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Bediensteten an der Bar die einzelnen Gäste miteinander bekannt: »Dieser Gast fährt jede Woche mit mir.« »Ted, der sagt immer, dass er nicht schlafen geht, aber kippt als Erster in die Falle.« »Dieser Herr fährt jede Woche zu seiner Frau, er muss sie sehr lieben.« Das ist Frau »Nie-wieder-fahr-ich-mit-diesem-Zug«. Mitten in der Nacht, wenn der Zug langsam über die belgische oder Lebusser Ebene kriecht, wenn der Nachtnebel dichter wird und alles verschwimmen lässt, dann taucht die zweite Schicht in der Bar auf: von Schlaflosigkeit erschöpfte Passagiere, die sich der Pantoffeln an den bloßen Füßen nicht schämen. Sie gesellen sich dazu, als übergäben sie ihr Wohl und Wehe in die Hände des Fatums: Was sein wird, wird sein.

      Ich glaube, ihnen kann nur das Beste passieren. Sie befinden sich doch an einem beweglichen Ort, der sich durch den schwarzen Raum schiebt, sie werden durch die Nacht getragen. Niemanden kennen, von niemand gekannt werden. Aus dem eigenen Leben treten und dann wohlbehalten wieder zurückkehren.

      Die verlassene Wohnung

      Die Wohnung versteht nicht, was passiert ist. Die Wohnung meint, der Besitzer ist gestorben. Seitdem die Tür ins Schloss gefallen ist und der Schlüssel im Schlüsselloch geknirscht hat, dringen alle Geräusche nur noch gedämpft herein, ohne Schattierung und Umriss, wie verlaufene Flecken. Der Raum erstarrt, ungenutzt, von keinem Durchzug, keiner Bewegung der Vorhänge aufgestört, in dieser Reglosigkeit bilden sich zaghaft probeweise Formen, und zwar solche, wie sie einen Augenblick lang im Flur zwischen Decke und Fußboden hängen.

      Natürlich erscheint hier nichts Neues, wie könnte es auch? Das sind nur die Imitationen bekannter Formen, die blasenartige Ballungen bilden und ganz kurz Gestalt annehmen. Es sind einzelne Episoden, wie zum Beispiel ein Fußabdruck auf dem weichen Teppich, der dauernd – und immer an der gleichen Stelle – entsteht und verschwindet. Oder bloße Gesten, wie die Hand, die am Tisch die Bewegung beim Schreiben imitiert, was vollkommen unbegreiflich ist, denn sie hat weder Stift noch Blatt noch Schrift noch einen Körper, der dazu gehört.

      Das Buch der Schandtaten

      Eine Freundin war sie nicht. Ich traf sie auf dem Flughafen in Stockholm, dem einzigen Flughafen der Welt mit Holzfußboden, ein schönes dunkles Eichenparkett, gebohnerte, sorgfältig aufeinander abgestimmte Holzplättchen, man kann sich leicht vorstellen, dass ein paar Hektar nördlicher Wald darin stecken.

      Sie saß neben mir, hatte die Beine ausgestreckt und auf ihren schwarzen Rucksack gelegt. Sie las nicht, hörte keine Musik, hatte die Hände über dem Bauch verschränkt und schaute vor sich hin. Mir gefiel diese Ruhe, diese völlige Hingabe ans Warten. Als ich sie etwas neugieriger musterte, bemerkte ich, dass ihr Blick über den gebohnerten Boden glitt.

      Ich wollte sie ansprechen und murmelte deshalb etwas wie: »Schade um so viel Wald für einen Fußboden im Flughafen.«

      »Wahrscheinlich muss beim Bau eines Flughafens ein Lebewesen zum Opfer gebracht werden. Damit keine Katastrophen passieren.«

      Die Stewardessen am Pult hatten ein Problem. Leider hatte sich herausgestellt – wie sie uns, den Wartenden, durchs Mikrofon mitteilten –, dass unsere Maschine überbelegt war. Unerklärlicherweise waren zu viele Leute auf der Passagierliste. Ein Computerfehler – das Fatum unserer Tage. Wenn zwei Passagiere bereit wären, ihren Flug auf morgen zu verschieben, würden sie je zweihundert Euro bekommen, eine kostenlose Übernachtung im Flughafenhotel und einen Gutschein für ein Abendessen.

      Die Leute wechselten nervöse Blicke. »Losen wir aus!«, schlug einer vor. Ein anderer lachte, aber dann trat ein unangenehmes Schweigen ein. Niemand will zurückbleiben, das ist verständlich, wir leben ja nicht in einem Vakuum, wir haben Verabredungen, morgen müssen wir zum Zahnarzt, und zum Abendessen sind Freunde eingeladen.

      Ich betrachtete meine Schuhspitzen. Ich habe es nicht eilig. Ich muss nirgends zu einem festen Zeitpunkt sein. Soll die Zeit sich nach mir richten und nicht umgekehrt. Außerdem – man kann auf alle möglichen Weisen Geld verdienen, hier tut sich jetzt eine ganz neue Dimension von Arbeit auf, vielleicht ist das die Einkunftsquelle der Zukunft, die Rettung vor Arbeitslosigkeit und Überproduktion von Abfall. Vom Flug zurücktreten, mit der Übernachtung im Hotel ein Tageseinkommen verdienen, morgens vom großen schwedischen Frühstücksbuffet essen und die reiche Auswahl an Joghurt genießen. Warum nicht? Ich stand auf und trat auf die aufgeregte Stewardess zu. Die Frau, die neben mir gesessen hatte, folgte mir.

