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ist (ganz sicher) auch kein zu gutgläubiger Mensch, und deshalb macht sie sich Gedanken darüber, ob sie diesen »guten Neuigkeiten« einfach so trauen kann.

      Wenn das alles ein fauler Trick sein sollte, dann wird es sich schnell aufklären: dann will jemand Geld von ihr.

      Clare kennt sich nicht aus mit Testamenten, Nachlässen – dem »Nachlassgericht«.

      Noch nie in ihrem Leben war sie Empfängerin irgendeiner Erbschaft; es ist ihr noch nicht einmal in den Sinn gekommen, dass ihre Adoptiveltern sie (möglicherweise, wahrscheinlich) in ihrem Testament bedacht haben, obwohl sie ja ihr einziges Kind und wohl auch einzige Erbin ist …

      Da sie vom Anruf des Rechtsanwalts derart überrumpelt worden war, hatte sie ganz vergessen, ihr Bedauern über den Tod von Maude Donegal auszudrücken. Sie befürchtet, den Namen vergessen zu haben – doch nein, hier steht er ja: Maude Donegal.

      Lucius Fischer muss sie für vollkommen herzlos halten, dass sie so ungerührt vom Tod ihrer Großmutter zu sein scheint.

      Aber sie ist doch nicht – meine Großmutter! Ich habe keine Großmutter.

      Clares (Adoptiv-)Großeltern leben nicht mehr. Und als sie lebten, da haben sie in ihrem Leben keine große Rolle gespielt.

      Wie merkwürdig Clare das vorkommt, diese Syntax: Großeltern leben nicht mehr. So als ob Nicht-leben etwas wäre, was die Großeltern in der Gegenwart täten.

      Clare hatte ihre Klassenkameraden beneidet, die immer mal wieder ganz beiläufig ihre Großeltern erwähnt hatten. Eine Selbstverständlichkeit – Oma, Opa. Was bedeuteten diese liebevollen Worte denn genau? Beide Großelternpaare, die Eltern ihrer Mutter und die ihres Vaters, waren zum Zeitpunkt der Adoption schon etwas älter gewesen und hatten sich nicht sehr für ihre Enkelin erwärmt, so schien es.

      Clare erinnerte sich kaum an sie. Fremde, die das kleine, stumme, adoptierte Kind über einen tiefen Abgrund hinweg anstarrten.

      (Doch war Clare wirklich ein stummes Wesen? Sicher nicht. Meistens nicht. Nur ganz schwach erinnert sie sich an – an etwas …)

      (Eine Art Netz oder Geflecht von Fäden über ihrem Mund. Klebrig über ihre Lippen gespannt, verfangen in ihren Augenwimpern. Beim Einatmen, schauderndes Keuchen, wird das zerrissene Spinnennetz von ihren Nasenlöchern eingesogen, furchtbar.)

      Clare erinnert sich kaum. Tatsache.

      Zu jung damals, um zu erkennen, dass ihre Eltern sie wahrscheinlich – nein, ganz sicher – nicht adoptiert hätten, wenn sie eigene Kinder hätten bekommen können. Ihre Liebe für sie, ihr Interesse an ihr hätte es nie gegeben, wenn sie eigene Kinder gehabt hätten.

      Im Biologieunterricht auf der Highschool hatte Clare gelernt, dass die DNA an allererster Stelle steht. Jedes Individuum sorgt sich um seine eigene Nachkommenschaft, da diese seine DNA trägt. Bei vielen Tierarten versuchen die männlichen Tiere, den Nachwuchs anderer Männchen zu töten, und paaren sich dann mit dem Weibchen, um ihre eigene DNA zu reproduzieren. Ein Weibchen versucht manchmal verzweifelt, ihre Jungen vor dem Räuber zu verbergen, doch sobald ihre Brunftzeit beginnt, ist sie gezwungen, sich mit dem Männchen zu paaren. Und das neue Männchen setzt alles daran, ihre anderen Jungen zu beseitigen, um Platz für seine eigenen Nachkommen zu schaffen.

       Zum Paaren gezwungen. Warum?

      Die Eltern ihrer Eltern hatten sich mit der (angenommenen) Enkelin vielleicht aus genau diesem Grunde nie erwärmt. Clare war nicht eine von ihnen.

      Wie unnatürlich musste es dann allerdings für biologische Eltern sein, ihre eigenen Jungen zu verstoßen …

      Das ist das große Geheimnis. Clare hat darüber nie nachdenken wollen.

      Jetzt mit dreißig, denkt sie, sie sei zu alt – sprich, nicht mehr jung genug, unbefangen und hoffnungsvoll genug –, um sich über ihre biologischen Eltern Gedanken zu machen – über ihre Abstammung.

      Warum das Risiko eingehen, (erneut) verletzt zu werden? Sie hat sich ja noch nicht einmal eingestanden, dass sie schon einmal verletzt worden ist.

