfehlung des international hochangesehenen Herrn Doktor Dirange, hierherkommt, um den Nachlass Dortmunds zu untersuchen. Doch erhoffen Sie sich bitte nicht zu viel. Auch ich habe, vor einigen Jahren …«

      Er brach ab wie eine Schallplatte, von der man ohne Vorwarnung die Nadel abgehoben hatte.

      »Da ist Staub auf dem Aktenschrank«, sagte er.

      »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.«

      »Ich mache mir keine Gedanken. Da sollte nur keiner sein, das ist alles.« Er zog ein feines Stofftaschentuch hervor, staubte den Aktenschrank ab und ließ das Taschentuch dann in den Papierkorb fallen. »Auch ich habe, vor einigen Jahren«, sagte von Bremke, als wäre die Nadel des Grammofons plötzlich wieder aufgesetzt worden, »die Hinterlassenschaft Dortmunds untersucht. Das Unheil, das über unsere Nation hereingebrochen ist, hat meiner Arbeit ein Ende gesetzt, aber ich war schon so weit vorgedrungen, dass ich wusste, ich würde damit nicht weiterkommen. Das ist auch schon alles, was ich sagen wollte: Gehen Sie nicht unbedingt davon aus, dass Sie Erfolg haben werden.«

      »Mir sind die Schwierigkeiten bewusst.«

      »Nein, das sind sie nicht.« Er hatte das weder brüsk noch aggressiv gesagt, nahm Daniel wahr, es war lediglich eine simple Tatsache, die er konstatierte. »Sie wissen, wie wir alle wissen, dass Professor Dortmund eine vollkommen neue Notation erfunden hat. Diese Notation war nötig, so meinen wir, um den bekannten Matrizentyp in einen viel komplexeren umwandeln zu können, in dem drei Dimensionen abgebildet werden. Das war das Anliegen des Professors, und hier liegt für uns der Schlüssel: Erkennt man den Zweck der Notation, so wird unweigerlich früher oder später offenbar werden, wie sie funktioniert. Stimmen Sie mir zu?«

      Daniel nickte.

      »Aber warum hat sich das noch immer nicht gezeigt? Nach beinahe fünfzehn Jahren?«

      »Weil so wenig darüber bekannt ist, wozu sie dienen soll.«

      »Ganz genau, Herr Dominus. Und nun ziehen Sie in Betracht, dass wir vielleicht noch weniger wissen. Dass Professor Dortmund seine neue Notation nicht nur für das entwickelt hat, was unsereins denken mag, sondern für etwas anderes. Dass er sich ab einem bestimmten Stadium seiner dreidimensionalen Matrizen auf ein anderes, noch komplizierteres Feld verlegt hat – das mit dem bisherigen höchst wahrscheinlich in Beziehung steht, aber doch etwas anderes ist. Was dann, Herr Dominus?«

      »Wir sind uns einig«, sagte Daniel langsam, »dass die Beschaffenheit der Arbeit des Professors im ersten Teilgebiet – so wenig wir darüber wissen – uns den Schlüssel zu der Notation liefern könnte. Vielleicht könnte uns die Notation wiederum den Schlüssel zu seinem späteren Forschungsgebiet liefern … auf das er sich, wie Sie sagen, dann verlegt hat.«

      »Vielleicht«, sagte von Bremke, und zeigte Archimedes ein Pokerface. »Aber bisher hat niemand auch nur den ersten Schritt leisten können. Was den zweiten angeht, so hat der Professor, als er damit begann, das Feld zu wechseln und in eine andere Richtung zu arbeiten, in vielerlei Hinsicht auch die Notation geändert. Sie haben also nicht nur eine Notation zu entziffern, sondern auch noch eine spätere Variante davon. Und wozu diese dienen sollte, davon haben wir überhaupt keine …«

      Wieder hielt er unvermittelt mitten im Satz inne.

      »Ich hätte es so gern gesehen«, sagte er, »dass meine Frau Sie bei uns im Haus begrüßen könnte. Aber sie ist schon länger krank.«

      »Das tut mir leid.«

      »Seien Sie unbekümmert. Wir können Sie nicht einladen, das ist alles. Zurzeit halten sich keine Landsleute von Ihnen hier auf – an der Universität, meine ich. Aber oben am Berg gibt es die britischen Soldaten.«

      »Mit Soldaten hatte ich bisher kaum zu tun.«

      »Sie haben Ihren – wie sagen Sie dazu – Regierungsdienst nicht geleistet?«

      »Ich war vom Wehrdienst befreit. Als Kind hatte ich …«

      »Das spielt keine Rolle. Sie brauchen sich bei mir nicht zu entschuldigen. Im Übrigen gibt es da noch einen Amerikaner, einen Herrn Earle Restarick, so nennt er sich, der Neuere Geschichte studiert. Er hat gehört, dass Sie kommen, und wird sich selbst bei Ihnen einführen. Gibt es noch irgendetwas, das Sie gerne fragen möchten?«

      »Ja«, sagte Daniel, der nur sehr wenig auf die das Gesellschaftsleben betreffenden Informationen von Bremkes geachtet hatte, weil ihn weiterhin beschäftigte, was über Dortmund gesagt worden war. »Dieser nächste Schritt, dieses zweite Feld, in das Professor Dortmund, wie Sie sagten, abgeschweift ist …«

      »Er ist niemals in irgendetwas ›abgeschweift‹, Herr Dominus. Er war ein Mann von höchster Disziplin.«

      »Dann eben vorangeschritten. Sie müssen doch sicherlich irgendetwas darüber wissen. Oder zumindest darüber spekuliert haben.«

      Man hätte das, was sich auf Herrn Doktor von Bremkes Gesicht nun zeigte, bei einem weniger distinguierten Menschen einen Flunsch genannt.

      »Gar nichts«, sagte er, beide Worte separat betonend. »Und Sie, Herr Dominus?« Er schien es nun darauf anzulegen, dass der Ball bei Daniel lag. »Wonach suchen Sie letztlich? Doktor Dirange lässt mich wissen, dass Ihnen Professor Dortmunds Arbeit, falls Ihnen das Entschlüsseln der Notation gelingen sollte, bei Ihrer eigenen helfen könnte. Woran arbeiten Sie selbst?«

      »Ein Engländer namens John Wallis«, sagte Daniel absichtlich vage, »hat vor beinahe dreihundert Jahren ein Buch mit dem Titel ›Arithmetica Infinitorum‹ geschrieben. Oft heißt es, dass darin die Ursprünge der Differenzialrechnung angelegt seien. Ich glaube, es könnte zudem etwas noch viel Erstaunlicheres darin angelegt sein.

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