      »Warum nicht?«, fragte sie.

      Unser Gepäck musste leider ohne uns abfliegen. Der leere Autobus brachte uns zum Hotel, wir bekamen zwei nette kleine Zimmer nebeneinander. Es gab nichts auszupacken, Zahnbürste und frische Unterwäsche waren im Handgepäck, ebenso wie die Gesichtscreme und ein dickes Buch. Ein Notizbuch. Ich werde Zeit haben, alles aufzuschreiben, auch diese Frau zu beschreiben:

      Sie ist groß, hat eine gute Figur, ziemlich breite Hüften und kleine Hände. Ihr volles gewelltes Haar trägt sie in einem Knoten, aber weil es nicht so leicht zu bändigen ist, schwebt es wie eine silberne Aureole um ihren Kopf, ganz ergraut. Aber ihr Gesicht ist jung, hellhäutig, sommersprossig. Bestimmt ist sie Schwedin, die färben nicht die Haare.

      Wir hatten verabredet, dass wir uns am Abend unten in der Bar treffen würden, nach einer ausgiebigen Dusche und einem Blick in die verschiedenen Fernsehsender.

      Wir bestellten Weißwein, und nach anfänglichen Höflichkeiten und den Drei Fragen der Reisenden kamen wir zur Sache. Ich erzählte ihr zuerst von meinem Wanderleben, aber hatte bald den Eindruck, dass sie nur höflichkeitshalber zuhörte. Deshalb verlor ich den Schwung, ich wusste, dass sie eine viel interessantere Geschichte haben würde.

      Sie sammelte Beweise, dafür hatte sie ein Stipendium der eu, aber das reichte nicht für ihre Reisen, sie hatte zusätzlich etwas von ihrem Vater leihen müssen, der in der Zwischenzeit gestorben war. Sie strich sich eine graue Korkenzieherlocke aus der Stirn (dabei konnte ich mich vergewissern, dass sie bestimmt nicht älter als fünfundvierzig war), und für die Gutscheine der Fluggesellschaft bestellten wir uns einen Salat. Griechischer Salat war das Einzige, was wir uns dafür leisten konnten.

      Beim Sprechen hielt sie die Augen halb geschlossen, das verlieh ihren Worten eine leichte Ironie. Deshalb war ich in den ersten Minuten nicht ganz sicher, ob sie ernst meinte, was sie sagte. Sie behauptete, die Welt wirke nur auf den ersten Blick so vielfältig. Wohin man auch fahre, man stoße auf verschiedene Menschen, ihre exotischen Kulturen, nach verschiedensten Plänen erbaute Städte, aus allen möglichen Materialien. Dächer, Fenster, Höfe – überall anders. Mit der Gabel spießte sie ein Stück Feta auf und beschrieb damit einen Kreis in der Luft.

      »Doch lass dich von dieser oberflächlichen Vielfalt, von diesem Pfauenschweif nicht täuschen«, sagte sie. »Überall ist es dasselbe: die Tiere. Das, was der Mensch den Tieren antut.«

      Ruhig, als hielte sie einen auswendig gelernten Vortrag, begann sie aufzuzählen: »Hunde reißen in brütender Hitze an zu kurzen Ketten, warten auf Wasser wie auf den Heiland, Welpen liegen an Ketten von einem halben Meter Länge, im zweiten Lebensmonat können sie noch nicht laufen; Schafe werfen im Winter auf offenem Feld, die Bauern unternehmen nichts, organisieren höchstens Lieferwagen, die die erfrorenen Lämmer abtransportieren. In Restaurants kann der Gast mit dem Finger auf den lebenden Hummer im Aquarium zeigen, den er damit zum Tod im siedenden Wasser verurteilt; andere Restaurants halten heimlich im Hinterhof Hunde, denn Speisen aus Hundefleisch sollen Männern die Potenz wiedergeben; Käfighühner werden nach der Anzahl der gelegten Eier definiert und in ihrem kurzen Leben mit Chemie vollgepumpt; Hunde richtet man zum Kampf ab, Affen werden ansteckende Krankheiten gespritzt, auf der Haut von Kaninchen werden Kosmetika getestet; ungeborene Lämmer werden zu Pelzmänteln verarbeitet.« Das alles sagte sie ganz gleichgültig, während sie sich die Oliven in den Mund schob.

      Ich protestierte. Nein, das werde ich mir nicht anhören.

      Sie zog einen Stapel Unterlagen aus ihrer Patchworktasche, die sie über den Stuhl gehängt hatte. Die Blätter steckten in zusammengehefteten Plastikhüllen, dicht beschriebene Fotokopien, die sie mir über den Tisch reichte. Ich blätterte sie unwillig durch. Auf den dunklen Seiten waren jeweils zwei Spalten Text wie

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