      Sie schlägt den Straßenatlas auf und sucht nach Cardiff in Maine. Ganz nah am Atlantik. Die Städte in der Nähe, Belfast und Fife, deuten darauf hin, dass dieser (östliche) Teil von Maine einst eine schottische Siedlung gewesen sein muss. Sie fragt sich, ob ihre Vorfahren (väterlicherseits) Schotten gewesen waren oder Iren. Bis zu jenem Morgen hat sie sich nur sehr wenige Gedanken über ihre Abstammung gemacht.

      (Allerdings kann sie nicht leugnen, dass sie sich immer hingezogen fühlte zur keltischen Geschichte – Kunst, Musik. Wird zufällig im Autoradio eine irische Ballade gespielt, überkommt sie ein Gefühl von Verlust, Sehnsucht, drängt es sie, auf der Standspur des Highways anzuhalten … Vernimmt sie einen schottischen oder irischen Akzent, und sei er noch so schwach, ist sie augenblicklich gefesselt.)

      Doch warum sollte die Abstammung für sie überhaupt irgendeine Bedeutung haben? Wer adoptiert ist, der weiß: Nur das Jetzt und Hier hat eine Bedeutung.

      Auf der Karte sieht Clare, dass Cardiff nicht zu den größeren Städten im Bundesstaat Maine zählt. Nur neunzehntausend Einwohner. Knapp dreißig Kilometer nördlich von Eddington, an der gezackten Küste.

      Seltsamer Gedanke, dass sie von dort herkommen könnte – von diesem Punkt auf der Landkarte.

      Nun gut – wir müssen alle irgendwo herkommen.

      Clare bremst sich, nicht zu große Hoffnungen machen. Keinen allzu großen Erwartungen erliegen. Hoffnung ist das Federding, hat die Dichterin1 gewarnt. Leicht zu verletzen, weil schutzlos.

      Sie hat nie an den genetischen Determinismus geglaubt – »Schicksal«. Als gebildete Person, als Kind von Pädagogen, weiß sie, dass die Umwelt das Ich formt, im Wesentlichen.

      Menschen, Orte. Lebensqualität, Bildung. Die Luft, die wir atmen: Ist sie sauber oder ist sie verpestet? Unser unmittelbares Umfeld, das, was uns umgibt – das zählt.

      In dieser Beziehung hat Clare Glück gehabt. Allgemein heißt es, adoptierte Kinder hätten Glück gehabt. Aus der Dunkelheit hervorgeholt, auserwählt, daher geschätzt und geliebt. Sie bekam eine gute Schulbildung, musste nie Hunger leiden, nie um ihr Leben fürchten. (Oder? Nicht, solange sie sich erinnern kann.) Und jetzt wohnt sie in einer kleinen, ruhigen Ein-Zimmer-Wohnung, nur einen kurzen Fußweg vom efeuberankten Humanities Research Institute entfernt, wo sie eine Postdoktorandenstelle im Bereich ›Fotografie des Neunzehnten Jahrhunderts‹ innehat.

      In ihrem Job, der zum großen Teil im exzellenten Fotografie-Archiv des Philadelphia Museum of Art zu absolvieren ist, kann sie vollkommen selbstbestimmt arbeiten. Gemäß den Richtlinien des Instituts für Geisteswissenschaften dürfen die Stipendiaten und Wissenschaftler in vollkommener Ruhe und Abgeschiedenheit forschen, sie dürfen sich jahrelang in ihre eigene kleine Welt zurückziehen, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen.

      Wie befremdend, dachte Clare so manches Mal: Man könnte einfach sterben, und das Institut würde dies monatelang nicht bemerken. Spannend und reizvoll solch große Freiheit, ohne jede Kontrolle, aber auch beunruhigend. Man könnte vor Einsamkeit sterben – denkt sie.

      Zu ruhelos heute, um zu arbeiten. Diapositive im hohen Lesesaal des Museumarchivs betrachten, Fußnoten auf dem Laptop bearbeiten – Clare ist zu abgelenkt. Stattdessen verbringt sie zu Hause ein paar Stunden damit, das Internet nach Informationen zum östlichen Teil von Maine und der felsigen Atlantikküste zu durchforsten. Historische Siedlung aus dem achtzehnten Jahrhundert: Cardiff.

      Mit Maine verbindet man bedeutende (männliche) Künstler: Winslow Homer, Rockwell Kent, George Bellows, Frederic Church … Sicher aber auch talentierte Künstlerinnen, deren Werke jedoch oftmals ignoriert wurden, unterbewertet.

      Der Ruf einer Künstlerin überlebt nur selten ihre Generation, unabhängig von ihrem Talent und der Originalität ihrer Werke. Unabhängig von den Preisen, die sie bekommt, unabhängig sogar von den Künstlern, mit denen sie verbunden ist. Sobald sie stirbt, beginnen auch ihre

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